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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.2023

Des Erlösers Menschwerdung
Rundum gelungen: Richard Wagners "Lohengrin" / Von Holger Noltze, Amsterdam

Kein Schwan, wieder nicht. Dieser Lohengrin kommt, Horn und Schwert zur Seite baumelnd, über das erlösungsbedürftige Volk von Brabant wie eine Verlegenheit. Und wie eine Negation all der Wunder, von denen das Vorspiel, das Lorenzo Viotti annähernd dal niente aus dem weit offenen Graben beachtlich unverschwommen realisiert, klingend eine Ahnung gegeben hatte. Franz Liszt, der die Uraufführung des "Lohengrin" 1850 in Weimar dirigierte, fand in diesen 75 Takten "gleichsam nur eine magische Formel, die, wie eine mysteriöse Einweihung, unsere Seelen für ungewöhnliche Dinge, die von höherer Bedeutung sind als unser irdisches Leben, vorbereitet".

Genau dies aber, Einweihung in höhere Mysterien, Abkehr von den Dingen des irdischen Lebens, interessiert einen Regisseur wie Christof Loy natürlich nicht, sondern ebendies: das Irdische. So betörend schön die Musik alle Herrlichkeiten um den "Gral" als Vorklang von Erlösung hervorzaubert: Zu sehen ist er nur auf den herangezoomten Gesichtern des hier divers und heutig gedachten Volks, als Erwartung. Loy ist ein Psychologe der kleinen Gesten, er will wissen, was die Menschen treibt und was sie unglücklich macht. Wenn die Musik es erlaubt, lässt er Tänzerinnen und Tänzer über die fast immer leere Bühne rennen, junge Paare, sie setzen die Flüchtigkeit und Widersprüchlichkeit alles Zwischenmenschlichen in Gesten und Bewegung um, wie eine Vervielfältigung des Dramas von Elsa und dem unbekannten Ritter, das vom ersten Moment an ein Endspiel ist.

"Lohengrin" erzählt von der Begegnung des Numinosen mit dem Menschlichen und dass sie nicht gelingt. Es ist Wagners pessimistischstes Stück, aber hatte der erst masseneuphorisch begrüßte, mutmaßliche Retter der des Brudermords bezichtigten Elsa und Erlöser des Volks von Brabant je einen traurigeren Abgang als hier Daniel Behle, klang das finale, kollektive "Weh!" wuchtiger, schmerzhafter? Viel hängt dabei an diesem außerordentlichen Sänger, der kein Stentor-strahlender Mann vom Gral ist, aber auch keine Fiktion knabenhafter Reinheit. Behle, der die Partie zum ersten Mal 2019 in Dortmund probiert und sich anverwandelt hat, setzt seinen Schmelz, seine Kunst der farbigen Piani und Voix-mixte-Zaubereien ein für eine anrührend wahrhaftige Menschendarstellung. Ein Melancholiker, einer, der den Zweifel schon mitbringt, nicht erst wenn Elsa fragt, was sie nicht fragen soll. "Elsa, ich liebe dich": In das scheue erste Miteinander schlagen die drei großen Worte bestürzend schnell ein, es ist auch die Bitte um absolutes Vertrauen, eine schöne Idee - und eine schwere Hypothek. Es geht ja dann, nachdem die süßen Hochzeitsklänge verhallt sind, sehr schnell gar nicht gut.

Die schwedische Sopranistin Malin Byström singt Elsa mit dunklem Timbre, schön strömend, gelegentlich auf Kosten der Wortverständlichkeit, doch macht sie eindrucksvoll klar: Das hier ist ihr Drama, und ihre Transformationen sind mehr als Kostümwechsel: von der verhuschten Außenseiterin im Trenchcoat, versteckt hinter Sonnenbrille und Kopftuch zu Beginn, verspielt im roten Kleid, als alles Glück möglich scheint, schreitend im weißen Brautkleid mit überlanger Schleppe, und am Ende ein Déjà-vu des Anfangs. Lohengrin stirbt, er schafft es nicht mehr zurück in den öden Wintermärchenwald, aus dem er in diese Welt gekommen war, der jugendliche Gottfried steht als neuer Anführer ratlos vor den Leuten von Brabant; der Nächste bitte, es hört nie auf, weh.

Anthony Robin Schneider, König Heinrich, dröhnt nicht. Bjorn Bürger wertet die Partie des Heerrufers auf, stimmlich stark und als ein rätselhaft teilnehmender, ja obsessiver Beobachter. Und das Gegenpaar? - Thomas Johannes Mayer als Telramund muss hier und da in die Deklamation retten, was an sängerischer Durchschlagskraft fehlt; Martina Serafin singt eine gut fokussierte Ortrud, begabt mit den Künsten der Verführung zum Finsteren, wo es sein muss, auch schneidend. Die Bühne, entworfen von Philipp Fürhofer, ist riesig und leer, eine Industriehalle von sakraler Düsternis, Variationen in Bleigrau wie von Anselm Kiefer. Die Rückwand erscheint ein wenig perforiert, eine Ahnung von Licht. Wenn Lohengrin erscheint, fährt die Wand hoch, es ist ein Fenster der Gelegenheit, mehr nicht, und schließt sich wieder.

Es ist Lorenzo Viottis erster Schritt ins Wagnerfach, und das Nederlands Philharmonisch Orkest folgt seinem jungen Chefdirigenten engagiert bis in die Feinheiten der Partitur. Nicht weniger als sensationell: der von Edward Ananian- Cooper vorbereitete Chor. Dieser "Lohengrin" hat Flow und Struktur, Viotti nimmt sich Zeit, pflegt schwelgerischen Wohlklang gerade im Zarten und facht dann wieder, im ersten und dritten Finale, einiges Feuer an. Wer ihm in den sozialen Medien folgt, oberkörperfrei auf dem Lotterbett, mag Viotti für einen Poseur halten oder hat keine Ironiesignale entdeckt. Auch an diesem Abend sehen wir einen Hang zur eleganten, großen, dann wieder demonstrativ winzigen Geste, dann zur ostentativen Musik- und Weltumarmung. Doch wäre es kurzsichtig, das Selbstmarketing des Dirigenten Viotti mit dem klingenden Resultat seiner Arbeit zu verwechseln. Amsterdam kann sich über einen szenisch intelligenten, musikalisch erstklassigen neuen "Lohengrin" freuen.

Eine Andeutung von Schwan gibt es doch: ein als lebendes Bild choreographiertes Flügelpaar. Schön, aber nur eine Idee. Damit geht's nicht nach Montsalvat.

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