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  • Hersteller: Myto,
  • EAN: 0801439950078
  • Artikelnr.: 54604013
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.05.2022

Das Mädchen aus dem stählernen Nordosten

Simon Stone verlegt "Lucia di Lammermoor" an der Met ins Industrieruinenland.

Von Patrick Bahners, New York

Sir Walter Scott war der intellektuelle Schutzpatron der "Quarterly Review", die sein Verleger John Murray 1809 gründete, um der "Edinburgh Review" ihr Monopol auf Literaturkritik zu nehmen. In der sieben Jahre älteren Zeitschrift demonstrierten Musterschüler der Philosophen der schottischen Aufklärung ihren Freiheitssinn durch den Willen zum Verriss, unter einem lateinischen Motto, wonach der Richter verdammt wird, der den Schuldigen freispricht. Für den anonymen Rezensenten der "Quarterly Review", der 1821 die neuesten Romane des produktiven Scott auf den Schreibtisch bekam, dürfte es Ehrensache gewesen sein, an diesen Prosaepen, die nach inzwischen bewährtem Schema ihre Stoffe dem großen Gang der britischen Gesellschaftsgeschichte entnahmen, im Kleinen auch etwas auszusetzen.

In "The Bride of Lammermoor", erschienen 1819, entwickelt sich die tragische Liebesgeschichte aus dem Bürgerkrieg zwischen Anhängern und Gegnern der Stuarts vor dem Hintergrund des Wandels der Produktionsverhältnisse und der politischen Sitten. Lucy Ashton verlobt sich heimlich mit Edgar, Master of Ravenswood, dem ihre Aufsteigerfamilie die Ländereien abgenommen hat. Edgar bemüht sich nicht nur auf dem modernen Weg einer Berufungsklage vor dem Oberhaus um die Wiedererlangung seines Erbes, sondern konsultiert auch drei Klageweiber, die ihn an die Hexen aus "Macbeth" erinnern. Prompt weissagen sie ihm einen geheimnisvollen Tod. An diesem metaphysischen Ornament im Historienroman nahm der Kritiker Anstoß: "Es ist nicht das Geschäft von Geistern, Hypothekenschuldnern oder Hypothekengläubigern zu erscheinen."

Als Salvadore Cammarano die Handlung von Scotts Roman für das Libretto von Gaetano Donizettis 1835 in Neapel uraufgeführter Oper zusammenstrich, entsprach das Resultat diesem unheilsökonomischen Merksatz: Er sparte den gesamten juristischen Komplex ein und setzte die schwarzseherischen Botinnen vor die Operntür. Simon Stone, der aus Basel gebürtige, in Australien ausgebildete Regisseur hat an der Metropolitan Opera in New York das Stück jetzt aus dem Schottland des späten siebzehnten Jahrhunderts ins Amerika des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts verlegt, genauer gesagt in die verfallenden Industrieregionen im Nordosten der Vereinigten Staaten, die mit dem poetischen Namen des Rostgürtels zusammengebunden werden. Wie vor zweihundert Jahren der keltische Rand der lateinischen Zivilisation, so ruft heute diese Landschaft ein festes Ensemble pittoresker Ruinenmotive vor das geistige Auge der lesenden Bürger jener Großstädte, die sich noch Opernhäuser leisten können.

Von dem, was die Hochzeitsgesellschaft von Lucy Ashton zu hören bekommt, nachdem sie auf den Bräutigam eingestochen hat, den sie statt ihres selbst gewählten Verlobten hat heiraten müssen, ist im Roman nur ein einziger artikulierter Satz überliefert, aus dem Cammarano und Donizetti den berühmtesten Wahnsinnsmonolog der Opernliteratur gestrickt haben. Den Zuckungen machte der Tod ein Ende, schreibt Scott, "ohne dass sie fähig gewesen wäre, ein Wort zur Erklärung der fatalen Szene herauszubringen". Stone reicht dieses Wort mit seinen Mitteln der Bildsprache nach, möchte den Fatalismus des Plots soziologisch ausbuchstabieren.

