Produktdetails
Trackliste
CD
1Pray For Rain00:06:44
2Babel00:05:19
3Splitting The Atom00:05:16
4Girl I Love You00:05:26
5Psyche00:03:24
6Flat Of The Blade00:05:30
7Paradise Circus00:04:57
8Rush Minute00:04:50
9Saturday Come Slow00:03:43
10Atlas Air00:07:48
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.02.2010

Die Insellösung

Entspannte Perfektionisten: Die Trip-Hop-Pioniere von Massive Attack geben uns mit ihrem Album "Heligoland", was wir am nötigsten brauchen - Raum und Zeit.

Ohoho Boy!" - da hängt man längst an ihren Lippen, schönen Lippen, die schöne Sätze formen, mit der Grazie von dreiundsiebzig Jahren und der Anmut eines Mädchens, das soeben entdeckt hat, dass der Weg ins Paradies keineswegs verstellt ist: "Ein Orgasmus ist dieser eine Zeitpunkt, der sich nicht messen lässt. Ein mystischer Moment, der nicht wirklich existiert in unserer Dimension." Unermesslich ist auch, was Georgina Spelvin, die Hauptdarstellerin des Arthouse-Pornchic-Klassikers "The Devil in Miss Jones" von 1973, mit diesem brillanten und via Internet längst vielmillionenfach angesehenen Videoclip zu dem betörenden Massive-Attack-Titel "Paradise Circus" für den heute so beschädigten, in den Dreck des Kommerz herabgedrückten Zauber der Erotik getan hat: Mit wenigen Worten gibt hier jemand, dem man vertrauen darf, der Sexualität Würde und Freiheit zurück, eine umwerfende Erfahrung, zumal in Verbindung mit der paradiesisch verführerischen Stimme Hope Sandovals: "Oh well the devil makes us sin / but we like it when we're spinning - in his grip."

Reflexhaft setzte neoprüdes Jugendschutz-Geheul ein. Doch nichts ist anrüchig an diesem Video Toby Dyes, das kunstvoll Interviewsequenzen mit der betagten Dame mit Szenen aus dem Originalfilm verschleift, nicht die Körper, nicht die Worte, nicht die Orgasmen. Alles dagegen erscheint plötzlich anrüchig, was uns in Unterwäsche von den Werbeplakaten herab anschreit, all der Warengeschlechtsverkehr. Treibt diese Teufel aus, wenn ihr die Jugend schützen wollt, nicht den in Miss Jones; mehr noch: Schützt diesen vor jenen. Über den leichtgewichtig emanzipatorischen Einwand, jeder Pornofilm sei Ausbeutung durch die Kamera, kann die Schauspielerin nur verschmitzt lächeln. Die Kamera habe doch erst die rechte Spannung erzeugt: "Because the truth of it is: I love the camera." Hier aber lernen wir fürs Erste, die Boxen zu lieben.

