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Produktdetails
Trackliste
LP
1Margit Hjuske00:03:24
2Lilja00:05:08
3Byssan lull00:02:58
4Sæterjentens Sondag00:04:58
5Maria durch den Dornwald ging00:04:42
6Gjendines bådnlåt00:05:46
7Last Spring00:05:52
8Til ungdommen00:03:39
9Blåmann00:04:55
10Wiegenlied00:03:10
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.12.2012

Ein Haus mit durchbrochenen Wänden

Der schwedische Jazzpianist Martin Tingvall und der norwegische Geiger Henning Kraggerud wandeln auf den Spuren Edvard Griegs und entdecken eine Musik, die keine Trennung nach Genres kennt.

Kaum ist die Plattheit in der Welt, wird sie auch schon zum Werbeslogan. Martin Tingvall, so sprach Udo Lindenberg, sei "der Edvard Grieg des Jazz". Das steht jetzt auf der Website des schwedischen Pianisten, der sein neues Album "en ny dag" ("Ein neuer Tag") ganz allein bestreitet, ohne seine beiden Trio-Kollegen Omar Rodriguez Calvo und Jürgen Spiegel.

"Edvard Grieg des Jazz" ist ein weißer Schimmel und ungefähr so geistreich wie "Erik Satie des Chansons" oder "Frédéric Chopin des Folk". Wie Chopin die Musik polnischer Dorfsackpfeifer aufgriff und Satie schlüpfrig verschmuste Lieder fürs Cabaret komponierte, so darf man Edvard Grieg zu den wichtigsten Quellen des Jazz zählen. Die Nummer fünf aus den "Neunzehn norwegischen Volksweisen" op. 66, eine langsame Moll-Ballade mit dem Titel "Es war in meiner Jugend", klingt wie eine Prophezeiung von Sonny Burkes "Black Coffee": voll verrauchter Alterationsakkorde und Blue Notes. In Norwegen weiß man das längst.

Der Saxophonist Arne Domnérus hat mit seinem Quartett schon 1986 eine Platte mit dem drolligen Titel "Blåtoner fra Troldhaugen", ("Blue Notes aus Troldhaugen") herausgebracht. Sie enthält elf Jazz-Arrangements von Grieg-Stücken. Vor fünf Jahren spielten der Pianist Dag Arnesen, der Bassist Terje Gewelt und der Schlagzeuger Pål Thowsen beim norwegischen Label Resonant Music eine Version von Griegs zauberhafter "Arietta" aus den "Lyrischen Stücken" op. 12 ein, die Bill Evans hätte ausgetüftelt haben können. Was Jazz sein soll - und vor allem was nicht -, ist ja ohnehin immer schwieriger zu definieren. Improvisation könnte ein wichtiges Kriterium sein. Aber dann wären die "Children's Songs" von Chick Corea, fix und fertig auskomponiert, kein Jazz mehr.

Fertigkomponiert sind auch die vierzehn kurzen Stücke, die Tingvall auf dem Album "en ny dag" versammelt hat. Sie stehen Coreas "Children's Songs" gleichermaßen nahe wie Griegs "Lyrischen Stücken", ohne allerdings unmittelbar daraus zu zitieren. Es ist eher die in der nordeuropäischen Kunst häufig zu beobachtende Nähe zum Kleinen und Kindlichen. Man denke an das rührende Gemälde "Hyazinthen und Spielzeug", auf dem Griegs Zeitgenosse Oluf Wold-Torne um 1900 den Teddy und das Plüschäffchen seiner kleinen Tochter festhielt. "Wenn die Kinder schlafen" heißt auch eine der Miniaturen Tingvalls, dessen Freunde in Kenia einen Kindergarten aufgebaut haben.

Bei den übrigen Stücken kann man Bezüge herstellen zu afrikanischer Xylophon-Musik oder zu den Modellen des Springtanzes, Kuhreigens und Wiegenliedes aus Griegs norwegischen Volksliedbearbeitungen. "Der letzte Tanz des Abends" ist dagegen eine Valse mélancolique, wie von Wladimir Rebikow um 1890 in Moskau komponiert. Zugleich berühren sich die ruhigeren Stücke Tingvalls mit der innerlich erfühlten und erfüllten Ereignislosigkeit der "Weißen Musik" aus dem im Jahr 2009 vollendeten Klavierzyklus "Die Jahreszeiten" von Peteris Vasks.

