Produktdetails
  • Anzahl: 2 Audio CDs
  • Erscheinungstermin: 2. Mai 2000
  • Hersteller: Edition Wawi / PINK RECOR,
  • EAN: 5028421990484
  • Artikelnr.: 25063407
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.04.2011

Nicht alle Musiker glauben an Bach

Die Passionen von Johann Sebastian Bach werden immer wieder neu interpretiert. Dabei sind die jüngsten Platteneinspielungen nicht besser als die alten. Im Kreis der weitverzweigten Bach-Familie aber, die so viele gute Musiker hervorgebracht hat, gibt es zwei brillante Entdeckungen zu feiern.

Und wieder ging es mir in den letzten Tagen wie Nietzsche. Er habe, schrieb der im April 1870 an Erwin Rohde, "in dieser Woche dreimal die Matthäuspassion gehört, jedes Mal mit demselben Gefühl der unermesslichen Verwunderung. Wer das Christentum völlig verlernt hat, der hört es hier wirklich wie ein Evangelium; es ist dies die Musik der Verneinung des Willens, ohne Erinnerung an die Askesis."

Augenblicklich, im April 2011, sind mehr als dreißig Gesamteinspielungen der Matthäuspassion BWV 244 in Deutschland lieferbar, allein in den letzten Wochen kamen drei neue hinzu, auch die Johannespassion BWV 245 ist zweimal neu eingespielt worden. Noch einmal so viele Matthäuspassionen verzeichnet der Bielefelder Katalog, der all das zusammenfasst, was weltweit an Platten produziert wurde, auch auf dem amerikanischen und japanischen Markt. Man muss deshalb nicht gleich wieder an die Ausbreitung eines Evangeliums denken. Es gibt große Unterschiede. Wie die Musiker rund um den Globus diesen (ihren) "fünften Evangelisten" jeweils auffassen und weitergeben, das war in den letzten fünfzig Jahren einem gewaltigen Wandel unterworfen. Der berühmte Satz, den der Kölner Komponist Mauricio Kagel prägte, hat mal als Zeugnis für das säkulare Bach-Bild herhalten müssen, mal als Beleg für sein Gegenteil. Kagel schrieb, im Bach-Jahr 1985: "Es mag sein, dass nicht alle Musiker an Gott glauben. An Bach jedoch alle." Und wollte vermutlich damit nichts weiter sagen als dies: Johann Sebastian Bach steckt uns Komponisten doch alle in die Tasche. Er ist der Alleskönner. Er ist der Größte.

Genau darin besteht das Rätsel. Mehr als eintausend Musikwerke sind überliefert von Johann Sebastian Bach, jedes trägt die Zeichen einer persönlichen Handschrift, von der Kantate BWV 1 "Wie schön leuchtet der Morgenstern" bis hin zur "Kunst der Fuge" BWV 1080. Diese Unverwechselbarkeit gilt selbst für Stücke, die Bach gar nicht selbst komponiert, vielmehr abgeschrieben hat bei anderen, die er nur neu instrumentierte, transponierte und überarbeitete, etwa für das Quadrupel-Konzert in a-Moll BWV 1065 (nach Vivaldi).

Ein hoher Wiedererkennungswert, der einzigartig ist in der Musikgeschichte, vielleicht sogar in der Geschichte der schönen Künste überhaupt. Wie kann es sein, dass ein Mensch sein Lebtag mit sich selbst so gespenstisch identisch ist? Wie kommt es, dass es kaum Verwerfungen, keine Fehltritte gibt, so gar nichts Missratenes aus Bachs Feder, auch keine halbgaren Gesellenstücke, wie sonst bei anderen großen Meistern. Nichts Verwechselbares, Austauschbares? Gewiss, auch Johann Sebastian Bach unterlag Einflüssen. Der Pianist Andreas Staier hat vor fünf Jahren mit seiner Einspielung einiger Jugendwerke auf die Löcher der Bachschen Biographieschreibung hingewiesen und darauf, dass selbst schon dessen Söhne nicht lückenlos alles über den Vater wussten, von "jugendlichen Fechterstreichen" sprachen und von "abentheuerlichen Traditionen" (harmonia mundi HMC 901960). Es gab den wilden jungen Bach, es gab den strengen alten Bach, den Köthener Bach, weltlich-höfisch, mit seinen glänzenden Suiten sowie den Gottesdiener und Thomaskantor. Aber es gibt bei Bach keine Makulatur. Bach ist Bach bleibt Bach.

