Produktdetails
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.06.2019

Spiegel der Seele

Einmal mehr macht Cecilia Bartoli Salzburg durch ihre Pfingstfestspiele zur Opernhauptstadt der Welt. Dieses Jahr würdigt sie die Kunst der Kastraten.

SALZBURG, 10. Juni

Die Musik der Fröhlichen und Geschwätzigen mag erfreuen oder ermüden, die Musik der Traurigen zu denken geben oder trösten. Aber jenseits der Musik, die nur das Leben derer schmückt oder vertieft, deren Sprache ohnehin jene der Worte ist, gibt es eine Musik derer, die noch nicht, nicht mehr oder mit niemandem reden können. Es ist die Musik der Einsamen oder Stummen, der Verdrängten oder Unterdrückten, die Musik der Ungeborenen oder der Toten. Diese Musik erschüttert.

Der Hirt Aci in Nicola Porporas Oper "Polifemo" betet am Ende zu Zeus. Er betet, nachdem er umgebracht worden ist durch den Zyklopen Polifemo. Das Libretto von Paolo Antonio Rolli behauptet zwar, Aci sei auf Bitten seiner Braut Galatea in die Unsterblichkeit entrückt worden. Aber Aci singt als Toter zu uns und zu seinem Gott; er singt aus einer Finsternis heraus, die kein Licht erhellt.

Das Publikum der Salzburger Pfingstfestspiele hört diese Arie, die Porpora 1735 in London für den berühmten Kastraten Farinelli schrieb, gleich zweimal an einem Tag: erst in der Felsenreitschule, gesungen mit der jugendlich blühenden Stimme des Countertenors Yuriy Mynenko in einer hübsch verspielten Inszenierung durch Max Emanuel Cencic, zierlich zart geleitet von George Petrou. Dann, knapp vier Stunden später, noch einmal, am Ende einer langen Gala mit dem Titel "Farinelli and Friends", gesungen von dem Countertenor Philippe Jaroussky. Und er ist es, der nun das stärkste Ausdrucksmittel des Kastratengesangs einsetzt: das messa di voce. Auf dem Ton H lässt er, unbegleitet, die Lautstärke etwa sieben Sekunden lang an- und dann drei Sekunden abschwellen, um danach - noch auf dem gleichen Atem - schrittweise hinabzugleiten und nach einem Triller auf dem G schließlich den Grundton E zu erreichen. Das schnürt einem beim Hören Luft und Herz ab. Es ist zu viel; es ist zu schön, um noch erträglich zu sein. Danach braucht man Zeit, um mit dem Leben wieder gut Freund zu werden.

Der Kunst der Kastraten hat Cecilia Bartoli als künstlerische Leiterin der Salzburger Pfingstfestspiele die diesjährige Ausgabe gewidmet. Das ganze Programm wurde entwickelt aus der künstlerischen und wirtschaftlichen Konkurrenz zweier Komponisten in London: Nicola Porpora trat 1735 mit seiner Opera of the Nobility gegen den längst etablierten Georg Friedrich Händel mit dessen privater Opernkompagnie an und brachte vor allem den damaligen Star Farinelli gegen Händel in Stellung. Porporas "Polifemo" und Händels "Alcina" - mit dem Kastraten Carestini in der Rolle des Ritters Ruggiero - waren der kompositorische Auftakt dieses Duells, bei dem historisch niemand als Sieger vom Platz ging, sondern beide nach einem Jahr bankrott waren.

Cecilia Bartoli stellte die zwei Opern einander gegenüber. Und man muss, so eindringlich und erschütternd die Arie des Aci aus Porporas "Polifemo" auch ist und so unübertrefflich bezaubernd Julia Lezhneva die Partie der Galatea auch dahingezwitschert hat, "Alcina" als das viel stärkere Werk bezeichnen. Händel hat aus der Oper als einem Spektakel der Stimmen einen Spiegel der Seele gemacht. Er wusste als Komponist mehr über melodische Prägnanz, über den Kontrapunkt der Empfindungen und über den Kontrast der Szenen, der hinausgehen muss über den bloßen Kontrast von Brillanz und Rührung.

Damiano Michieletto hat Händels "Alcina" im Haus für Mozart inszeniert und dabei sehr geschickt die Erinnerung an das Genre der Maschinen- und Zauberoper, in das "Alcina" gehört, an den Anfang gestellt. Zur Ouvertüre betritt Cecilia Bartoli als Alcina die Bühne und gebietet - als Zauberin, die sie laut Libretto ja ist - über deren Technik, über Vorhänge, Kulisse und Licht, lässt auch den Zuschauerraum erleuchten und verzieht vor dem Anblick des Publikums das Gesicht. Dieser Blick macht Alcina zur Ahnfrau von Tennessee Williams' Blanche Dubois aus "Endstation Sehnsucht": "Ich sag dir, was ich will. Magie! Ja, ja, Magie! ... Mach das Licht nicht an!"

