Produktdetails
Trackliste
CD
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.02.2013

Im Schweiße des Punk
Alles ist erörtert - die Vierfrauenband Candelilla und ihr neues Album

Ich bin süchtig nach Heiserkeit", kreischte die Vierfrauenband Candelilla auf ihrem letzten Album "Reasonreasonreasonreason". Da war die Wut gemischt mit Stücken, in denen man die Stimme schonte, die verzerrten Powerchords waren auch immer mit Piano unterlegt, und wenn man auf die Texte hörte, senkte man die gereckte Faust, um sich am Kopf zu kratzen.

Das neue Album "Heart Mutter" kommt nun nicht viel anders daher, doch die Anerkennung trifft mit diesem Album langsam bei Candelilla ein. "Auf keine Platte aus München wird auch außerhalb Bayerns so sehr gewartet wie auf Candelillas zweites Studioalbum ,Heart Mutter'", verkündet der Bayerische Rundfunk. In Berlin mag man darüber schmunzeln, doch die Eckdaten stimmen, noch bevor man den ersten Song gehört hat: Das gute alte Neue-Deutsche-Welle-Label Zick Zack holte sie ins Boot, und Steve Albini übernahm die Produktion des Albums. Der hat vor zwanzig Jahren das letzte Album von Nirvana, "In Utero", produziert, darauf auch der Hit "Heart-Shaped Box". Und diesem Song und damit ihrem Produzenten widmen sie auch zwei Zeilen ihrer Erörterungslyrik: "Schicken wir Dir dieses Herz in dieser Schachtel. Oder mal streng genommen: unser Herz in unserer Schachtel".

Ja, eine permanente Erörterung ist diese Musik, ein Begleitsound zum Auf- und Abgehen. Kaum hat sich eine Sängerin auf eine Aussage festgelegt, singt die andere mit dem Rotstift drüber. Von Liedzeile zu Liedzeile wechseln sie von Deutsch nach Englisch und wieder zurück, weil die Texte keinen fortlaufenden Gedankenstrom bilden, sondern sich Kommentar an Kommentar zum Kommentar reiht, wie die Reaktionen auf einen Facebookpost. Sie machen keine Musik, sie forschen Musik, behaupten sie ganz unironisch. Es passiere nicht, dass eine von ihnen zur Probe komme, mit einem neuen Song in der Tasche, den man dann spiele, nein, alles müsse im Diskurs erarbeitet werden. Soll wohl heißen: Alles ist kompliziert.

Ihre Songs tragen keine Namen, denn natürlich sträuben sich Candelilla gegen die Festlegung des Inhalts auf einen Wenigwortslogan. Stattdessen numerieren sie die Songs nach dem Zeitpunkt ihrer Entstehung. Das Album beginnt deswegen mit den Tracks 28, 30 und 27. Und diese Zahlen werden auf den folgenden Alben so schnell nicht dreistellig werden, denn Candelilla werfen nichts weg. An jedem Song wird so lange geforscht, bis Ergebnisse abfallen. Und so reihen sie brav eine Zahl an die nächste, und vielleicht merken sie gar nicht, dass sie damit doch nur ein althergebrachtes Werkverzeichnis führen. Nun ist ihnen aber nicht vorzuwerfen, dass sie Innovation für sich beanspruchten. Zwar fühlen sie sich nur fehl am Platze richtig verortet, aber Innovation verbitten sie sich nach Candelilla Werkverzeichnis Nummer 30: "Neu sagen wir schon gar nicht, das kotzen wir aus." Postgrunge, Noiserock, Riot-Math-Rock oder einfach Punk nennt das die Musikpresse. Und ist man sich dort in der Kategorisierung so uneins, entsteht da vielleicht wirklich etwas Neues. Die Band selbst nennt es "einen anhaltenden Schrei in verschiedenen Erscheinungsformen".

Auf jeden Fall ist dieses Album ein Egotrip, irgendwo zwischen Authentizität und Obskurantismus, eine Kunst, die sich eigentlich selbst genügt, weil sie ihre Rezeption vorwegnimmt, weil sie sich damit begnügt, durchdiskutierte Wut auf Bänder zu ziehen, um sie so eine Weile los zu sein. Aber es ist auch eine Symptombehandlung mancher Zeitgeistkrankheit, wie diese vier Frauen darüber laut werden, dass sie zu viel nachdenken.

Es ist eine Rückführung auf das Körperliche im Schweiße des Punk. In ihren Videos schwitzen oder frieren sie. Und dann singen sie, gerichtet an ihre Heartmutter oder Herzmother oder was auch immer: "Schau mal was ich kann, schau mal!"

LEANDER STEINKOPF

Candellila: "Heart Mutter" (Zick Zack)

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