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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.01.2023

Jenseits des Paradieses

DARMSTADT Vor starken Bildern fällt Karsten Wiegands Darmstädter Neuinszenierung der Oper "La Traviata" von Giuseppe Verdi musikalisch uneinheitlich aus.

Von Axel Zibulski

Als die Stimmung auf dem Fest ihren Höhepunkt erreicht hat und alle Giuseppe Verdis unverwüstliches Trinklied anstimmen, legt sich Alfredo Germont das Violett der Fastenzeit an und hebt den Kelch, als wäre Messwein darin. Es wird nicht lange dauern, bis dieser Anmaßung ein behutsamerer Umgang mit religiösen Symbolen folgt. Denn Violetta, die Titelfigur in Giuseppe Verdis Oper "La Traviata", ist todkrank, riesige Röntgenbilder von ihrer tuberkulösen Lunge lassen daran keinen Zweifel. Und so geht sie schon in der Partywelt des ersten Aktes, wie ihn Intendant Karsten Wiegand im Staatstheater Darmstadt in seiner Inszenierung von Giuseppe Verdis 1853 in Venedig uraufgeführtem Melodramma zeigt, auf Distanz, singt ihre Koloraturen auf dem Steg vor dem Orchestergraben.

Es sind ausgeprägte, kräftige, vielfach christlich konnotierte Bilder, die Wiegand, wie schon in seiner Inszenierung 2011 am Nationaltheater Weimar, dem recht diesseitigen Treiben entgegensetzt, das in Francesco Maria Piaves Libretto auf dem Roman "La Dame aux camélias" von Alexandre Dumas beruht. Als sich Violetta, die Pariser Kurtisane, mit Alfredo aufs Land zurückzieht, dominiert ein riesiges Gemälde mit Paradiesmotiven von Hieronymus Bosch die weit geöffnete Bühne des Darmstädter Großen Hauses; ebenso ragen die Bäume des Lebens und der Erkenntnis in die Szene. Sogar eine drollige hölzerne Schafherde ziert den himmlischen Ort, den Violetta hier kurzzeitig findet. Das Glück bleibt bekanntlich nicht von Dauer, Alfredos Vater gelingt es, sie der Familienehre wegen zum Verzicht auf die für seinen Sohn nicht standesgemäße Beziehung zu bewegen. Verdi schreibt dem Vater dafür die empfindsamste Arie der Oper zu, in Wiegands Sicht könnte der Verzicht auch dadurch motiviert sein, dass Violetta im Vater den Sohn erkennt, den sie liebt und der ihm hier fast täuschend ähnlich sieht.

So wird die Inszenierung von ihren Bildern nicht nur ausgestattet, sondern vorangetrieben, wobei die Bildersprache immer verstörender ausfallen darf. Als Violetta in die Pariser Gesellschaft zurückkehrt, trägt der Chor Clownsfratzen. Sie selbst ist mit einem Stierkopf in den Händen aufgetreten und wird, wie im Siechtum auf dem Boden liegend, mit dem sterbenden Tier visuell verglichen - auch in diesem Kampf dominiert der Mann. Der dritte Akt, ihr Sterben und ihre versöhnliche Wiederbegegnung mit Alfredo, kann sich vor diesem Hintergrund nur noch in der Sphäre des Traums entwickeln.

So reich an Assoziationen Wiegands Regie in seinem eigenen Bühnenbild und mithilfe der klassischen Eleganz von Alfred Mayerhofers Kostümen auch ausfällt, wirkt sie dennoch nie statisch, hält vielmehr das fatale Geschehen auf der weit offenen Szene so unausweichlich im Fluss, wie es in der Premiere auch Johannes Zahn, dem ersten Kapellmeister des Staatstheaters Darmstadt, gelang. Der 1990 geborene Münchner, 2020 als zweiter Preisträger beim Frankfurter Dirigentenwettbewerb Sir Georg Solti erfolgreich, setzte der Bildmacht der Inszenierung eine häufig feine, zurückgenommene und verinnerlichte Orchesterbegleitung entgegen. Einzelne Unschärfen in der Abstimmung zur Bühne, vor allem im Zusammenwirken mit den Herren des Darmstädter Opernchors, korrigierte er flexibel. Gut korrespondierte der Ansatz des Dirigenten, der die Premiere in Vertretung für den erkrankten Darmstädter Generalmusikdirektor Daniel Cohen übernommen hatte, mit dem Profil, das die israelische Sopranistin Hila Baggio der Violetta verlieh. Dem etwas zu kurz gekommenen Figurationen-Furor des ersten Akts ließ sie eine ausgereifte Innenschau dieser Figur folgen, die im letzten Akt gewiss nicht nur das auf der Bühne ausinszenierte Mitleid ihrer Freundin Flora Bervoix (Solgerd Isalv) erregte. Daneben gelang es dem kolumbianischen Tenor Andrés Agudelo, Ensemblemitglied des Staatstheaters Kassel, mit einer Fülle nichtssagender Gesten und tenoral schablonenhaftem, oft forciert wirkendem Ansatz nicht, auf Augenhöhe zu gelangen. Nobler im Klang, aber nicht unbedingt vielseitiger in der vokalen Gestaltung legte der georgische Bariton Aluda Todua die Partie des Vaters Giorgio Germont aus, während die kleineren Solopartien der Gesellschaftsszenen zuverlässig mit Mitgliedern des Staatstheaters Darmstadt besetzt waren.

La Traviata Staatstheater Darmstadt, nächste Vorstellungen am 5., 10. und 25. Februar sowie am 3., 16. und 26. März.

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