Produktdetails
- Anzahl: 1 Vinyl
- Erscheinungstermin: 7. Oktober 2022
- Hersteller: Edel Music & Entertainment GmbH / ACT,
- EAN: 0614427995612
- Artikelnr.: 64386666
LPDOW | |||
1 | I loves you Porgy | 00:03:52 | |
2 | Willow's song | 00:04:19 | |
3 | Hauntology | 00:03:17 | |
4 | Hand of God | 00:05:14 | |
5 | Ghosts | 00:02:52 | |
6 | Monsters never breathe | 00:03:37 | |
7 | Erlkönig | 00:02:45 | |
8 | In a sentimental mood | 00:03:32 | |
9 | She moved through the fair | 00:03:33 | |
10 | Beat the drum slowly | 00:04:31 |
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.2022Tonspuren der Geister
Doppelte Erschütterung im Jazz-Herbst: Michael Wollny hört Stimmen,
und Esbjörn Svenssons
Nachlassklänge treten in Dialog mit ihnen.
Wenn jemand plötzlich verschwindet, ein Kontakt abbricht, der über Jahre bestand und auch viele Spuren hinterlassen hat, wenn, wo so viel war, plötzlich nichts mehr ist - dann klammert man sich gerne an die besagten Spuren, begibt sich immer wieder auf ihre Fährte, versucht noch etwas Neues zu sehen oder herauszulesen. Oder zu hören, wenn es denn Tonspuren gibt.
Wenn der Verschwundene ein Musiker war und wenn er zudem mitten aus dem Leben gerissen wurde wie der schwedische Jazzpianist Esbjörn Svensson bei einem Tauchunfall am 14. Juni 2008 im Stockholmer Schärengarten, muss dieser Effekt auf die Hinterbliebenen umso größer sein. Über Jahre konnte man sich immerhin damit trösten, dass von Svenssons Jazztrio, auch bekannt als E.S.T., noch Liveaufnahmen veröffentlicht wurden, die einem vielleicht einen Song oder eine Facette davon neu öffneten.
Aber nicht auszudenken, was Svenssons Ehefrau Eva empfunden haben muss, als sie auf einer Computerfestplatte des Verstorbenen Jahre später unveröffentlichte Musik entdeckte, die dieser wohl ganz allein im Keller aufgenommen hatte. Laut eigener Aussage hatte sie den Nachlass zunächst im Schrank verstaut und sich lange nicht damit befassen können.
Als sie es nach gut zehn Jahren endlich tat, stellte sich heraus, dass Svensson offenbar kurz vor seinem Tod neun kurze Solopiano-Stücke in guter Qualität aufgenommen und nach Buchstaben des griechischen Alphabets betitelt hatte. Schon das klingt überraschend, erinnert man sich an die sonst so evokativen Song- und Albumtitel seines Trios, etwa "Seven Days of Falling" oder "From Gagarin's Point of View". Nun also Musik ganz ohne Text, die maximalen Deutungsspielraum lässt.
Wer noch die rhythmischen Attacken von Svenssons Piano im Ohr hat ("Mingle in the Mincing-Machine"), mit denen er sehr einflussreich den Klang des Jazztrios verändert hat, wird sich die Augen reiben, wenn das Solo-Stück "Alpha" aus der Tiefe des Raumes anhebt: vorsichtig hingetupfte Akkorde in höheren Lagen, die immer wieder auf Fermaten pausieren, etwas weiter stolpern, manchmal in Richtung Rosengarten, dann in Richtung Abgrund: musikalische Traumbilder, die zwischen Jazz-Standards und romantischen Impromptus changieren. Aber just, bevor es zu schön wird, hängt sich der Pianist an einer Dissonanz auf, die er offenbar gewillt ist, weiter auszukosten und zu umspielen; es blitzt sein aleatorisches, plötzlich mehr am Rhythmus als an der Melodie interessiertes Spiel wieder auf, scheint gegen Ende des nur vier Minuten langen "Alpha" sogar in die freie Improvisation zu drängen.
Manche der neun Stücke sind in dieser Weise aufgebaut: Vom Verharren und Aushalten von Klängen, also der musikalischen Meditation, geraten sie langsam ins Fließen, ins Erzählen, wenn man so will: Denn natürlich kann man bei der Rezeption dieser Musik den gewussten Hintergrund, mit der Erzähltheorie gesagt: den Paratext, nie ganz ausblenden - dass sie sozusagen aus dem Jenseits zu uns dringt, als geisterhafte Botschaft, die Svensson bei der musikalischen Arbeit zeigt, intimer als je zuvor.
