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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.12.2022

Wo Bedeuten und Erklingen eins sind

Mit ihm wurde nicht nur der Liederabend zu einer Institution, er selbst stand vielen nach 1945 für die deutsche Kultur schlechthin: Eine Edition von 107 CDs erinnert an den Liedsänger Dietrich Fischer-Dieskau.

Sein viel zitiertes (und oft verkürztes) Wort von 1949, dass nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben barbarisch sei, hat Theodor W. Adorno später noch über die Lyrik hinaus erweitert: Der Gedanke einer nach Auschwitz auferstandenen deutschen Kultur sei "scheinhaft und widersinnig". Wie stand es unter solchen Prämissen mit dem Mut eines Sängers, der "in chaotischer Umgebung das innere Leben wach zu halten" sich mühte? Wie konnte Dietrich Fischer-Dieskau es wagen, als singender Poet "die Herzkammern deutsch-romantischer Innerlichkeit auszuleuchten" und doch, auch auf meta-musikalischer Ebene, zur Symbolfigur einer wiedererstehenden Nation werden, auch in England und den USA?

"Wir wüssten weniger ohne ihn, wir hätten weniger gelebt", schrieb Ivan Nagel zum sechzigsten Geburtstag des Sängers. "Nein: Wir hätten, ohne ihn, weniger erlebt." (Spricht daraus auch Selbstvergewisserung der eigenen Erlebnisfähigkeit, der Güte des eigenen Gefühls?) Der Vielgerühmte selber hat, sich an sein "Leben im Entwurf" und das "Leben in der Bewährung" erinnernd, gesagt: "Kaum je wurde meine künstlerische Leistung in der Weise geschätzt, wie sie es eigentlich verdient hätte." Es mag nur ein wehmütiger Seufzer gewesen sein, aber er verrät den Wurzelinstinkt des Anerkennung suchenden Künstlers, wie ihn Nietzsche in "Die Abendröte der Kunst" beschrieben hat: "Als herrliches Überbleibsel, als wunderbaren Fremden und Fernen, an dessen Kraft und Schönheit das Glück früherer Zeiten hing".

Es war eine überfällige Erinnerung an frühere Zeiten, vielleicht auch an verlorenes Glück, dass die Deutsche Oper Berlin dem Sänger jüngst als Dank für die vierhundert Aufführungen, die er zwischen 1948 und 1980 in Berlin bestritten hatte, ein Symposium ausrichtete. Der Musikologe Sieghart Döhring erinnerte unter dem sinnigen Titel "War's Zauber, war es reine Macht?" an den Wagner-Darsteller, insbesondere an den Sänger des Wolfram. Martin Fischer-Dieskau erkundete den schwierigen Weg, den sein Vater zum "italienischen Bariton" suchen musste; der Pianist Hartmut Höll, Klavierpartner der "späten" Jahre, berichtete über die Arbeit bei Proben und im Studio; und die Deutsche Grammophon bringt nun eine Edition mit sämtlichen Liedaufnahmen heraus, die Fischer-Dieskau seit den Fünfzigerjahren für die Firma gemacht hat.

Es war kein Zufall, sondern eine Fügung, dass Fischer-Dieskau, noch nicht achtzehn Jahre alt, bei seinem ersten Liederabend am 31. März 1943, unterbrochen von "Sirenengeheul mit folgendem Detonationsinferno", die "Winterreise" sang. Es war ein Ruf ins Entbehrte. Erst durch ihn hat eine große Hörerschaft die "schauerlichen Lieder" von Schubert kennengelernt: Seit 1948 immer wieder im Rundfunk (mit Klaus Billing; Audite), seit 1955 durch die erste Schallplatten-aufnahme (mit Gerald Moore, EMI); durch ihn hat sie den Leidenston des romantischen Kunstlieds zu begreifen gelernt. Das Ohr für den Weltschmerz Mahlers fand selbst Wilhelm Furtwängler erst, nachdem er mit dem Siebenundzwanzigjährigen die "Lieder eines fahrenden Gesellen" (Philharmonia Orchestra, EMI) aufgenommen hatte. Während Herbert von Karajan "nach dem Tod Hitlers, ohne es zu wollen, eine Leerstelle in der deutschen Psyche gefüllt hatte", wie der englische Musikprozent John Culshaw behauptete, wurde der charismatische Fischer-Dieskau zum Inbegriff der deutschen Kultur.

