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Produktdetails
Trackliste
CD
138600:04:43
2Hocus Pocus00:03:30
3Sticks 'N' Stones00:04:00
4The Man's Machine00:04:50
5Emily's Heart00:04:07
6Chaka Demus00:03:34
7Spider's Web00:04:44
8Castro Dies00:02:59
9Earth, Wind And Fire00:03:45
10British Intelligence00:03:18
11Jilly Armeen00:03:13
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.11.2009

Rotzlöffel aus Wimbledon
Jamie T hält sich für den neuen Bob Dylan

Jamie T trinkt sein drittes Bier an diesem Nachmittag. Im Mund hängt ihm eine Benson&Hedges, die Füße liegen fast in der Obstschale, die auf dem kleinen Glastisch im Interviewzimmer steht; der Rest seines Körpers hängt schief und lümmelig in der Sitzgruppe. Wenn Jamie T spricht, tut er dies mit demselben bollerigen Hochhaus- und Pommesbuden-Akzent, der auch die Songs dieses Burschen aus Wimbledon wie straßenerprobte Botschaften aus dem Londoner Alltag klingen lässt. Immer wieder rülpst er, zieht die Nase hoch und lacht höhnisch durch seine krummen Zähne.

Bei jedem anderen könnte das leicht wie eine dämliche zwangsvulgaristische Halbstarken-Pose wirken. Jamie T aber möchte man am liebsten packen und eine von Sozialtragik durchwehte britische Arbeiterklassenkomödie mit ihm drehen - weil es scheint, als hätte dieser dreiundzwanzigjährige Lümmel das Herz auf dem rechten Fleck, weil seine im Schlafzimmer zusammenmontierte Musik so frisch klingt, dass man geneigt ist, sie für etwas Neues zu halten, und weil er so ungeschützt daherschwadroniert, wie man es von den ganzen, hochgradig selbstreflektierten Angsthasen-Musikanten, die ansonsten derzeit das Indie-England repräsentieren, nicht kennt.

"In England langweilen sich alle zu Tode", nölt er durch chronisch verstopfte Nebenhöhlen. "Mit Langeweile kommen viele sehr schlechte Sachen. England ist gerade extrem öde, aber aus dieser Ödnis kann, um es positiv zu sehen, nur etwas Neues, Großartiges entstehen. Es ist ein ganz natürlicher Prozess: Etwas bricht zusammen, und etwas Neues entsteht, ich glaube, an so einem Punkt sind wir gerade. Aber im Moment ist es nur sauöde."

Soeben ist das zweite Album von Jamie Treays, wie er bürgerlich heißt, erschienen. Das vor zwei Jahren veröffentlichte Debüt "Panic Prevention", das er mit seinem Freund Ben Bones kostengünstig zu Hause aufnahm, schrieb er noch als Teenager im heimischen Jugendzimmer. Entsprechend verwirrt war er, als dann der große Erfolg über ihn hereinbrach: Der Song "Calm Down Dearest" wurde ein Top-10-Hit, das Album vergoldet, und für den prestigeträchtigen Mercury Award war er auch noch nominiert. Mancher, der damals zu einem seiner Konzerte ging, rechnete mit einer Bauchlandung des hochgejubelten Debütanten, doch die Shows gehörten zum Mitreißendsten, was man in den letzten Jahren auf der Bühne erleben konnte - auch wenn seine Band, bestehend nur aus "best friends", den Eindruck einer wandelnden Selbsthilfegruppe für Gras- und Playstation-süchtige Kapuzenpulliträger erweckte.

