Produktdetails
- Anzahl: 1 Audio CD
- Erscheinungstermin: 12. März 1996
- Hersteller: Universal Vertrieb - A Divisio / Philips,
- EAN: 0028944658125
- Artikelnr.: 32771990
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.04.2023Den Tod bedenken, um das Leben zu feiern
Von Brahms zu Escaich: Andris Nelsons und das Gewandhausorchester / Von Gerald Felber, Salzburg
"Denn alles Fleisch, es ist wie Gras": wenn Andris Nelsons, der Chor des Bayerischen Rundfunks und das Leipziger Gewandhausorchester den Trauermarsch in Johannes Brahms' "Deutschem Requiem" intonieren, werden selbst in den Fortissimo-Steigerungen weder Wildheit noch Aufbegehren hörbar, sondern einzig ein erschüttert ernstes Hinnehmen des Unvermeidlichen; und "des Herren Wort" wie die "ewige Freude" bleiben dann, wenn sie später aufgerufen werden, immer noch herbe, mit nachschmeckender Bitterkeit versetzte Tröstungen. Diese Aufführung während der Salzburger Osterfestspiele, wesentlich mitgeprägt von der warm-gerundeten und bei aller Fülle unangestrengten Vokalkunst der Münchner Choristen und den messerscharf durchdringenden, rhetorisch packenden Baritonsoli Christian Gerhahers, stand im Zeichen hoffender Ergebung, nicht triumphaler Überwindungsgewissheit. Noch die letzten verlöschenden "Selig"-Verheißungen enden mit Frage- statt Ausrufezeichen, und in der Summe waren es weniger die feurigen Bekenntnisappelle, die dieser Aufführung ihre Nachhaltigkeit verliehen, sondern ihre stillen, ins Intime zurückgenommenen Teile.
Machtvoll, aber ohne zermalmende Wucht, sondern auch im Fortissimo geradezu zärtlich; dann wieder ganz leise und dennoch ausstrahlend kraftvoll - das Gewandhausorchester bezieht an diesem Abend einen Gutteil seiner Wirkung aus solch paradoxen Fügungen. Sie bilden so etwas wie eine zweite, atmosphärische Schicht, die das Oberflächenrelief umkleidet und weitet, manchmal auch ins Mehrdeutige schwingen lässt. In den Startjahren Kurt Masurs nach 1970 ging in Leipzig unter Stammhörern und Kritikern, gewiss auch mit einer Tönung wohlwollend geneigter Ironie, das Wort vom "Gewandhausnebel" um. Es meinte einerseits jene winzigen Interferenzen, die die absolute Homogenität einer buchstabengetreuen Exaktheit zum flimmernd Vibrierenden hin verschieben konnten; darüber hinaus aber eine nach vielen Seiten offene Fülle kleinster, nicht immer vorab ausgerechneter, sondern aus der spontanen Binnenkommunikation mit dem Dirigenten sowie der Musiker untereinander erwachsender Impulse, die das Klang- und Hörbild mitfärbten.
Die Vokabel mag obsolet geworden sein, aber indem auch seitherige Gewandhaus-Kapellmeister wie Herbert Blomstedt und nun eben Nelsons weiterhin nicht der Philosophie unausweichlicher Perfektion, Ton-Planwirtschaft und quasi fotografischer Exaktheit, sondern der eines erlebnis- und ergebnisoffenen, im Moment der Entstehung immer noch weiter formbaren gemeinsamen Hereinwachsens in die Klänge folgten, hat sich dieser eigene Leipziger Geist sowohl weiter modifiziert als auch tradiert. Durchaus nicht immer rundum perfekt: Anton Bruckners 7. Symphonie geriet im ersten Satz zu einer disparaten Fülle leuchtender Klanginseln, die aber untereinander wenig Bindungskraft entwickelten. Das gewaltige Triumph- und Trauerpanorama im Adagio, mit weitem Atem bis zum Höhepunkt aufgebaut, als Klage von überzeitlicher Majestät endend, brachte das Werk dann jedoch in ein Gleis, wo selbst das dramaturgisch heikle, für Bruckner fast leichtgewichtige Finale organisch gewachsen, gleichermaßen als integrativer Rückblick wie frischer Aufbruch wirkte.
Dass auch Robert Schumanns C-Dur-Symphonie mit ihrer langsamen Einleitung nur tastend in die Gänge kam, könnte dagegen gestalterische Absicht gewesen sein - denn Nelsons, ein grübelnder Hinterfrager, bohrte sich hier intensiv in die untergründigen Spannungen des im Tiefsten krisenhaften, nach einer langen Depressionsphase entstandenen Werkes. Wie da im gleißenden C-Dur mit seinen Trompeten- und Holzbläser-Überhelligkeiten, der neurotisch getriebenen, fast fiebrigen Euphorie des Kopfsatzes, dem freudlosen Perpetuum mobile des Scherzos die Musik vor sich selbst davonrennt: Das war ein Erlebnis intelligenter, aber nie kleinteilig-überanalytischer Klang- und Seelenforschung gleichermaßen. Noch das feurige Finale mit seiner Beethoven-Beschwörung musste sich in seinen demonstrativen Triumph-Fanfaren gleichsam immer wieder bei sich selbst vergewissern.
