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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.02.2014

Man nehme: etwas Speed

Die Small Faces waren die Modernisten der britischen Rockmusik. Wie sehr sie ihrer Zeit voraus waren, zeigt jetzt eine gewaltige, vorbildliche Box.

Mit der Geheimhaltung war es schon vor fünfzig Jahren nicht weit her. Steve Marriott, Sänger und Mitbegründer der Small Faces, erinnert sich: "Ronnie Lane hatte damals einen Job als Laufbursche beim Verteidigungsministerium ergattert. Wir saßen den ganzen Tag im ,La Giaconda' und träumten von unserer Karriere, während wir geheime U-Boot-Pläne mit unseren Soßenfingern versauten." 1964 lernten sich nicht nur Steve Marriott und Ronnie Lane kennen, es war auch das Jahr, in dem englische Mods durch die sagenumwobenen Schlachten mit Rockern an der englischen Südküste europaweit auf sich aufmerksam machten.

Die "Modernists", so die ursprüngliche Langform der "Mods", repräsentierten eine Subkultur-Bewegung, in der "zum ersten Mal Musik die Jugendlichen voll umfasste" (Pete Townshend). Motorroller, Tänze, Drogen, Clubs, Kleidung - die Mods transformierten das Dandyhafte, das coole Metropolen-Feeling und das rauschhaft Überdrehte in einen weißen Popstil, der alle Lebensbereiche durchdrang. Die typische Mod-Droge war Speed, Amphetamine jeder Art. Durch sie schien es möglich, der Tristesse des Alltagslebens zu entfliehen und sich in jenen Rausch aus Action, Risiko und Raserei zu steigern, der das Mod-Ideal verkörperte. Wie heißt es in dem Small-Faces-Song "Here Come The Nice" so treffend: "He knows what I want, he knows what I need, he's always there if I need some speed." Kein Wunder, dass die Single von der BBC sofort boykottiert wurde.

Am allerwichtigsten aber war es in der Mod-Bewegung, ein "Face", also ein "Gesicht", zu sein, das dem strengen und manchmal wöchentlich wechselnden Outfit-, Tanz- und Geschmacksreglement perfekt entsprach oder noch besser: es mitbestimmte. Dieses Face-Ideal wurde von den beiden wichtigsten Bands der Mod-Bewegung, The Who und The Small Faces, perfekt verkörpert. Dabei waren es weniger Chuck Berry und Little Richard, die den Small Faces als Vorbilder dienten, als vielmehr Rhythm-&-Blues- und Soul-Bands wie Booker T & The MGs oder Ray Charles, Otis Redding oder Smokey Robinson, bei denen es ihnen der sämige Sound der Hammondorgel besonders angetan hatte.

Schon 1966 konnte die Mod-Bewegung dem Medien- und Vermarktungsdruck nicht mehr standhalten und verlor Schritt für Schritt ihre Stilautonomie: Die Small Faces, vergötterte Vorsänger der Mod-Szene, wandelten sich dem Zeitgeist entsprechend in Psychedelic-Rocker. Notorisch bankrott und von ihrem ersten Manager Don Arden mit windigen Entschuldigungen an der kurzen Leine gehalten, wurden sie 1967 von Andrew Loog Oldham, dem cleveren Stones-Manager, aus dem Vertrag mit Decca ausgelöst und wechselten zu Oldhams Immediate-Label, das mit dem lächerlichen Slogan warb: "Happy to Be a Part of the Industry of Human Happiness".

Immerhin erlaubte erst der neue Vertrag der Gruppe, nach Drei-Minuten-Hits im Stile von "Sha-La-La-La-Lee" oder "All Or Nothing" in ausgiebigen Studio-Sessions mit Bläsersätzen, Phasing-Effekten, Manipulationen der Bandgeschwindigkeit oder Naturgeräuschen impressionistische Hit-Dramen wie "Itchycoo Park" oder "Tin Soldier" zu entwickeln, von dem Konzeptalbum "Odgen's Nut Gone Flake" ganz zu schweigen. Es sollten die beiden produktivsten Jahre der Small Faces werden - bis am 1. Januar 1969 Steve Marriott die Band verließ. Ihre kurz darauf erschienene Single "Afterglow of Your Love" symbolisierte zugleich das Nachglühen einer zu Ende gegangenen Freundschaft: In den folgenden sieben Jahren sprach Marriott mit keinem seiner früheren Bandkollegen mehr. Die Small Faces waren nach nur vier Jahren Geschichte.