Sein Einfall mit dem Austausch des Lokalkolorits überzeugt auf Anhieb. Denn uns Heutigen stellt sich der Optimismus, mit dem Scotts geneigter Rezensent ihm 1821 die Austreibung der Geister aus der Geschichte der Rechtsgeschäfte nahelegte, als der wahre Aberglaube dar, als übermäßiges Vertrauen in die unsichtbare Hand von Adam Smith. Die Kulturwissenschaft hat das Gespenst des Kapitals aufgestöbert, dessen unsichtbare Kralle auf der Schulter der Marktteilnehmer diese auch ohne College-Abschluss dämonologisch klassifizieren können: Das Kapital wird als gespenstisch erlebt, weil seine Macht nur umso stärker zu spüren ist, wenn es sich verflüchtigt hat. Der Zusammenbruch des Hypothekenkreditwesens im Zuge der Finanzkrise hat den Rostgürtel in eine Ansammlung von Geisterstädten verwandelt - wobei man diesen Begriff in Umkehrung seines aus der mythischen Geschichte der ewigen Westverschiebung der amerikanischen Boom-Regionen vertrauten Sinns verstehen muss: Die Städte sind nicht menschenleer, sondern voll von Menschen, die nichts zu tun haben und nirgendwohin abwandern können.

Für die moralischen Folgen der Immobilienkrise hat Stones Bühnenbildnerin Lizzie Clachan ein schlagendes Bild gefunden: Alle Häuser sind halbiert. Wir sehen die Wohnhäuser im Querschnitt, die Tapeten in Lucias Mädchenzimmer und im Büro ihres Bruders Enrico, des Automechanikers, dekoriert mit den Requisiten billiger Träume und vergänglicher Erfolge - wie Bankberater ungerührt darauf bestehen, dass Kreditnehmer, die um Stundung betteln, ihre sämtlichen Lebensverhältnisse offenlegen. Die Leuchtreklamen der Geschäftshäuser brechen exakt in der Mitte ab, ohne dass die Lichter ausgingen. Umgekehrt gewendet wird es hier niemals hell: Das Duell bei Sonnenaufgang, zu dem Edgardo und Enrico sich verabreden, muss eine Einbildung sein. Die Infrastruktur ihrer kleinen Stadt ist eigentlich vollständig: Der Fast-Food-Schuppen, der Getränkeladen, der Pfandleiher, das Autokino, die Kirche, das Motel und die 24 Stunden am Tag geöffnete Apotheke. Durch die Fragmentierung der Illumination werden die Werbeversprechen als unerfüllbar ausgewiesen, aber nicht widerrufen. Die Drehbühne ist ständig in Betrieb, und von Akt zu Akt rücken die Kulissen näher zusammen. Von Anfang an kündigt die Spaltung der Bausubstanz das Schicksal an, das dem Geist der Titelheldin bevorsteht.

Edgardo beschützt Lucia vor einem Faustrecht, welches das entmachtete Patriarchat aus schierer Langeweile kultiviert. Wenn die beiden sich durch die sich drehende Stadt bewegen, um die Orte ihrer Liebesgeschichte aufzusuchen, dann müssen die Herren des Opernchors lediglich tun, was Chorherren eben so tun: nichts, also: herumstehen, um eine so alltägliche wie tödliche Bedrohung zu verkörpern. So bringt inszenatorischer Minimalismus, der Vollzug der theatralischen Konvention, ein Sinnbild sozialer Regression hervor.

Der Abschied von Schottland ist kein Verlust, weil sich die feinen Unterschiede des Scott-Kosmos, in dem Epochencharaktertypen mit Klassendistinktionen korrespondieren, Leitfiguren der untergehenden und der aufsteigenden Welt, ohnehin kaum auf die Bühne bringen lassen. Das Schottland der Dramatisierungen der Romane war eine Staffage-Welt. Die englische Musikkritik des viktorianischen Zeitalters spottete darüber, dass italienische Opernkompanien das Personal von "Lucia di Lammermoor" in Kilts und Seidenklamotten à la van Dyck steckten, was sowohl historisch als auch geographisch falsch war. Von Stone hätte man auch nichts Richtigeres erwarten dürfen, da er die Oper in einem Interview im schottischen Hochland ansiedelte - die Hügel von Lammermuir liegen indes in den Lowlands, südöstlich von Edinburgh; die Herren von Ravenswood sind keine Clanchefs.

