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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Keine Zeit für Tränen

John Hiatt galt lange als großer Songlieferant mit mittelmäßigen eigenen Alben. Das ist vorbei. Wer sein neues Werk hört, wird ihm auch ein pathetisches Lied auf den 11. September verzeihen.

Seine Songs besitzen eine Robustheit, wie man sie von alten Jeans kennt: strapazierfähig und authentisch. Das zwanzigste Album unter eigenem Namen - sein etwas kryptischer Titel "Dirty Jeans And Mudslide Hymns" ist dem Song "Adios To California" entlehnt - entpuppt sich jedoch nicht nur als weitere vertrauensbildende Maßnahme; es eröffnet nebenbei tiefe Einblicke in die Untiefen eines Seelenlebens, die Hiatt mit alttestamentlicher Wut auslotet. Zerrüttete Familien, der Dämon Alkohol, zerbrochene Liebesbeziehungen, der insgesamte Wahnsinn des amerikanischen Alltags - Hiatt weiß wovon er singt, galt er doch eine Zeitlang selbst als Verlierer.

Obwohl er am laufenden Band Erfolgstitel für Rosanne Cash, Bob Dylan, Willie Nelson oder David Crosby schrieb, haftete seinen eigenen Alben lange ein Makel der Mittelmäßigkeit an. Dabei hat sich Hiatt zu einem der glaubwürdigsten Sachwalter der Americana gemausert. Mit einer süffigen Melange aus Blues, Folk und Rock, vor allem aber durch seinen näselnden, oft mit aufreizend quengeligem Unterton aufgeladenen Gesang illustriert er seine zumeist pessimistische Perspektive auf die Gegenwart. Dabei entwickelt seine Stimme eine innere Glut, eine beseelte Dringlichkeit, die den Hörer oft unmittelbar berührt.

Ohne jede Nostalgie lässt er auf dem neuen Album die Lieder davon erzählen, dass früher doch vieles besser war. Ob sie von Farmern handeln, die zusehen müssen, wie sich ihre Felder in triste Vorstädte verwandeln, ob er vom unbeschwerten Alltag in New York vor dem 11. September singt oder eine Liebeserklärung an einen alten Spritschlucker wie den stilsicheren Straßenkreuzer "Buick Electra 225" liefert - das ganze Album wird von einer Art antimodernistischen Unterströmung getragen, nicht zuletzt, weil Hiatt jetzt jeden Sarkasmus einer neuen Aufrichtigkeit geopfert hat. Mag ihm die Gegenwart noch so sehr gegen den Strich gehen, er verhöhnt sie nicht, sondern nimmt sie ernst.

"They killed my brother in a poker game / Daddy stayed drunk and he died insane / Damn this town, I'm leavin'" - schon die ersten Zeilen geben den ernüchterten Ton des Albums vor. Dabei ist Hiatts Poetik handgreiflich und wirkt zugleich untergründig. Dieses hinterhältige Nachglühen der Lieder verdankt sich nicht zuletzt den großartigen Mitmusikern. Vor allem Doung Lancio ist unverschämt gut an Pedalsteel-, Dobro- oder Slide-Gitarre und braucht den Vergleich mit illustren Vorgängern in den Bands von Hiatt wie Ry Cooder oder Sonny Landreth nicht zu scheuen. Nun ist es keineswegs so, dass allein Ödnis, Verfall und Verlassenheit die Songlandschaften bevölkern, und natürlich kann Hiatt seinen Whiskey auf einer langen Zugfahrt noch genießen, doch bei aller Behaglichkeit weiß er: "I die a littler slower on the train to Birmingham." Diese knapp vierzig Jahre alte Song-Kostbarkeit beginnt mit dem Signal einer Dampflokomotive, von Lancios Slide-Gitarre perfekt zum Leben erweckt. Hat Hiatt gerade noch seinen Welt- und Wirklichkeits-Ekel herausgepresst, so möchte man schon zum nächsten Stück ",Til I Get My Lovin' Back" mit seiner Herzensdame durch Flur und Küche tanzen. Auch in "I Don't Want To Leave You" gebärdet sich der Neunundfünfzigjährige wie ein liebestoller Balladensänger.

Doch das sind alles Petitessen, wenn man die drei wirklich großen Songs dieses Albums in den Blick nimmt. "Hold on for Your Love" entpuppt sich als postapokalyptischer Albtraum: Eine Stadt, die von ihren Bewohnern aufgegeben wurde, ist der Zerstörungswut namenloser Außenseiter preisgegeben. Das Aushalten, das Hiatt hier immer wieder beschwört, meint viel mehr als nur ein Abwarten. Mit ständig steigender Verzweiflung in der Stimme, angetrieben von den gespenstischen Rückkoppelungen Lancios an der E-Gitarre, changiert Hiatts wölfischer Gesang zwischen tiefem Grummeln und nacktem Schreien. Immer wieder weht die Gitarre mit düster-dräuenden, gefährlich auflodernden Licks durch Textzeilen wie "Men eating men and there's no time for crying / I'm tired of the blood and I'm sick of the dying." Hiatt schreit die letzte Strophe fast heraus und treibt seine Stimme an die Grenzen ihrer Ausdrucksfähigkeit.

Wer nach so viel ungeschützter Selbstentblößung seinen Bedarf an Endzeit-Visionen noch nicht gestillt hat, höre sich "Down Around My Place" an. Der Sänger liefert die bedrückende Bestandsaufnahme nach der "großen Flut". Lancios Gitarre malt dazu ein irrlichterndes Bild voller Schatten und dunkler Klanggestalten, deren Farben immer wieder bedrohlich zerfließen. Nach so viel Hoffnungslosigkeit kommt ein Song wie "Adios to California" mit seiner wundervollen Geschmeidigkeit gerade recht - doch erweist sich auch hier die verträumte Atmosphäre als trügerisch.

John Hiatt hat es wieder geschafft, seine Lieder mit tiefen Emotionen zu durchtränken, ohne dabei prätentiös zu klingen. Nur sein Lied auf den 11. September gerät ihm zu pathetisch. Die meisten Songs aber nisten sich wie Viren im Hörer ein und entfalten dort ihre kommunikative Kraft. Man muss sich seine Jeans schon ein wenig schmutzig machen, um in die Abgründe dieses Albums hinabzusteigen - es lohnt sich.

PETER KEMPER.

John Hiatt, Dirty Jeans And Mudslide Hymns.

Blue Rose Records NW 6206

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