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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.12.2023

Erstickte Trauer einer Königin

Verdis "Don Carlo" zeigt Anna Netrebko und Elina Garanca auf dem Gipfel ihrer Kunst.

Von Jan Brachmann, Mailand

Wie jedes Jahr zum Ambrosiustag gleicht das Teatro alla Scala in Mailand einer Festung. Die Via Santa Margherita und die Piazza della Scala vor Italiens berühmtestem Opernhaus sind weiträumig abgesperrt durch Carabinieri. Durchgelassen wird nur, wer eine Eintrittskarte zur Inaugurazione, zur Saisoneröffnung, dieses Jahr mit Giuseppe Verdis "Don Carlo", vorweisen kann. Denn irgendwer im Lande nutzt immer die gesteigerte Aufmerksamkeit, welche die Oper in Italien - recht äußerlich freilich und arg ritualisiert - noch genießt, um lautstark, auch gewaltbereit seine politischen Ansichten vorzutragen. Dieses Mal dröhnen Judenhasser, auch Italien hat sie, hinterm Dante-Denkmal: "Libertà, libertà, Palestina libera" (Freiheit, Freiheit, freies Palästina). Auf den Transparenten steht: "Stoppt den Völkermord".

Den Völkermord an den europäischen Juden überlebt hat die 1930 geborene Liliana Segre, die 1944 nach Auschwitz deportiert worden war. Heute ist sie Senatorin auf Lebenszeit und hatte am 13. Oktober 2022 als Alterspräsidentin die Sitzungsperiode des Senats eröffnet mit einer Rede, die den "Marsch auf Rom" der italienischen Faschisten, exakt hundert Jahre zuvor, thematisierte. Mailands Bürgermeister Giuseppe Sala hat Segre zur Inaugurazione eingeladen. Als sich die Dreiundneunzigjährige an der Brüstung der blumengeschmückten Königsloge zeigt, brandet der Applaus auf. Nach dem Absingen der Nationalhymne "Brüder Italiens" ruft jemand vom Rang: "Nicht das Italien der Faschisten!" Erneuter Applaus. Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die im vergangenen Jahr noch kokettiert hatte, sie wisse gar nicht, wie man sich in der Oper kleiden und benehmen müsse, bleibt der Vorstellung fern, genau wie der Staatspräsident Mattarella. Die anwesenden Minister Salvini und Sangiuliano sowie der Senatspräsident La Russa halten sich bedeckt.

Gegen die als Putin-Freundin verschriene Anna Netrebko protestiert hier, in Zeiten des andauernden Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine, niemand mehr. Die russische Sopranistin wird in Italien, nach nur kurzen Irritationen im Frühjahr 2022, gern gesehen und gehört. Heute Abend singt sie die Partie der Elisabetta, erst Verlobte, dann Stiefmutter von Don Carlo, dem Thronfolger Spaniens, aus Gründen der Staatsräson von dessen Vater Filippo geehelicht. Und vielleicht war Netrebko als Sängerin nie so gut wie jetzt, da ihr Flittchencharme, mit dem sie sich vor knapp zwanzig Jahren zum Boxenluder der Phonoindustrie hatte machen lassen, verflogen ist, und jetzt, da sie sich weltweit angefeindet sieht dafür, dass sie, weniger aus bewusstem Chauvinismus als vielmehr aus politischer Dummheit, für Putin und für russische Separatisten in der Ukraine den Karren der imperialistischen Propaganda gezogen hatte. Jetzt nämlich konzentriert sie sich mehr denn je auf ihre Kunst, um sich wenigstens dort unangreifbar zu machen. Es gelingt ihr in einer Weise, die höchsten Respekt verdient.

Wie sie Szene und Arie der Elisabetta im letzten Akt - gespielt wird die vieraktige Fassung, die Verdi 1884 für die Mailänder Scala erstellte - anlegt, das nötigt nicht nur Bewunderung ab, das ist groß und ergreifend. Irisierende Farben einer durch majestätische Selbstbeherrschung erstickten Traurigkeit schwingen in ihrer Stimme. Den Oktavsprung vom f'' zum f' abwärts auf dem Wort "Frankreich" verbindet sie mit einer anrührenden messa di voce, lässt also die Lautstärke anschwellen bis zur hellsten Brillanz des Klangs und nimmt sie wieder zurück. Wenn sie das f'' erneut erreicht auf der Schlusssilbe von "Fontainebleau", ist der Klang geheimnisvoll verschattet.