Jamie T hört am liebsten alte Musik, mit neuen Sachen hat er wenig am Hut. Auf die Frage, warum dies so sei, antwortet er nur: "Weil das meiste Schrott ist." Auch Hip-Hop, das Genre, dem er immer noch unsinnigerweise zugeordnet wird, interessiert ihn nicht mehr allzu sehr. Zudem hat Jamie T gerade einen neuen Lieblingsrapper entdeckt: Bob Dylan. "Ich liebe seine ersten drei, vier Alben, die habe ich komplett aufgesaugt. Was mich daran so umhaut, ist, dass er so dreist, so vorlaut und so jung ist. Er verarscht sie alle, aber die Leute kapieren die Ironie bei Dylan ja meistens nicht. Er hat die Situation, in der er sich damals befand, genau durchschaut: Er sollte ein Sprachrohr sein. Und damit hat er gespielt. Ich liebe die Vorstellung, dass niemand genau weiß, wer Bob Dylan eigentlich ist." Dann singt er erst einmal, sich selbst mit Oberschenkel-Schlagzeug begleitend, seinen Lieblingssong, den "Bob Dylan Blues". Nach Beendigung des Vortrags wird das nächste Bier geköpft.

Auf der Basis seiner Einflüsse - The Clash, alter Ska und Rocksteady, Billy Bragg, Hip-Hop, Post-Punk und Dylan - hat er nun auf seinem zweiten Album "Kings & Queens" dem Londoner Alltag abermals ein paar wunderbar schnodderige Stücke abgetrotzt, gegen die sich die Songs so unterschiedlicher britischer Pop-Helden wie Franz Ferdinand, Pete Doherty oder The Streets wie Biertrinker-Musik für untersetzte Pub-Langweiler ausnehmen. Beiläufigkeit und Dringlichkeit sind in diesen Stücken keine Gegensätze mehr. Manches klingt, als wäre es zwischen zwei Schlachten an der Spielkonsole im Schlafzimmer aufgenommen worden, was vermutlich sogar der Fall ist.

Jamie Ts zweites Album ist ein Glücksfall für die Popmusik: frische, junge rotzlümmelige Musik, die sich aus alten Einflüssen speist und von dem Wissen lebt, dass vieles Alte jünger ist als manches Neue, und die im Jetzt stattfindet - der Soundtrack für Schulhof-Mobbing, Prügeleien an der U-Bahn-Haltestelle und vergeigte Liebesgeschichten.

Allein die erste Single "Sticks And Stones", ein atemloser Hetzer zwischen Indierock und Hip-Hop mit einem absoluten Killer-Refrain, übertrifft mit Leichtigkeit alles, was in diesem Jahr bislang aus England zu hören war. Die zweite Single, "Chaka Demus", der Song zur britischen Ödnis, ist fast genauso gut: "A lot of people around here / lost the whites in their eyes", nölt Jamie T, und man mag nicht dazugehören.

Man hat versucht, Jamie T der profanitätslüsternen England-Pop-Welle um Leute wie Kate Nash, Lily Allen oder Just Jack zuzuschlagen oder ihn als rustikalere Version des ebenfalls straßenklugen Mike Skinner alias The Streets zu begreifen - viel mehr als einen zünftigen Akzent hat er mit Letzterem jedoch nicht gemein. Wo aber verortet Treays sich selbst künstlerisch, wenn er doch mit heutiger Musik nichts anfangen kann? Man hatte es geahnt: Dies kann nicht der Maßstab eines Künstlers sein, der soeben Bob Dylan als Helden entdeckt hat.

"Ich will nirgendwo dazugehören. Das war schon immer so: Als ich fünfzehn war, gab mir ein Freund eine Desmond-Dekker-Platte. Ich war mitten in der Pubertät, hörte dieses Zeug und bin durchgedreht! All meine Schulkameraden rannten in Nirvana-Shirts rum, und ich habe von Ska gepredigt - das macht einfach viel mehr Spaß. Aber ich versuche durchaus, den Anschluss zu finden. Noch habe ich es nicht geschafft, aber das klappt schon noch." Man wünscht ihm fast, er möge immer hinterherhängen und den anderen dabei musizierend um Längen voraus sein.

ERIC PFEIL

Jamie T, Kings & Queens. Virgin 1627672 (EMI)

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