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  • EAN: 7619929015328
  • Artikelnr.: 28215841
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.05.2010

Gewürze, Grimassen und ein Katzenbuckel

Eher glasklar? Oder mit starken Farben? Oder wohldosiert? Nelson Freire, Yundi Li und Eugène Mursky haben Chopins Nocturnes eingespielt.

Zu den "Nocturnes" von Frédéric Chopin gibt es die unterschiedlichsten Ansichten. Denn der Titel ist das eine, die Form aber etwas anderes. Einerseits stellt man diese Stücke gern in die Tradition der romantisch-literarischen, aber auch der malerischen Nachtstücke, in die kein Tageslicht fällt: Von Märchen und Träumen erzähle diese Musik, heißt es dann, vom Mondlicht, von melancholischen Zuständen. Andererseits wird auf die musikalische Tradition der Notturnos hingewiesen, auf die Freiluftserenaden und Nachtmusiken.

Doch weder hat das eine mit dem anderen zu tun, noch gibt es Korrespondenzen in der Form. Dem Aufbau nach sind Chopins Nocturnes übersichtlich gefügte Charakterstücke in der (seit Adolph Bernhard Marx) sogenannten "dreiteiligen Liedform": auf A folgt B, dann wird der erste Teil reprisenhaft wiederholt. Sehr einfach, fast banal: Ein belkantischer Melodiebogen in der rechten, eine arpeggierte Begleitung in der linken Hand. Außerdem ist die A-B-A-Form so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner; allerhand andere Klavierstücke, die, zum Beispiel, den Titel Ballade, Berceuse, Etude oder später dann auch "Lieder ohne Worte" tragen, sind ganz ähnlich gebaut, weshalb zum Beispiel der famose irische Klaviervirtuose und Clementi-Schüler John Field, der als erster Komponist der Musikgeschichte einige seiner Klaviersachen mit dem Titel "Nocturne" versah, diese zunächst "Romanzen" genannt hat.

Chopin war der Zweite. Field schrieb achtzehn Nocturnes, Chopin schrieb einundzwanzig, wenn man die aus seinem Nachlass, die er selbst gar nicht "Nocturne" genannt hatte, mitrechnet. Die beiden lernten sich 1832 in Paris kennen, sie fanden sich offenbar nicht sonderlich sympathisch. Field nannte Chopin "ein Talent aus dem Krankenzimmer". Chopin seinerseits, der schon als Wunderjüngling in Warschau die brillanten Fieldschen Klavierkonzerte vorgetragen hatte, äußerte sich gar nicht zur Musik Fields, aber er sprach ja auch so gut wie nie über die eigene. Das taten andere dann umso ausführlicher. 1833 beschrieb der Musikkritiker Ludwig Rellstab in seiner Zeitschrift "Iris im Bereiche der Tonkunst" eine direkte Linie, die von Field zu Chopins ersten drei Nocturnes op. 9 geführt habe: "Wo Field lächelt, macht Herr Chopin eine grinsende Grimasse, wo Field seufzt, stöhnt Herr Chopin, Field zuckt die Achseln, Chopin macht einen Katzenbuckel, Field thut etwas Gewürz in seine Speise, Herr Chopin eine Handvoll Cayenne-Pfeffer." Obgleich Rellstab das durchaus parteilich meint, sich in diesem Kontext eindeutig für Fields angenehme, natürliche Züge und wider Chopins Unnatur ausspricht, steckt doch in seinen Beobachtungen einiger Scharfsinn. Zu starke Gewürze, Grimassen und ein Katzenbuckel: Damit sind all die Klirr- und Störfaktoren gemeint, die in den Chopinschen Charakterstücken abweichen von der Norm.

Zum Beispiel: Der Stillstand, der im pentatonisch gefärbten Des-Dur-Mittelteil des ersten Nocturnes op.9 Nr. 1 eintritt, oder der seltsame Septimenakkord, der dann ganz am Schluss des Stücks in der linken Hand kleben bleibt: wie ein Spleen, den man nicht mehr loswerden kann. Dass diese Dissonanz bis zum Schluss nicht aufgelöst wird, widerspricht allen Tonsatzregeln. Nelson Freire nimmt in seiner Neueinspielung sämtlicher Nocturnes das Tempo etwas zurück an dieser Stelle, er legt außerdem eigens eine antizyklische Betonung auf den vorletzten Akkord, vor dem finalen Arpeggio, damit das schmerzliche Fehlen jeglicher finaler Versöhnung auch richtig weh tut. Glasklar und durchsichtig ist Freires Chopin-Lesart, er spielt mit Besonnenheit, nachdenklich, fast zu nüchtern.

Dagegen geht sein chinesischer Pianistenkollege Yundi Li (er hat vor zehn Jahren den Chopinwettbewerb in Warschau gewonnen) ausgerechnet über diesen eklatanten Regelverstoß Chopins hinweg, als sei so etwas das Normalste von der Welt. Yundi setzt aber sonst grundsätzlich sehr viel großzügiger Tempodehnungen und -stauchungen als Stilmittel zur Gestaltung ein. Ebenso macht er üppig von Pedal- und Rubatospiel Gebrauch, selbst da, wo weder das eine noch das andere ersichtlich Sinn ergäbe. Ein Spiel mit starken Farben, das, bei aller Eloquenz und trotz seines schönen, ebenmäßigen Legatospiels, oftmals willkürlich wirkt: Weniger wäre da mehr.

Überhaupt ist die Frage der richtigen Dosierung gewiss die allerheikelste, gerade beim Chopin-Spiel. Geht es um Gefühlsverstärkung, um Demonstration von Ausdrucksqualitäten? Wie rasch rückt dann solch ein versponnen um sich selbst kreiselndes Nocturne, wie etwa das bekannte und höchst beliebte in Cis-moll, op. postum, in die Nähe von Salonkitsch! Und wie zerbrechlich ernst kann es klingen, wenn die gleichen Mittel sparsam und gezielt eingesetzt werden, jeweils der Rhetorik einer Phrase unterworfen.

Diese Qualität zeichnet nicht nur das Spiel Nelson Freires aus, man findet sie auch beeindruckend dargeboten von Eugène Mursky, der ebenfalls vor kurzem ein neues Album mit Chopins Nocturnes herausgebracht hat. Mursky stammt aus Taschkent, in jungen Jahren war er Lev-Naumov-Schüler, mithin ist er ein Spross der sogenannten russischen Schule. Obgleich er seit einigen Jahren schon in Deutschland lebt und erfolgreich konzertiert, auch mehrere CDs veröffentlicht hat (dieses Nocturne-Doppelalbum ist bereits die sechste Folge einer Chopin-Gesamt-Edition), blieb Mursky bislang größere internationale Anerkennung versagt, unverständlicherweise. Als Zugabe spielt er am Ende des Programms, zum Vergleich, das frühe Es-Dur-Nocturne op. 9,2 noch einmal, auf einem historischen Erard-Flügel, Baujahr 1854: heller, kürzer, etwas stumpfer der Klang als beim Steinway. Aber sonst: Kaum ein Unterschied! Es kommt eben doch mehr auf den Pianisten an als auf das Instrument.

ELEONORE BÜNING.

Frédéric Chopin, The Nocturnes. Nelson Freire. Decca 478 2182 (Universal).

Frédéric Chopin, Nocturnes. Eugène Mursky. Profil PH 04072 (Naxos).

Frédéric Chopin, Complete Nocturnes. Yundi Li. EMI 608391

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