Manche Stücke, etwa "Iota", lassen auf eine Beschäftigung mit der Kunst der Fuge schließen und werfen, wenn Svensson die ziselierten Sechzehntelläufe plötzlich mit Jazz-Akkorden unterbricht, auch die Frage auf, ob es ihm gar um einen musikalischen Witz zu tun war oder ob er einfach improvisierend übte und dabei mitschnitt (ob die Musik so zur Veröffentlichung gedacht war, ist ja nicht sicher).
Aber gerade diese Offenheit macht den Reiz aus: sich etwa zu fragen, was Svensson dazu bewegt hat, mitten in dem vielleicht anrührendsten Stück "Gamma" in einen Blues aus dem Mississippi-Delta zu kippen und dann wieder herauszurollen.
Das Geisterhafte dieser Musik sorgt zugleich für eine Verbindung mit einem weiteren Album dieses Herbstes, das vorderhand nicht viel mehr mit Svenssons gemein hat als das Musiklabel, auf dem es erscheint. Aber Michael Wollny, dessen Jazz-Karriere gerade so richtig begann, als Svensson starb, hatte auch früher schon ein Stück des Schweden auf seine Weise interpretiert - und jeder assoziativ denkende Mensch wird es nicht für völlig zufällig halten, dass Wollny nun zeitgleich mit dem Geisteralbum Svenssons ein eigenes Album namens "Ghosts" veröffentlicht. Nach dem Motto "All the songs are living ghosts and long for a living voice" (Brendan Kennelly) lässt sich Wollny von Standards des Jazz und der Romantik neu begeistern. Die Originale schimmern manchmal nur als ferner Spuk durch, so beim Auftaktstück "I Loves You, Porgy" und bei Duke Ellingtons "In a Sentimental Mood". Schuberts "Erlkönig" mutiert zur Gothic-Rock-Ballade, die im Noise-Gewitter endet. Über die besondere Verbindung von (Schauer-)Romantik und Jazz bei Michael Wollny ist in dieser Zeitung schon viel gesagt worden, und man kann in aller Kürze hinzufügen, dass er sie hier zu neuer Perfektion bringt - vor allem mit seiner Eigenkomposition "Hauntology".
In gewisser Weise komplettiert gar Wollnys Album das von Svensson, weil hier eben das Jazztrio in seiner ganzen Schönheit, mit dem bauchigen Kontrabass Tim Lefebvres und dem rockig treibenden, bestechend gut aufgenommenen Schlagzeug Eric Schaefers, eine Wucht entfaltet, wie sie oft auch bei E.S.T. entstanden ist. Und während man sich in Wollnys Geschichte musikalischer Heimsuchungen verliert, fragt man sich manchmal eben auch, wie wohl einige der letzten Ideen Svenssons doch noch im Dialog mit anderen Instrumenten geklungen hätten. JAN WIELE
Esbjörn Svensson:
"HOME.S."
ACT 9053-2 (Edel)
Michael Wollny Trio: "Ghosts".
ACT 9956-2 (Edel)
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Doppelte Erschütterung im Jazz-Herbst: Michael Wollny hört Stimmen,
und Esbjörn Svenssons
Nachlassklänge treten in Dialog mit ihnen.
Wenn jemand plötzlich verschwindet, ein Kontakt abbricht, der über Jahre bestand und auch viele Spuren hinterlassen hat, wenn, wo so viel war, plötzlich nichts mehr ist - dann klammert man sich gerne an die besagten Spuren, begibt sich immer wieder auf ihre Fährte, versucht noch etwas Neues zu sehen oder herauszulesen. Oder zu hören, wenn es denn Tonspuren gibt.
Wenn der Verschwundene ein Musiker war und wenn er zudem mitten aus dem Leben gerissen wurde wie der schwedische Jazzpianist Esbjörn Svensson bei einem Tauchunfall am 14. Juni 2008 im Stockholmer Schärengarten, muss dieser Effekt auf die Hinterbliebenen umso größer sein. Über Jahre konnte man sich immerhin damit trösten, dass von Svenssons Jazztrio, auch bekannt als E.S.T., noch Liveaufnahmen veröffentlicht wurden, die einem vielleicht einen Song oder eine Facette davon neu öffneten.
Aber nicht auszudenken, was Svenssons Ehefrau Eva empfunden haben muss, als sie auf einer Computerfestplatte des Verstorbenen Jahre später unveröffentlichte Musik entdeckte, die dieser wohl ganz allein im Keller aufgenommen hatte. Laut eigener Aussage hatte sie den Nachlass zunächst im Schrank verstaut und sich lange nicht damit befassen können.
Als sie es nach gut zehn Jahren endlich tat, stellte sich heraus, dass Svensson offenbar kurz vor seinem Tod neun kurze Solopiano-Stücke in guter Qualität aufgenommen und nach Buchstaben des griechischen Alphabets betitelt hatte. Schon das klingt überraschend, erinnert man sich an die sonst so evokativen Song- und Albumtitel seines Trios, etwa "Seven Days of Falling" oder "From Gagarin's Point of View". Nun also Musik ganz ohne Text, die maximalen Deutungsspielraum lässt.