Mit der Ankündigung, seiner Lucia eine milieugerechte Schmerzmittelabhängigkeit mitzugeben, trat Stone Proteste von Abonnenten los. In der Aufführung beschränkt sich ihr Konsum nun auf eine einzelne Dosis. Ihre Sucht erklärt die Bluttat nicht; sonst könnte im Land der Industrieruinen kaum ein Bräutigam eine Hochzeitsnacht im Motel überleben. Eher zeigt Lucias Umgang mit Opioiden, dass sie ihr Leben anscheinend im Griff hat. So hatte Scott das Buch geschrieben, während er seine Magenkrämpfe mit Laudanum, einer Opiumtinktur, behandelte.

Wie Scotts Romane Bildungstouristen nach Schottland lockten, die in der hohen Zeit der Industrialisierung die Relikte des feudalen Stadiums der europäischen Gesellschaft sehen wollten, so lösten Sachbuchbestseller, die den Erfolg Donald Trumps erklären wollten, journalistische Studienreisen in die Reservate der weißen Arbeiterklasse aus. J. D. Vance, der Autor von "Hillbilly Elegy", hat die Rollen gewechselt und kandidiert jetzt als Trump-Propagandist in Ohio für den Senat. Bei Stone gibt es für die aufgestaute Sehnsucht der Abgehängten kein politisches Ventil; seine Aktualisierung der Oper bleibt insoweit strikt werktreu.

Peter Gelb, der Intendant der Met, der sein publikumserzieherisches Projekt des Imports des europäischen Regietheaters unverdrossen fortsetzt, hat als Dirigenten Riccardo Frizza engagiert, den Leiter des Donizetti-Festivals in Bergamo, der schwungvolle Präzisionsarbeit abliefert. Von den Sängern erntet der polnische Bariton Artur Rucinski den auffälligsten Applaus. Die metallische Stimmkraft dieses Enrico konserviert funktionslos gewordene Macht; unheimlicherweise kann er seine Schwester deshalb tyrannisieren, weil er sich selbst in der Gewalt hat. Javier Camarena als Edgardo verströmt den Schmelz, der Melodiesüchtigen Rettung verspricht, und bleibt nur den Spitzentönen etwas schuldig. Beim Schlussmonolog ersetzt der Pick-up die Gräber von Edgardos Vorfahren. Auch das völlig konsequent: Im Land der Mobilität werden die Hoffnungen auf dem Autofriedhof begraben.

Nadine Sierras Kunst, Töne zu verschleifen, zeigt, wie nah sich in Lucias Habitus Hingabe und Anpassung sind: Was sie ins Duett mit dem Geliebten zuvorkommend hineinlegt, hält sie im Duett mit dem Bruder instinktiv zurück. Die Wahnsinnsrede gestaltet Sierra als Selbstgespräch, im Ganzen unerklärbar, aber in jeder einzelnen Silbe, die sie der Glasharmonika von Friedrich Heinrich Kern nachsingt, vollkommen klar. Verzerrt kehren in der Orchesterbegleitung der Wahnsinnigen Motive aus ihrer Vorgeschichte zurück. So hat Stone die Entfaltung von Lucias Schicksal von Anfang an mit Videoprojektionen verdoppelt. Als schwarz-weißen Homemovie sehen wir zum Schluss die herbeiphantasierte Hochzeit mit dem wahren Bräutigam.

Das Übereinander von Bühnengeschehen und Kinobild nutzt den riesigen Bühnenraum der Met kreativ und verschafft den Zuschauern auf den höheren Rängen zur Abwechslung einmal die bessere Sicht. Beim Wort genommen hat Stone die These einer klassischen Untersuchung der feministischen Musikwissenschaft. "Excess and Frame" sind in Susan McClarys Buch "Feminine Endings" von 1991 die Stichworte für die Darstellung der wahnsinnigen Frau auf der Opernbühne: Die Entgrenzungserfahrung wird durch den Blick des Zuschauers objektiviert, die Selbstbefreiung des weiblichen Subjekts bleibt buchstäblich im Rahmen.

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