Mit diesen Symphonien gaben die Leipziger ihrer Rolle als Salzburger Edel-Lückenbüßer bis zur neuen Epiphanie der Berliner Philharmoniker immerhin historische Weihen: beide wurden in Leipzig uraufgeführt, die Schumannsche von Felix Mendelssohn Bartholdy, der vor Ort auch noch als Bach-Bearbeiter der D-Dur-Suite BWV 1068 erschien - gar nicht so weit vom Geist des Originals entfernt wie oft unterstellt und vom Ensemble frisch-zupackend angegangen. Diese offensive Herangehensweise galt auch für Thierry Escaichs kürzlich in Leipzig uraufgeführtes Cello-Konzert "Les chants de l'Aube" und zumal dessen Solisten Gautier Capuçon, der sich, fast ununterbrochen beschäftigt, mit explosiver und ansteckender Vitalität durch seinen Part grub, pflügte und wühlte.
Auch aus sich selbst heraus haben diese "Gesänge der Frühe" bemerkenswerte Qualitäten, weil sie sich etwas getrauen, was selten geworden ist in der aktuellen Kunst: das Dasein in seiner Schönheit zu feiern und zu besingen. Anders als in Sofia Gubaidulinas durchaus beeindruckendem, aber letztlich nur aus einer Reihung wuchtiger und schon bekannt klingender Pathosformeln bestehendem "Zorn Gottes", den die Leipziger ebenfalls im Gepäck hatten, wird der Welt hier nicht der mahnende Zeigefinger hingestreckt, sondern sie darf genossen, durchtanzt und poetisch verzaubert werden, ohne deswegen der Banalisierung zu verfallen - ein wenig zu ausgedehnt, aber freud- und hoffnungsvoll.
Vielleicht spielt Escaich in Frankreich eine ähnliche Rolle wie Jörg Widmann hierzulande: als qualifizierter Instrumentalist - in diesem Falle an der Orgel -, sehr produktiver Schreiber und einer, der auch in zugespitzten Konflikten noch Sinn für das Kulinarische seiner Kunst behält. Man kann über diese Art Musikproduktion immer trefflich streiten - aber erst einmal darf man sich von ihr hörend anregen lassen; das sehr angetane Salzburger Publikum sah das offenbar auch so.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von Brahms zu Escaich: Andris Nelsons und das Gewandhausorchester / Von Gerald Felber, Salzburg
"Denn alles Fleisch, es ist wie Gras": wenn Andris Nelsons, der Chor des Bayerischen Rundfunks und das Leipziger Gewandhausorchester den Trauermarsch in Johannes Brahms' "Deutschem Requiem" intonieren, werden selbst in den Fortissimo-Steigerungen weder Wildheit noch Aufbegehren hörbar, sondern einzig ein erschüttert ernstes Hinnehmen des Unvermeidlichen; und "des Herren Wort" wie die "ewige Freude" bleiben dann, wenn sie später aufgerufen werden, immer noch herbe, mit nachschmeckender Bitterkeit versetzte Tröstungen. Diese Aufführung während der Salzburger Osterfestspiele, wesentlich mitgeprägt von der warm-gerundeten und bei aller Fülle unangestrengten Vokalkunst der Münchner Choristen und den messerscharf durchdringenden, rhetorisch packenden Baritonsoli Christian Gerhahers, stand im Zeichen hoffender Ergebung, nicht triumphaler Überwindungsgewissheit. Noch die letzten verlöschenden "Selig"-Verheißungen enden mit Frage- statt Ausrufezeichen, und in der Summe waren es weniger die feurigen Bekenntnisappelle, die dieser Aufführung ihre Nachhaltigkeit verliehen, sondern ihre stillen, ins Intime zurückgenommenen Teile.
Machtvoll, aber ohne zermalmende Wucht, sondern auch im Fortissimo geradezu zärtlich; dann wieder ganz leise und dennoch ausstrahlend kraftvoll - das Gewandhausorchester bezieht an diesem Abend einen Gutteil seiner Wirkung aus solch paradoxen Fügungen. Sie bilden so etwas wie eine zweite, atmosphärische Schicht, die das Oberflächenrelief umkleidet und weitet, manchmal auch ins Mehrdeutige schwingen lässt. In den Startjahren Kurt Masurs nach 1970 ging in Leipzig unter Stammhörern und Kritikern, gewiss auch mit einer Tönung wohlwollend geneigter Ironie, das Wort vom "Gewandhausnebel" um. Es meinte einerseits jene winzigen Interferenzen, die die absolute Homogenität einer buchstabengetreuen Exaktheit zum flimmernd Vibrierenden hin verschieben konnten; darüber hinaus aber eine nach vielen Seiten offene Fülle kleinster, nicht immer vorab ausgerechneter, sondern aus der spontanen Binnenkommunikation mit dem Dirigenten sowie der Musiker untereinander erwachsender Impulse, die das Klang- und Hörbild mitfärbten.