Nur durch die Farben drückt sie einmal Stolz in der Erinnerung an die Heimat, einmal verborgene Wehmut in der Erinnerung an den glücklichen Moment des Verlöbnisses mit Carlo aus. Wenn sie von den Tränen, die im Himmel vergossen werden, singt, motiviert sie sogar Riccardo Chailly, der an diesem Abend als Dirigent blass und ohne Biss bleibt, zu einem hoch inspirierten Moment, wenn er die Flöten in Fis-Dur schluchzen und die Tränen in den Oboen tropfen lässt. Gegen Schluss dieser Szene durchmisst Netrebkos Sopran binnen zweier Takte komplett zwei Oktaven vom ais'' bis zum kleinen ais. Den tiefsten Ton setzt sie in samtenem Pianissimo an, ohne Glottisschlag (also ohne hörbaren Einschwingvorgang), sodass die Pause davor ganz wundersam zum stummklingenden Teil der Phrase wird. Es ist, was soll man sagen, einfach meisterhaft. Danach gibt es, völlig zu Recht, minutenlangen Applaus.

Die andere große Frau dieses Abends ist die Mezzosopranistin Elina Garanca als Prinzessin Eboli: Die Koloraturen in der Seguidilla des ersten Akts begreift sie nicht als Ausstellung vokaler Brillanz, sondern als sanfte Sirenenrufe der Lust. Dass Georges Bizet, der 1867 die Uraufführung des "Don Carlo" in Paris erlebt hatte, die Oper aber für missglückt hielt, hier für seine "Carmen" Inspiration erhalten haben muss, scheint bei Garancas Deutung völlig unbestreitbar. Sie zeigt später aber auch die metallische Schärfe einer Intrigantin wie die zitternde Angst einer verkommenen Frau, deren Rest von Ehrgefühl sie dazu bringt, Elisabetta ihren Verrat zu beichten.

Was Netrebko und Garanca hier leisten, lässt die singenden Männer unvorteilhaft wirken. Francesco Meli als Don Carlo ist in den leisen, innigen Szenen zauberhaft, aber für das Pathos eines Freiheitshelden wirkt sein Tenor zu dünn und strähnig. Michele Pertusi als Felipe kämpft gegen eine Indisposition, zeigt aber recht überzeugend einen von Zweifeln, Zurücksetzung, Angst und Einsamkeit zermürbten König, dem Jongmin Park als Großinquisitor mit deutlich größerer Bass-Souveränität gegenübersteht. Luca Salsi als Rodrigo gefällt sich zunächst in der unschönen Angewohnheit, Spitzentöne mit Druck herauszustemmen, was ein Mittel der Rhetorik sein könnte, aber die Phrasen zerreißt. Doch Salsi fängt und kontrolliert sich immer besser, je weiter der Abend voranschreitet. Seine Abschiedsarie im Kerker vereint Kraft und Noblesse aufs Schönste.

Der von Alberto Malazzi einstudierte Chor der Scala agiert konzentriert und souverän, wirkt aber insgesamt stimmlich verschüchtert. Als zurückhaltend ließe sich auch die Regie von Lluís Pasqual freundlich umschreiben, zu der Daniel Bianco eine glas- und gitterreiche Bühne im spanischen Stil des 16. Jahrhunderts gebaut hat. Man kann der Regie zugutehalten, dass in ihr die kostbaren, mit großer Handwerkskunst gefertigten historischen Kostüme von Franca Squarciapino vorteilhaft zur Geltung kommen. Und sie differenziert die Idee einer christlichen Monarchie mit deren Symbolen, Hierarchien und Ritualen sorgfältig aus. Aber für ein Christentum jenseits sozialer Kontrolle und klerikalfaschistischer Macht- wie Prachtentfaltung findet Pasqual keine Bilder. Chailly kassiert für sein Dirigat, das oft Spannung mit Druck verwechselt, dann aber über weite Strecken müde wirkt und verwaschen bleibt, bemerkenswerte Buhrufe.

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