Viele Vorschläge wurden schon gemacht, um dieses Rätsel zu lösen. Mir gefällt am besten die anschauliche Gärtneridee vom musikalisch-genetischen Komposthaufen. Der Stammbaum der sächsisch-thüringischen Musikerfamilie Bach ist nämlich beispiellos weit verzweigt - der des Wagner-Clans, vergleichsweise, nur ein dürftiges Mauerblümchen. Seit dem von Bach selbst angelegten ersten Verzeichnis zum "Ursprung der musicalisch-Bachischen Familie" (1735) sind zahlreiche Zeichnungen entstanden, in denen alle dreiundfünfzig professionellen Musiker des Bach-Clans, all die Stadtpfeifer und Organisten, Sänger, Geiger und Instrumentenbauer, Kapellmeister und Kantoren, von denen die meisten mit erstem Namen "Johann" hießen, ans richtige Zweiglein gehängt wurden.

In obiger Abbildung beispielsweise findet sich Johann Sebastian erst in der drittobersten Reihe. Viele Zeichner haben ihn später als Zentrum in die Mitte gesetzt. Dabei ist klar: Er war nicht die Wurzel dieses Baumes, er war eine späte Frucht. So viel außerordentlich gute Musik ist in dieser Familie geschrieben worden, von Heinrich Bach und Johann Christoph Bach, von Vettern und Onkels, gleichzeitig und nacheinander, seit den ersten Anfängen der Wechmarer Brüder Veit und Hans. Da ist es am Ende wohl gar nichts Märchenhaftes, sondern nur natürlich, dass, nach einer gewissen Zeit, in der sich Wissen und Können Schicht um Schicht von einer Generation zur nächsten akkumuliert haben, plötzlich eine so seltsame und vollkommene und einmalige Wunderblume erblüht.

Zwei neue Einspielungen mit Werken von Angehörigen Bachs ragen, zum Exempel, aus der mittlerweile auch schon recht umfänglichen Bach-Familien-Diskographie heraus. Erstens die sechs brillanten Hamburger Cembalo-Konzerte, die der zweitälteste Bach-Sohn Carl Philipp Emanuel Bach 1772 als Zyklus im Druck veröffentlicht hatte - maßstäblich musiziert von Andreas Staier und dem Freiburger Barockorchester. Zweitens eine erstaunlich freudige und hellglänzende "Trauerkantate", komponiert 1724 auf den Tod des Herzogs Ernst Ludwig von Sachsen-Meiningen von dem Meininger Hofkapellmeister Johann Ludwig Bach, einem entfernten Vetter der Leipziger Bach-Familie - rhythmisch punktgenau vom RIAS-Kammerchor gesungen, begleitet von der Akademie für Alte Musik unter Hans-Christoph Rademacher. Die Krönung dieses preiswürdigen Albums ist aber ganz gewiss die Solosängerbesetzung: vier mal frischer, grüner Nachwuchs, mit Anna Prohaska an der Sopran-Spitze.

Die "Trauerkantate" ist doppelchörig konzipiert, ganz wie die Bachsche Matthäuspassion; womit die Gemeinsamkeiten allerdings schon erschöpft sind. Johann Ludwig Bach war acht Jahre älter als Johann Sebastian und mit dessen Linie nur noch um zwei Ecken verwandt (allerdings hat Letzterer die Werke auch dieses fernen Vetters gesammelt, was dazu führte, dass zumindest eine der zahlreichen Kantaten Johann Ludwigs ihm selbst zugeschrieben wurde).

Der Text der "Trauerkantate" wurde von dem zu betrauernden herzoglichen Dienstherrn persönlich verfasst, er hatte die Verse für den Fall seines Todes schon im Voraus gedichtet. Sie zeichnen in drei Teilen den Weg vom Lebensabschied über den Aufstieg der Seele ins Paradies nach. Und Johann Ludwig Bach vertonte diese Handlung wie ein Operndrama, harmonisch malerisch (etwa im Schlusschor des ersten Teils: "Meine Bande sind zerrissen") und instrumental unkonventionell (Gambe und Laute fehlen). Das Werk beginnt mit einer fallenden Basslinie in den Celli, vermeidet aber im Weiteren die übliche Lamento-Rhetorik. Dafür werden den vier Solisten allerhand virtuose Beweglichkeiten abverlangt. Dürfen sie in ihren Arien im ersten Teil einzeln brillieren, so werden sie im zweiten Teil auch zu Duetten zusammengeführt. Es ist die reine Freude, dem jugendlich gelenkigen Bass von Andreas Wolf zu lauschen und dem runden, wohltönenden Alt von Ivonne Fuchs, dem metallisch glänzenden Tenor von Maximilian Schmitt, wie er sich, zum Beispiel, in der Arie "Lob und Dank" ein ulkiges Duell liefert mit einem obligaten Fagott, aber vor allem den gestischen Koloraturen, mit denen Anna Prohaska in der Arie "Ach ja, die Ketten und die Bande!" einen ganz eignen, fesselnden Ton erzielt. Am Ende, wenn die Seele, von der Last des Erdendaseins befreit, fröhlich in den Himmel springt, herrscht nur noch eitel Dur und Wonne, mit Trompetengeschmetter und Fugatopracht, und das Halleluja-Getöse der himmlischen Chorheerscharen will gar nicht enden.