Die Vokabel mag obsolet geworden sein, aber indem auch seitherige Gewandhaus-Kapellmeister wie Herbert Blomstedt und nun eben Nelsons weiterhin nicht der Philosophie unausweichlicher Perfektion, Ton-Planwirtschaft und quasi fotografischer Exaktheit, sondern der eines erlebnis- und ergebnisoffenen, im Moment der Entstehung immer noch weiter formbaren gemeinsamen Hereinwachsens in die Klänge folgten, hat sich dieser eigene Leipziger Geist sowohl weiter modifiziert als auch tradiert. Durchaus nicht immer rundum perfekt: Anton Bruckners 7. Symphonie geriet im ersten Satz zu einer disparaten Fülle leuchtender Klanginseln, die aber untereinander wenig Bindungskraft entwickelten. Das gewaltige Triumph- und Trauerpanorama im Adagio, mit weitem Atem bis zum Höhepunkt aufgebaut, als Klage von überzeitlicher Majestät endend, brachte das Werk dann jedoch in ein Gleis, wo selbst das dramaturgisch heikle, für Bruckner fast leichtgewichtige Finale organisch gewachsen, gleichermaßen als integrativer Rückblick wie frischer Aufbruch wirkte.
Dass auch Robert Schumanns C-Dur-Symphonie mit ihrer langsamen Einleitung nur tastend in die Gänge kam, könnte dagegen gestalterische Absicht gewesen sein - denn Nelsons, ein grübelnder Hinterfrager, bohrte sich hier intensiv in die untergründigen Spannungen des im Tiefsten krisenhaften, nach einer langen Depressionsphase entstandenen Werkes. Wie da im gleißenden C-Dur mit seinen Trompeten- und Holzbläser-Überhelligkeiten, der neurotisch getriebenen, fast fiebrigen Euphorie des Kopfsatzes, dem freudlosen Perpetuum mobile des Scherzos die Musik vor sich selbst davonrennt: Das war ein Erlebnis intelligenter, aber nie kleinteilig-überanalytischer Klang- und Seelenforschung gleichermaßen. Noch das feurige Finale mit seiner Beethoven-Beschwörung musste sich in seinen demonstrativen Triumph-Fanfaren gleichsam immer wieder bei sich selbst vergewissern.
Mit diesen Symphonien gaben die Leipziger ihrer Rolle als Salzburger Edel-Lückenbüßer bis zur neuen Epiphanie der Berliner Philharmoniker immerhin historische Weihen: beide wurden in Leipzig uraufgeführt, die Schumannsche von Felix Mendelssohn Bartholdy, der vor Ort auch noch als Bach-Bearbeiter der D-Dur-Suite BWV 1068 erschien - gar nicht so weit vom Geist des Originals entfernt wie oft unterstellt und vom Ensemble frisch-zupackend angegangen. Diese offensive Herangehensweise galt auch für Thierry Escaichs kürzlich in Leipzig uraufgeführtes Cello-Konzert "Les chants de l'Aube" und zumal dessen Solisten Gautier Capuçon, der sich, fast ununterbrochen beschäftigt, mit explosiver und ansteckender Vitalität durch seinen Part grub, pflügte und wühlte.
Auch aus sich selbst heraus haben diese "Gesänge der Frühe" bemerkenswerte Qualitäten, weil sie sich etwas getrauen, was selten geworden ist in der aktuellen Kunst: das Dasein in seiner Schönheit zu feiern und zu besingen. Anders als in Sofia Gubaidulinas durchaus beeindruckendem, aber letztlich nur aus einer Reihung wuchtiger und schon bekannt klingender Pathosformeln bestehendem "Zorn Gottes", den die Leipziger ebenfalls im Gepäck hatten, wird der Welt hier nicht der mahnende Zeigefinger hingestreckt, sondern sie darf genossen, durchtanzt und poetisch verzaubert werden, ohne deswegen der Banalisierung zu verfallen - ein wenig zu ausgedehnt, aber freud- und hoffnungsvoll.
Vielleicht spielt Escaich in Frankreich eine ähnliche Rolle wie Jörg Widmann hierzulande: als qualifizierter Instrumentalist - in diesem Falle an der Orgel -, sehr produktiver Schreiber und einer, der auch in zugespitzten Konflikten noch Sinn für das Kulinarische seiner Kunst behält. Man kann über diese Art Musikproduktion immer trefflich streiten - aber erst einmal darf man sich von ihr hörend anregen lassen; das sehr angetane Salzburger Publikum sah das offenbar auch so.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main