Alcinas Insel ist ein Luxushotel (Bühne: Paolo Fantin), die Zauberin die Eigentümerin, ihre Schwester Morgana mit Bubikopf und kleinem Schwarzen (Kostüme: Agostino Cavalca) die Hoteldirektorin. Alcina hält sich Männer als Lust- und Arbeitssklaven; vor allem paart sie sich unablässig mit Ruggiero, den sie seiner Freundin Bradamante ausgespannt hat. Aus der Zauberoper hat Michieletto, wie schon einige Regisseure vor ihm, darunter der großartige Pierre Audi, eine Parabel über das Altern gemacht: über die Melancholie einer Frau, die spürt, dass sie den begehrten Mann nicht halten kann; eine Vanitas-Meditation von umstandsloser Gegenwart, eine tieftraurige Ballade von der sexuellen Abhängigkeit.

Alcinas Thema ist das gleiche wie das der Gräfin in Wolfgang Amadeus Mozarts "Figaro" oder das der Marschallin im "Rosenkavalier" von Richard Strauss. Und wie bei Hugo von Hofmannsthal muss auch Cecilia Bartoli als Alcina beim Blick in den Spiegel den Gedanken aushalten, dass sie auch einmal "die alte Frau sein" wird. Zum Schluss sieht man sie, mit ausgerissenen Haaren und rußgeschwärzt, auf dem Boden liegen, von allen - erschrockenen Herzens - in den Dreck getreten. Michieletto gelingt es, mit eigenen Bildern erneut zu beschreiben, was bereits mancher Regisseur vor ihm an diesem Stück entdeckt hat: Dass Entzauberung und Schändung, Befreiung und Verödung, Aufklärung und Unglück miteinander verwachsen sind.

Die sängerische Besetzung - vom Orchester "Les Musiciens du Prince-Monaco" unter der Leitung von Gianluca Capuano überaus sensibel, mit Mut zu langsamen Tempi, ohne das Peitschen und Schrubben des Originalklangfanatismus getragen - lässt sich kaum überbieten. Kehlfertig und darstellerisch agil verblüfft Sandrine Piau als Morgana. Warm timbriert, virtuos koloraturfähig nimmt Kristina Hammarström als Bradamante für sich ein. Der Knabensopran Sheen Park als Oberto bringt durch seine Kraft und Kühnheit das Publikum zur Raserei. Jaroussky zeigt ungewöhnliche, gelegentlich schneidend scharfe Brillanz als Ruggiero, dann wieder jene androgyne, fast kindliche Lyrik, die seine kostbarste Gabe ist.

Cecilia Bartoli bleibt die Meisterin der lodernden Koloratur und des glühenden Pianissimo. Sie vereint dramatisches Temperament, vokale Hochseilartistik, umfassende Bildung des Herzens wie des Geistes, Zugewandtheit zum Publikum und uneitle Kollegialität. Sie ist und bleibt, wie Rolando Villazón, dieser herzensgute, kluge Clown, sie in seiner Moderation der Gala "Farinelli and Friends" nennt: "La brillantissima".

Ihr Glanz ist so groß, dass sie das Gleißen der anderen befeuern kann: der jungen, durchdringend schön timbrierten Sopranistin Lea Desandre als Abel und des umwerfend strahlenden Countertenors Christophe Dumaux als Kain in Antonio Caldaras Oratorium "La morte d'Abel", dessen staunenerregendes Libretto von Pietro Metastasio in der Durchdringung von Theologie und Psychoanalyse bereits literarische Verfahren von Fjodor Dostojewski um hundertdreißig Jahre vorwegnimmt. Durch diese konzentrierte, entdeckerfreudige Arbeit an der Kunst, zu der auch ein Podiumsgespräch - zwischen Jürgen Kesting, Jochen Kowalski, Corinna Herr und Bernhard Richter - über das ebenso barbarische wie faszinierende Phänomen des Gesangs kastrierter Männer gehört, hat Cecilia Bartoli Salzburg für vier Tage wieder zur Welthauptstadt der Oper gemacht. Glücklich all jene, die für die bereits ausverkauften Wiederaufnahmen von "Alcina" im Sommer schon Karten haben!

JAN BRACHMANN

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr