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Produktdetails
Trackliste
CD
1Etude d'apres Séraphin (für Instrumente und elektronische Klänge)
2Formteil 100:06:46
3Strophe 100:01:00
4Formteil 200:03:42
5Strophe 200:03:53
6Strophe 300:00:44
7Formteil 300:03:05
8Strophe 400:02:13
9Formteil 400:08:25
10Strophe 500:07:29
11Formteil 500:04:19
12Clausula00:01:31
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.1996

Seelendunkelkammer
Zweit-Uraufführung: Wolfgang Rihms "Séraphin" in Stuttgart

Schon jedes Schubert-Lied stellt knifflige Fragen: Trägt die Melodie den Text oder dieser die Melodie, wie ist das Verhältnis von Singstimme und "Begleitung"? Nichts zumindest ist so selbstverständlich, wie es scheint. Erst recht das Musiktheater irritiert im Gegeneinander der Ansprüche "autonomer" und "angewandter" Musik. Oper heißt zudem auch szenisches Komponieren: Sichtbares und Hörbares liegen ebenfalls im Widerstreit - eine Gleichung mit mehreren Unbekannten also. Lange Zeit hatte es den Anschein, als wäre die vielgeschmähte, oft totgesagte "Literaturoper" doch recht zählebig. Aber seit einigen Jahren zeichnet sich ein Wandel ab, die Tendenz zu einem Musiktheater, das seiner Kategorien und Kriterien gar so sicher nicht mehr ist, es lieber bei weißen Flecken beläßt, als auf die Macht des Narrativen zu vertrauen - und das vor allem einer Frage gegenüber skeptisch bleibt: Was ist der Mensch, gar der aus Fleisch und Blut? Ob in Steve Reichs "The Cave", Peter Greenaways und Louis Andriessens "Rosas", Stockhausens "Licht"-Zyklus oder Beat Furrers "Narcissus": Ein durchlaufender Text, gar eine auf ein Subjekt fokussierte Handlung ist nicht mehr sinnstiftend gegeben. Es geht um ein neues Musiktheater in statu nascendi.

Wolfgang Rihm, der am stärksten in seiner Generation literarisch orientiert, aber auch an bildender Kunst interessiert ist, hat in seiner Musiktheater-Entwicklung stets die Problematik der Gattung mitreflektiert, nie einfach an Texten entlangkomponiert. Ob "Faust und Yorick", "Lenz", "Hamletmaschine" oder "Ödipus", immer wieder hat er Texte collagiert, mit Metaebenen operiert. Und seit vielen Jahren kreist sein Denken wie Schaffen um ein erratisches work in progress, konfiguriert um Antonin Artaud: das mächtige "Tutuguri"-Ballett mit Vorstufen und Ablegern, die gewaltige Oper "Die Eroberung von Mexiko" und "Séraphin", selbständiges Seitenschiff zur "Mexico"-Kathedrale. Und so wie es Artaud in seinem "Theater der Grausamkeit" nicht um Handlung, Abbildung oder Diskurs geht, sondern um rituelle Urtümlichkeit antirationaler Kunst, so gibt es in der "Eroberung von Mexico" kaum erzählende Momente, wohl aber immer wieder die insistierende Frage, was das eigentlich sei: männlich, weiblich, neutral?

Solche Suche nach Archetypen - im Zeitalter von "political correctness" paradoxerweise als antiaufklärerisch wenig geschätzt, doch als Zweifel an Geschlechterrollen wieder willkommen - treibt Rihm um; in Richtung auf ein imaginäres Musiktheater, von dem er noch nicht weiß noch wissen will, wie es konkret beschaffen sein soll. Seine fünfundvierzigminütige, so verzweigte wie aufgerauhte Komposition heißt denn auch lapidar "Séraphin versuch eines theaters instrumente/stimmen". Seit 1993 arbeitet er an dem Werk, dessen "erster Zustand" 1994 bei den Frankfurt Festen uraufgeführt worden war. Um nicht in die Fallen erzählenden, abbildenden, deutenden, psychologisierenden Theaters zu geraten, hatte Rihm bewußt keinen Artaud-Text vertont, darüber hinaus alle visuellen Vorgaben verweigert. Im Gegenteil: Mit dem Video-Künstler Klaus vom Bruch kam es zu einem "deal": Rihm sollte für sich komponieren, vom Bruch unabhängig davon eine Installation liefern, strikte Spartentrennung also. Zu Rihms eminent "haptischer" Musik für Manfred Reicherts Karlsruher Ensemble 13 stießen zwei Baritone aggressiv "männliche" Laute aus, während sechs tiefe Frauenstimmen, im Raum verteilt, eine magisch "weibliche" Gegensphäre evozierten. Zu dieser fundamental wortlosen Artaud-Musik hatte vom Bruch eine Bildfolge geliefert, die, dem Symmetrieschema folgend, menschliche Körper und Körperteile zeigte, bei denen Form, Funktion und Geschlecht oft ununterscheidbar blieben, androgynes Welttheater. Selbst in der Wahrnehmung von Oberfläche und Innerem war man irritiert, sexuelle Motive dominierten. Ergänzt wurden die anthropomorphen Bilder durch solche von Pflanzen und Landschaften. Da wurde es beliebig; nostalgisch dachte man etwa an die vexierbildartigen Haut-Foto-Collagen von Tilo Keil, die das Schein-Vertraute graphisch verrätselten.