"Wenn bei einem Sänger Genie Fleiß war", bemerkte Peter Gülke in seinem Epitaph, "dann bei ihm." Fischer-Dieskaus Diskographie verzeichnet, heiliger Aberwitz, rund 4800 Einträge mit Werken von 190 Komponisten. Der Ehrgeiz des Kulturhistorikers führte zu Büchern über Schubert, Schumann, Brahms und Debussy ebenso wie über die Ästhetik des Singens ("Töne sprechen, Worte klingen"). Was trieb ihn an? Wann hat er die Zeit gefunden, ständig neue Musik zu lernen; wie die Kraft, weltweit Liederabende zu geben; woher das Selbstvertrauen, im Studio die Stimme über mehr als vier Jahrzehnte der Mikroskopie der Mikrofone auszusetzen?

Die Stimme war ein klangreicher lyrischer Bariton von mittlerem "Gewicht", kräftig zwar, aber nicht ausladend wie etwa die von Hans Hotter, auch nicht vibrierend wie die jenes italienischen Typus, der als "suonatore" bezeichnet wird. Während der Proben habe sie, wie sein Klavierpartner Jörg Demus sagte, einen Umfang von drei Oktaven ausschreiten können. In der Höhe erreichte sie, zu hören in "Drei Masken sah ich am Himmel stehen" aus dem "Krämerspiegel" von Richard Strauss, das hohe B auf dem Wort "Schreck" (in der Edition CD 79, Track 4). Aber selbst Will Crutchfield, der eloquenteste Bewunderer des Künstlers, stellte fest, dass schon der jüngere Sänger nicht immer über ein "warmes, klangschönes Forte der höheren Lage" verfügte. Bewundert wurde Fischer-Dieskau für die in der Geschichte der Gesangskunst vergleichslose Klarheit der Artikulation. Er war ein Mann des Wortes - des deutschen Wortes. "Da sich in der deutschen Sprache Bedeutung und Erklingen restlos decken", heißt es in Thrasybulos Georgiades' Buch "Musik und Sprache", "kann auch das musikalische Erklingen nicht anders als auf die Bedeutung eingehen."

Sein Timbre lässt sich nur im Oxymoron beschreiben als samtig dunkel und schimmernd licht, als süß und bitter, als einschmeichelnd und herb. Die seidigen Kopftöne wirkten wie die eines stimmlichen Hermaphroditen, ein manchmal irritierender, selbst quälender Reiz. Er verstand sich auf eines der stärksten Mittel des musikalischen - im Gegensatz zum verbalen - Ausdrucks: die messa di voce. Wie kein anderer konnte er den changierenden Klang der Kopfstimme mit der mittleren Lage verschmelzen. Ein hinreißendes Beispiel: das hohe F zu Beginn des ersten der "Fünf neapolitanischen Lieder" von Hans Werner Henze: "Aggio saputo ca la morte vene" (CD 102, Track 1). Der Ton erklingt, wie von fern, scheinbar aus zartem Falsett, das sich zu einem Crescendo-Forte entwickelt. In den sanft sich wölbenden Phrasen von Schuberts "Du bist die Ruh" trug die Halbstimme selbst durch große Säle, sicher und klanglich expandierend, bis zum G aufsteigend (CD 45, Track 9, noch eindringlicher bei einem Salzburger Liederabend 1963 mit Gerald Moore, auf EMI). Eine frühe Aufnahme von Schumanns "Mondnacht" bezeichnete der als Liedbegleiter berühmte Pianist Graham Johnson als "explosion in reverse". Wie konnte ein Sänger es nur wagen, mit so wenig Stimme zu singen, so zart, aber nicht verzärtelt (1951, mit Gerald Moore, EMI)?!

Rhythmische Kontrolle sorgte für die Spannung einer Phrase, die Atemkontrolle erlaubte schier endlose Dehnungen selbst innerhalb eines einzigen, sanft ausklingenden Wortes: wie im letzten Lied von Beethovens "An die ferne Geliebte" in der Phrase "und dein Lächeln" (CD 2, Track 6); wie in Schumanns Kerner-Lied "Stirb Lieb und Freud" , das mit dem Vers endet: "Mein Herz zerbricht, Stirb, Lieb' und Licht" (CD 65, Track 11); wie mit dem Seligkeitsklang in Liszts Petrarca-Lied "Benedetto sia il giorno" in der Phrase "Ch'altro non v'ha parte" (CD 20, Track 14); wie mehrmals in den von Daniel Barenboim erlesen begleiteten Mörike-Liedern von Hugo Wolf; wie in Brahms' "Der Tod, das ist kühle Nacht" (CD 11, Track 1 und CD 12, Track 10), "Ruhe, Süßliebchen" (CD 7, Track 18), "Feldeinsamkeit" (CD 12, Track 25) oder dem dritten der "Vier ernsten Gesänge", 1957 mit Jörg Demus als Partner (CD 12, Track 3). Hier lyrischer Fluss, dort höchste virtuos-artikulatorische Geschmeidigkeit: in Schuberts "Ungeduld" (CD 49, Track 7) oder "Mein" (CD 49, Track 11); in Schumanns "Der Kontrabandiste" (CD 72, Track 10) oder in "Die Rose, die Lilie" aus "Dichterliebe" (CD 66, Track 3); in Meyerbeers "Menschenfeindlich" (CD 104, Track 1). Die Edition erschließt die Unendlichkeit eines musikalischen Kosmos: fast alle "Männerlieder" von Beethoven, Schubert, Schumann, Liszt, Brahms und Wolf. Und sie ermöglicht die Beschäftigung mit einem umfangreichen Repertoire, das oft als "randständig" bezeichnet wird.