Sieben Jahre haben sich Massive Attack für ihr fünftes Album "Heligoland" Zeit genommen, beinahe ein Jahr pro Titel - und jede Sekunde davon hat sich gelohnt. Weshalb auch sollte Perfektionismus in der Popmusik ein Makel sein? Zumal in diesem Fall, schließlich ist Entschleunigung das Charakteristikum der offenen Bristoler Band um Robert Del Naja und Grant Marshall, die für ihre Stücke jeweils die idealen Sänger verpflichtet. Vor zwanzig Jahren - nach dem Auseinanderbrechen des Underground-Kollektivs "The Wild Bunch" - haben sie auf den Alben "Blue Lines" (1991) und "Protection" (1994) noch Soul, Jazz, Rap und Samples über ruhige, bassbetonte Dub-Läufe gelegt, sich aber spätestens mit dem zeitlos schönen Wunderalbum "Mezzanine" (1998) bergwerks-tief in gitarrenverzerrte Düsternis gegraben, die auch die vierte, ins Synthetische verschobene Veröffentlichung "100th Window" (2003) dominierte. Wiederentdeckung der Langsamkeit also, über allen aufgewühlten Wassern schwebend: Hier hat jemand, dem man vertrauen darf, der hypernervös gewordenen Popmusik Würde und Tiefe zurückgegeben. Es tut nichts zur Sache, ob man dies nun "Bristol Sound" respektive "Trip-Hop" nennen möchte, auch wenn diese Bezeichnungen vielleicht dem weniger abwechslungsreichen Sound von Portishead vorbehalten bleiben sollten. Massive Attack sind vielmehr ihr eigenes Genre, massive Musik eben, die mit der Tonsprache geradezu literarisch verfährt, die Melancholie und Blüte, Fall und Aufrichtung so unlöslich miteinander verschmilzt, wie man das nur vom Tragisch-Komischen Shakespeares kennt. Auch wenn die elektroätherischen Clair-obscur-Klänge von Massive Attack in den vergangenen Jahren und ganz gegen die Intention der Musiker zur Kaufhausbeschallung missbraucht wurden, so wird doch am Ende die Musik den Sieg davontragen: Schon fallen die Kaufhäuser, zerstieben die Wühltische.

Unterdes melden sich die Engländer jetzt mit einem mächtigen Werk zurück, unaufgeregt, ausgereift, überlegen. Der Synthesizer-Sound des Vorgängers wurde etwas zurückgefahren zugunsten einer höheren instrumentalen Authentizität. Auch die Schwermut drückt nicht zu Boden. In diesem Club ist man willkommen. Warum Helgoland? Nicht einmal in erster Linie der dramatischen Geschichte der Insel halber. Sie wollten, erklärt Robert Del Naja, vor allem einen bewohnbaren Namen als Titel, "einen Ort, an dem jeder koexistieren kann", dazu einen - und hier wird der Soundpoet wieder ganz Literat -, in dem viele andere Wörter wie in einem Anagramm aufgehoben seien.

Eine Party ist so gut wie die Gäste, und daran hat man nicht gespart. Wie auf allen Alben ist natürlich der Falsett-Reggae-Sänger Horace Andy präsent. Sein basslastiges und bläserbewehrtes, unentschieden zwischen Enthusiasmus und Verzweiflung changierendes "Girl I Love You" ist einer der Höhepunkte von "Heligoland". Des Weiteren begegnet uns, um nur die Wichtigsten zu nennen, Damon Albarn, Frontmann von Blur und den Gorillaz, der noch nie so wenig nach Blur geklungen hat wie bei dem ruhigen "Saturday Come Slow", und Guy Garvey von Elbow, der sich tapfer durch das experimentell zuckende "Flat Of The Blade" kämpft.

Den Auftakt macht Tunde Adebimpe von TV On The Radio, der in dem schon auf der Vorab-EP "Splitting the Atom" enthaltenen "Pray for Rain" zunächst der scheinbar endlosen Hoffnungslosigkeit seine hypnotisierende Stimme verleiht ("Dull residue of what once was"), bis der mit diesem Ritual herbeigetrommelte Regen tatsächlich einsetzt, und zwar - ein kräftiger, die Wüste belebender Guss - in Rhythmus, Melodie und Text zugleich: "Drops on rocks come fast and fleeting / Rhythm laws unleash their meaning / Usher us into the dreaming / Vision walls fall all receding." Mit dem von Robert Del Naja selbst intonierten, zwar metaphysisch unerlösten ("a buried soul"), aber akustisch doch schließlich Purzelbäume schlagenden "Atlas Air", dem längsten Stück, endet diese Platte dann doch optimistischer als jedes andere Massive-Attack-Werk und vielleicht auch ein wenig bedröhnt in den Schäfchenwolken über dem Hochgebirge Nordafrikas. Da, wo auch Georgina Spelvin so oft war. Ohoho Boy!

OLIVER JUNGEN

Massive Attack, Heligoland. Virgin 960946621 (EMI)

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