Im Stuttgarter Kammertheater wurde nun der "Zweite Zustand" von "Séraphin" uraufgeführt, musikalisch durch Einschübe, Wiederholungen vor allem, fast auf die doppelte Länge gebracht, ein überaus suggestiver Wucherungsprozeß. Nun aber sollte es "menschlich" leibhaftig zugehen, der Videoschirm durch die Theaterbretter ersetzt werden. Peter Mussbach hat nicht nur die Hamburger "Mexico"-Uraufführung inszeniert, sondern schon mit einem Frankfurter Beckett-Holliger-Abend bewiesen, daß er im Albtraum-Niemandsland behaust ist. Und da Rihm keine visuellen Vorschläge macht, scheint auch "Werktreue" kein Problem; zumal Mussbach Meister eines hochkinetischen Archetypen-Psychodramas ist, das Artauds Männlich-weiblich-Phantasmagorien zumindest nicht zuwiderläuft. Vielleicht aber hat sich Mussbach nun doch unter Druck gesetzt, dem Theater zu seinem Recht zu verhelfen. So verfällt er auf die zunächst glänzend scheinende Idee, die beiden Baritonpartien mit den beiden farbigen Zwillingen Eugene und Herbert Perry (bei Peter Sellars Don Giovanni und Leporello) zu besetzen, die aber nicht mehr als ein Gag ist.

Tiefe Nacht herrscht auf der Bühne, schemenhaft tauchen aus dem Dunkel die Perry-Brüder, mit Frack oder Zylinder, mit Kronen oder als Boxer auf, ein Archetypen-Dunkelkammer-Slapstick. Fürs Weibliche steht die Schauspielerin und Tänzerin Ellen Umlauf mit endlosem Blondhaar, immer noch fabelhaft präsent. Damit hat Mussbach einen Kontrast geschaffen, wie er so manifest weder zu Artaud noch Rihm paßt. Und womöglich wider Willen ergibt sich tradierte Typologie, tauchen Slapstick-Situationen auf: Ein Mann schlägt den anderen nieder, bedrängt die Frau, ein Eisschrank wird geöffnet, eine Flasche herausgeholt. Sketchs scheinen angedeutet. Und plötzlich ist es doch wieder da, das Mann-Frau-Klischee. Im zweiten Teil ist die Bühne weiß, zum Schluß sogar bläulich. Dann erscheinen auf dem Bildschirm das Gesicht der Frau, schier autodaféhaft von Flammen umgeben, oder das Zylinder-Duo. Da ist die Erstfassungs-Videowelt wieder nicht weit. Die Verdopplung der Männerrollen übers Stimmfach hinaus wird zurückgenommen, indem nur ein Perry auf der Bühne singt, der andere aus dem Off, aus dem auch die Frauenstimmen tönen, im Raumklang nicht so plastisch und differenziert, zugleich verteilt wie möglich und wohl auch wünschenswert. Auch die beiden Baritonpartien klangen in Frankfurt weit prägnanter, geräuschhaft intensiver, "animalisch" aggressiver. Da spürt man auch den Preis für die angeblich größere Unmittelbarkeit des Theaters gegenüber der kalten Aufspaltung in die konzertante Wiedergabe und die Video-Imagination.

Dem eigenen Erinnern zu mißtrauen, kann kein Schaden sein. Vielleicht ließ auch die dunkle Aura des Stuttgarter Abends die Musik runder, "lyrischer" klingen, ließ visuelles "Misterioso" sogar Wagnerianismen, etwa die "Nornen-Szene", assoziieren. Die Musiker des Staatstheaters unter Bernhard Kontarsky, übrigens hinter dem Auditorium postiert, taten wohl ihr Bestes, differenziertere Schärfe ließe sich noch vorstellen. Die Spurensuche im Niemandsland bleibt stete Herausforderung: Rihms nächste "Séraphin"-Stufe wird wieder stärker aufs Video setzen. GERHARD R. KOCH

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