Die sechs Cembalo-Konzerte, mit denen Carl Philipp Emanuel Bach vier Jahre nach seinem Amtsantritt 1768 als Hamburger Musikdirektor an die Öffentlichkeit trat, waren gemeint als Visitenkarten und fanden als solche auch große öffentliche Resonanz. Es sind funkelnde, feurige, glitzernde Show-Pieces, jedes von eignem Charakter, allerdings formal zyklisch durchgestaltet. Und in jedem einzelnen dieser kraftstrotzenden Konzerte, ob in Moll oder Dur, geht immer wieder neu die Sonne auf. War das Cembalo jemals ein im Tross dienendes Zugpferd, ein zart im Untergrund zirpendes Generalbassinstrument? Wir können uns nicht mehr daran erinnern! Hier rauscht es, prahlt und strahlt in den herrlichsten Regenbogenfarben und führt wie ein kostbares, schön herausgeputztes Lipizzaner-Ross seine Kapriolen, Piafen und Pirouetten vor - und das reich (auch mit Bläsern) besetzte Freiburger Barockorchester liefert dazu mehr als nur Stichworte, Rede und Gegenrede, es prahlt mit Staier um die Wette. Der setzt auch für dieses Album wieder sein wundersam farbkräftiges Hass-Cembalo ein, Nachbau eines Instruments aus der Werkstatt von Hieronymus Albrecht Hass, Baujahr 1734. Und Staier sorgt, bei allem Feuer, mit Besonnenheit in der Gestaltung für eine kongeniale Lesart dieser Geniestreiche. Vielleicht, dass diese sechs Konzerte nun endlich auch den Weg in den Konzertsaal finden.

Und die Matthäuspassion? Das Evangelium? Höchsten Heiles Wunder? Die neuen Aufnahmen sind nicht besser als die älteren, wie der Vergleich etwa mit der edlen, von dhm/Sony neu aufgelegten Matthäuspassion von Gustav Leonhardt schlagend zeigt. Und wer die Trennschärfe und die flammende Klangschönheit des RIAS-Kammerchors aus der "Trauermusik" noch im Ohr hat, der wird von der Gesamtaufnahme, die Jos van Veldhoven jetzt mit der Netherlands Bach Society vorlegt, umso enttäuschter sein. Veldhoven arbeitet historisch korrekt mit kleiner Besetzung, er rekrutiert die Solisten jeweils aus dem Chor. Das Resultat ist unbefriedigend. Es mag ja sein, dass auch manch ein Thomaner-Solist zu Bachs Lebzeiten unsauber und wackelig sang. Aber das wurde wenigstens nicht konserviert für die Ewigkeit. Ähnlich deprimierend die neuen Johannespassionen, von John Eliot Gardiner für Soli Deo Gloria (SDG 712/harmonia mundi) und von Frans Brüggen für Glossa produziert. Beide sind kundige und bewährte Pioniere der historischen Aufführungspraxis. Aber das Klangbild beider Aufnahmen wirkt diffus, die Tempoangaben unentschieden. Das alte Feuer scheint erloschen. Nicht alle Musiker glauben an Bach.

ELEONORE BÜNING

Johann Ludwig Bach: Trauermusik. Anna Prohaska, Ivonne Fuchs, Maximilian Schmitt, Andreas Wolf, RIAS Kammerchor, Akademie für Alte Musik, Hans-Christoph Rademann.

harmonia mundi HMC 902080

Johann Sebastian Bach: Matthäuspassion BWV 244. The Netherlands Bach Society, Jos van Veldhoven.

3 CDs Channel Classics CCS SA 32511 (harmonia mundi)

Johann Sebastian Bach: Johannespassion BWV 245. Capella Amsterdam, Orchestra of Eighteenth Century, Frans Brüggen.

2 CDs Glossa GCD 92113 (Note 1)

Carl Philipp Emanuel Bach: Sei Concerti Wq 43 (Hamburger Konzerte) Andreas Staier, Freiburger Barockorchester, Petra Müllejans.

2 CDs harmonia mundi HMC 902083.84

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