So liegt Tingvalls "en ny dag" also am Kreuzungspunkt mehrerer Traditionslinien: der Neigung skandinavischer Kunst zum Alltagsnahen, der rhythmischen Lebhaftigkeit Afrikas, und der baltischen Post-Avantgarde als Ausstieg aus dem in die Jahre gekommenen Wettbewerb der "neuen Musik" um Materialerweiterung und Informationsverdichtung. Tingvalls Lyrik bemüht sich, unser Zutrauen ins Unscheinbare zu stärken - in das, was uns jenseits der großen Parolen und Spektakel trägt. Ob das nun Jazz ist oder eine zeitgemäße Form der Salonmusik, erscheint dabei als zweitrangig.

Per Boye Hansen, vormals Intendant der Festspiele in Bergen, jetzt Intendant der Oper Oslo, erzählte in diesem Frühjahr, dass eine solche Spartentrennung beim nordeuropäischen Publikum keinerlei Resonanzboden finde. Bei den Künstlern ebenso wenig - man hat es an der schwedischen Mezzosopranistin Anne Sofie von Otter längst bemerkt. Auch der norwegische Schlagzeuger Hans-Kristian Kjos-Sørensen kann im Konzert Stücke von John Cage oder Georges Aperghis spielen und bruchlos übergehen zu Kabarett und Jazz.

Henning Kraggerud, der zu den führenden Geigern Norwegens gehört, lebt musikalisch ebenfalls in einem Haus mit durchbrochenen Wänden. Im Frühjahr noch brachte er ein Album mit nationalromantischen Miniaturen für Violine und Orchester heraus, von Jean Sibelius, Wilhelm Stenhammar, Ole Bull und Christian Sinding (Naxos 8 572827). Für Letzteren setzt sich Kraggerud besonders ein, da dessen Musik wegen Sindings Bekenntnis zu Adolf Hitler, abgelegt in einem Zustand geistiger Umnachtung, in Norwegen lange Zeit nicht wohlgelitten war. Für seine neueste CD hat sich Kraggerud mit dem Jazzpianisten Bugge Wesseltoft zusammengetan. "Last Spring" heißt sie - nach dem berühmten Lied "Våren" von Grieg, das von einem Menschen handelt, der weiß, dass er den Frühling zum letzten Mal sieht. Hier wird improvisiert über Vorlagen von Grieg, Bull und Johannes Brahms. "Gjendines Wiegenlied", wieder so ein jazzakkordhaltiges Faszinosum aus Griegs "Volksweisen", taucht ebenso auf wie das deutsche Weihnachtslied "Maria durch ein Dornwald ging".

Kraggerud spielt zu Wesseltofts kaschmirweichem Klavierklang auf der Geige, der Bratsche und einer sechssaitigen Viola concorda, manchmal mit heiser knurrender Wärme, manchmal nebeltrüb leuchtend. Die Musik verkriecht sich in sich selbst, wie sich die Menschen im Herbst in ihre Wohnungen verkriechen. Unscharf sind die Anfänge, offen die Enden. Vertraute Gestalten gewinnen erst nach und nach Kontur. Man hört den Melodien zu, wie sie allmählich aus der Erinnerung wiedergeboren werden. Beim Improvisieren entstehen Freiflächen des Schweifens und Schleifen unregelmäßiger Phrasen, die mittels motivischer Arbeit genau diese wiederum als logischen Prozess ad absurdum führen.

Nächst den Schwanzfedern des Argushahns sei der Arbeitseifer des modernen Menschen die dümmste Erfindung der Evolution, hat Konrad Lorenz einmal bemerkt. "Last Spring" schüttelt gelassen den Kopf zum Aktionismus der ewigen Aufbrüche und plädiert für eine Weisheit des Nichtstuns.

JAN BRACHMANN

Henning Kraggerud, Bugge Wesseltoft: Last Spring.

ACT 9526-2 (edel)

Martin Tingvall: en ny dag.

Skip records SKP 9117-2

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