Kein Einspruch? Die Stimme war, so der amerikanische Kritiker Conrad L. Osborne, geeignet für "die Hälfte aller im Bass-Schlüssel geschriebenen Musik, aber sie begann sich zu sträuben, als sie sich in der anderen Hälfte behaupten musste", auch in Opernpartien, die für vom Format her große Stimmen angelegt sind. Deshalb die Variation der Frage: Was trieb ihn an? Zur vierten Aufnahme von "An die ferne Geliebte" oder der fünften von Schumanns "Dichterliebe" oder der sechsten von Mahlers "Liedern eines fahrenden Gesellen" oder der siebten von Schuberts "Winterreise"?

Die Edition zeigt auch das Kompendium seiner Manier(en): wenn er, von einem "Bächlein helle" (CD 40, Track 12) singend, den Klang aufhellt oder für das Eilen eines Knaben das Tempo anzieht, also seine Ausdrucksabsichten verdoppelt. Gerade hier zeigte sich, dass natürlich zu sein die schwierigste aller Posen ist. Er hat die Welt der Musikfreunde, zumindest die der Melomanen, in zwei Lager geteilt, als er begann, das Nachlassen der stimmlichen Kräfte durch eine Steigerung der Deklamation und der Detailaffektation auszugleichen; als er die "Botschaft" weniger dem musikalischen Ton anvertraute, sondern dem nicht länger in den Klang gebetteten Wort. Wenn er als "Atlas" (CD 51, Track 8) oder "Prometheus" (CD 42, Track 12) oder "Feuerreiter" (CD 88, Track 5) in der Rolle eines Rhetor-Titanen auftrat, verwandelte sich der Vortrag in die angestrengte Darstellung einer Darstellung.

"Was vermag der Affekt", mahnte Wagner, "wenn er die organischen Mittel überschreitet." Fischer-Dieskau selbst hat diese Einwände, die auch von seinen Bewunderern vorgebracht wurden, zurückgewiesen. Stets habe er die Vortragsvorschriften der Komponisten befolgt. Nur ging dabei die von ihm selber geforderte Sinneinheit - "Töne sprechen, Worte klingen" - verloren. In späten Aufnahmen, etwa der "Winterreise" (mit Barenboim, Alfred Brendel), des "Schwanengesangs" und der "Dichterliebe" (mit Brendel), sind Klänge zu erleben - etwa in "Wasserflut" -, die man wohl mit dem liebenden Ohr hören muss. Dies ist nicht länger Hören aus Lust, sondern aus Dankbarkeit und in wehmütiger Erinnerung. Besonders aus frühen Platten klingt, was des Sängers Cousine ansprach, als sie dem Jüngling schrieb: "Mit zwanzig Jahren ist das Leben immer am schwersten zu ertragen."

Eine kritische Fußnote zur Edition, die knapp 280 Euro kostet: Es gibt ein Begleitbuch mit Texten unter anderen von Michael Wersin über den Sänger und von Cord Garben, der zahlreiche Aufnahmen Fischer-Dieskaus als Produzent betreut hat; aber es fehlen die Texte der Lieder, von denen einige auch im Netz nicht zu finden sind, und Einführungstexte, die gerade bei den als "randständig" bezeichneten Komponisten - seien es Meyerbeer und Liszt oder Frank Martin und Hans Werner Henze - wichtig wären. Es wäre sinnvoll, sie wenigstens online zugänglich zu machen. JÜRGEN KESTING

Dietrich Fischer-Dieskau - Complete Lieder

Recordings on DG. 107 CDs Deutsche Grammophon DGG 00028948620739 (Universal)

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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