Dem kreativen Zenit der Band während ihrer Immediate-Periode 1967 bis 1969 widmet sich jetzt die auf dreitausend Exemplare limitierte Deluxe-Box "Here Come The Nice". Sie wurde betreut von den beiden überlebenden Musikern Kenney Jones und Ian McLagan und setzt neue Maßstäbe, was die Sorgfalt der Produktion, die Opulenz der Ausstattung und die Soundqualität der durchweg raren Aufnahmen angeht; dies zumal, wenn man bedenkt, wie viele billig gemachte Kompilationen und Neuauflagen von Small-Faces-Titeln den Markt schon überschwemmten. Die Box enthält fünfundsiebzig Aufnahmen - einundvierzig davon bisher unveröffentlicht - auf vier CDs, zwei opulente Textbücher, Poster, Fotos und Postkarten, Handzettel, Autogramme und drei farbige Vinyl-EPs, dazu die Nachpressung einer Acetate-Single mit dem unveröffentlichten, sehr seltenen "Mystery"-Song, einer Vorstufe von "Something I Want to Tell You".

Nie war Marriotts manirierter Gesangsstil eindringlicher als in diesen Aufnahmen. Er konnte sich weich und melodisch einschwingen und im nächsten Moment raspelnd-rauh und rabiat klingen. Auf der ersten Scheibe sind alle Mono-Versionen jener Songs der Immediate-Jahre enthalten, die auf Singles oder EPs veröffentlich wurden, in atemberaubend dynamischer, nie zuvor gehörter Klangqualität. Wenig bekannte Perlen wie "Green Circles" oder "I'm Only Dreaming" finden sich neben dem pastoralen "The Universal" und Krachern wie "Lazy Sunday" oder "Wham Bam Thank You Mam". Die einzelnen Instrumente sind klar lokalisierbar, ihre räumliche Staffelung wird exzellent abgebildet, Marriotts Stimme baut sich in ihrer ganzen Kraft und Wärme vor der Sound-Wand der Band auf.

Auf den beiden folgenden CDs finden sich Alternativ-Versionen, Studio-Experimente, Backing-Tracks und Overdub-Sessions, die einen konzentrierten Blick in den Maschinenraum der Small Faces erlauben - vom halbminütigen "Shades of Green" bis zur fast zehnminütigen Session namens "Saieide Mamoon". Man kann die Entwicklung eines Stücks wie "Tin Soldier" über die verschiedenen Etappen seiner melodisch-motivischen Erfindung im Detail nachvollziehen. Das fünfminütige "Mind the Doors Please" ist die einzige bekannte Instrumental-Nummer mit einem hochvirtuosen Schlagzeug-Solo von Kenney Jones, das fast an "Toad", die legendäre Glanznummer von Ginger Baker bei Cream heranreicht. Auch der alternative Mix des Party-Stompers "Wide Eyed Girl on the Wall" lässt keinen Fuß zur Ruhe kommen.

Die vierte CD enthält dann neue Mixe von "Itchycoo Park" oder ihrem großartigen Schwanengesang "Afterglow of Your Love". Endlich sind hier auch die fünf Live-Nummern aus der Newcastle City Hall (1968) von "Rollin' Over" über "If I Were a Carpenter" bis zu dem sengenden "All Or Nothing" in druckvoller, durchhörbarer Qualität veröffentlicht - ein Musterbeispiel für die rohe Kraft der Small Faces im Konzert.

Wie groß ihr Einfluss in der britischen Popszene bis heute ist, dokumentieren die beigegebenen Statements von Pete Townshend, Robert Plant, Paul Weller und David Bowie. Jugendliche Energie und eine Unbekümmertheit, die in ihrer aufreizenden Dissidenz zugleich unschuldig wirkte, waren die Quellen, aus denen die Small Faces ihre Inspiration schöpften. Sie waren die Protagonisten des "Swinging London", Botschafter des knalligen Fashion-Styles der Carnaby Street. Und Steve Marriott gilt noch heute als prototypischer Pin-up-Boy des Blue-Eyed Brit-Soul. Paul Weller, Sachwalter der Mod-Kultur, resümiert: "Ronnie Lane und Steve Marriott waren als Songwriter-Duo ihren Zeitgenossen um Meilen voraus."

PETER KEMPER.

The Small Faces, Here Come The Nice.

4 CDs, 3 EPs. Immediate/Charly 415181032 (BMG)

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