Wer noch die rhythmischen Attacken von Svenssons Piano im Ohr hat ("Mingle in the Mincing-Machine"), mit denen er sehr einflussreich den Klang des Jazztrios verändert hat, wird sich die Augen reiben, wenn das Solo-Stück "Alpha" aus der Tiefe des Raumes anhebt: vorsichtig hingetupfte Akkorde in höheren Lagen, die immer wieder auf Fermaten pausieren, etwas weiter stolpern, manchmal in Richtung Rosengarten, dann in Richtung Abgrund: musikalische Traumbilder, die zwischen Jazz-Standards und romantischen Impromptus changieren. Aber just, bevor es zu schön wird, hängt sich der Pianist an einer Dissonanz auf, die er offenbar gewillt ist, weiter auszukosten und zu umspielen; es blitzt sein aleatorisches, plötzlich mehr am Rhythmus als an der Melodie interessiertes Spiel wieder auf, scheint gegen Ende des nur vier Minuten langen "Alpha" sogar in die freie Improvisation zu drängen.
Manche der neun Stücke sind in dieser Weise aufgebaut: Vom Verharren und Aushalten von Klängen, also der musikalischen Meditation, geraten sie langsam ins Fließen, ins Erzählen, wenn man so will: Denn natürlich kann man bei der Rezeption dieser Musik den gewussten Hintergrund, mit der Erzähltheorie gesagt: den Paratext, nie ganz ausblenden - dass sie sozusagen aus dem Jenseits zu uns dringt, als geisterhafte Botschaft, die Svensson bei der musikalischen Arbeit zeigt, intimer als je zuvor.
Manche Stücke, etwa "Iota", lassen auf eine Beschäftigung mit der Kunst der Fuge schließen und werfen, wenn Svensson die ziselierten Sechzehntelläufe plötzlich mit Jazz-Akkorden unterbricht, auch die Frage auf, ob es ihm gar um einen musikalischen Witz zu tun war oder ob er einfach improvisierend übte und dabei mitschnitt (ob die Musik so zur Veröffentlichung gedacht war, ist ja nicht sicher).
Aber gerade diese Offenheit macht den Reiz aus: sich etwa zu fragen, was Svensson dazu bewegt hat, mitten in dem vielleicht anrührendsten Stück "Gamma" in einen Blues aus dem Mississippi-Delta zu kippen und dann wieder herauszurollen.
Das Geisterhafte dieser Musik sorgt zugleich für eine Verbindung mit einem weiteren Album dieses Herbstes, das vorderhand nicht viel mehr mit Svenssons gemein hat als das Musiklabel, auf dem es erscheint. Aber Michael Wollny, dessen Jazz-Karriere gerade so richtig begann, als Svensson starb, hatte auch früher schon ein Stück des Schweden auf seine Weise interpretiert - und jeder assoziativ denkende Mensch wird es nicht für völlig zufällig halten, dass Wollny nun zeitgleich mit dem Geisteralbum Svenssons ein eigenes Album namens "Ghosts" veröffentlicht. Nach dem Motto "All the songs are living ghosts and long for a living voice" (Brendan Kennelly) lässt sich Wollny von Standards des Jazz und der Romantik neu begeistern. Die Originale schimmern manchmal nur als ferner Spuk durch, so beim Auftaktstück "I Loves You, Porgy" und bei Duke Ellingtons "In a Sentimental Mood". Schuberts "Erlkönig" mutiert zur Gothic-Rock-Ballade, die im Noise-Gewitter endet. Über die besondere Verbindung von (Schauer-)Romantik und Jazz bei Michael Wollny ist in dieser Zeitung schon viel gesagt worden, und man kann in aller Kürze hinzufügen, dass er sie hier zu neuer Perfektion bringt - vor allem mit seiner Eigenkomposition "Hauntology".
In gewisser Weise komplettiert gar Wollnys Album das von Svensson, weil hier eben das Jazztrio in seiner ganzen Schönheit, mit dem bauchigen Kontrabass Tim Lefebvres und dem rockig treibenden, bestechend gut aufgenommenen Schlagzeug Eric Schaefers, eine Wucht entfaltet, wie sie oft auch bei E.S.T. entstanden ist. Und während man sich in Wollnys Geschichte musikalischer Heimsuchungen verliert, fragt man sich manchmal eben auch, wie wohl einige der letzten Ideen Svenssons doch noch im Dialog mit anderen Instrumenten geklungen hätten. JAN WIELE
Esbjörn Svensson:
"HOME.S."
ACT 9053-2 (Edel)
Michael Wollny Trio: "Ghosts".
ACT 9956-2 (Edel)
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main