18,99 €
inkl. MwSt.

Versandfertig in über 4 Wochen
  • Audio CD

Berlioz behauptete, er hätte die Partitur seiner Messe solennelle verbrannt, tatsächlich schien sich nur das Resurrexit als nicht autographe Abschrift erhalten zu haben. Zum Glück entdeckte man Anfang der 1990er Jahre ein vollständiges Exemplar der Partitur auf einer Orgelempore in Antwerpen. Bei der Messe aus dem Jahr 1824 handelt es sich um die früheste erhaltene Komposition des jungen Berlioz, und trotz aller Reminiszenzen an seine Lehrer Cherubini und Lesueur weist das Werk bereits erstaunlich individuelle Züge auf. In der prachtvollen Akustik der Schlosskapelle von Versailles arbeiten…mehr

  • Anzahl: 1 Audio CD
Produktbeschreibung
Berlioz behauptete, er hätte die Partitur seiner Messe solennelle verbrannt, tatsächlich schien sich nur das Resurrexit als nicht autographe Abschrift erhalten zu haben. Zum Glück entdeckte man Anfang der 1990er Jahre ein vollständiges Exemplar der Partitur auf einer Orgelempore in Antwerpen. Bei der Messe aus dem Jahr 1824 handelt es sich um die früheste erhaltene Komposition des jungen Berlioz, und trotz aller Reminiszenzen an seine Lehrer Cherubini und Lesueur weist das Werk bereits erstaunlich individuelle Züge auf. In der prachtvollen Akustik der Schlosskapelle von Versailles arbeiten Hervé Niquet und Le Concert Spirituel die Vorzüge des feuerköpfigen Jugendwerks überzeugend heraus.
Trackliste
CD
1Messe solennelle H20
2I. Kyrie00:07:39
3II. Gloria00:04:29
4III. Gratias00:04:50
5IV. Quoniam tu solus Sanctus00:01:49
6V. Credo00:03:04
7VI. Incarnatus00:03:20
8VII. Crucifixus00:01:41
9VIII. Resurrexit00:06:55
10Motet pour l'Offertoire00:03:11
11IX. Sanctus00:02:40
12X. O salutaris00:03:08
13XI. Agnus00:03:21
14Domine salvum00:03:09
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.03.2020

Den Raum erschüttern
Hervé Niquet dirigiert die Messe solennelle von Hector Berlioz

"Ich wollte es keinem anderen überlassen, meine Zuhörer unter Beschuss zu nehmen, und nachdem ich den Bösen mit einer letzten Salve der Blechbläser angekündigt hatte, dass nun der Augenblick des Heulens und Zähneknirschens gekommen sei, lancierte ich einen so harten Tamtam-Schlag, dass die ganze Kirche erzitterte" - das berichtet der einundzwanzigjährige Berlioz kurz nach der Uraufführung seiner Messe solennelle in der Pariser Kirche Saint-Roch einem Freund. Die Rede ist von der Szene des Jüngsten Gerichts, zu welcher der Komponist die Textpartie des Credo geformt hat, die von Christi Wiederkehr als Richter am Ende der Zeiten handelt. Berlioz' Brief ist ein Gründungsdokument der Moderne, das dem Künstler ebenso ästhetisch wie gesellschaftlich eine neue Rolle zuschreibt. Mit dem Tamtam-Schlag überschreitet es die Grenze der Fiktion in die reale Erschütterung des Raumes: Eine poetische Idee soll, distanzsprengend, furchtbare physische Gegenwart werden. Und mit der Scheidung der Bösen von den Guten schreibt es dem Künstler die Rolle des Richters zu - zudem in kaum verhüllter Christus-Imitation.

Der Attacke aufs Publikum, das mit aller Macht zum Verstehen gezwungen werden soll, ging eine andere Attacke voraus: Das "Kyrie eleison", das "Herr erbarme Dich" des ersten Satzes der Messe, begann mit einem (scheinbar) konventionellen Fugato, dem ein fast idyllisches "Christe eleison" folgte. Die übliche Kyrie-Wiederholung aber wartete nicht mit Besinnlichkeit auf, sondern mit Beschleunigung und Verdichtung des Materials bis hin zu frenetischen, im verdoppelten Tempo geradezu herausgeschrieenen kleinen Sekunden in Achtelketten - und riss dann auf dem Höhepunkt der Steigerung ab. Alles war schon hier aus den Proportionen gefallen. Gottes Gnade und Erbarmen wurden nicht demütig erfleht, sie sollten in einem Kampf, gleich Jakobs alttestamentlichem Ringen mit dem Engel, herbeigezwungen werden.

Berlioz hat in seinen Memoiren behauptet, dieses extreme Jugendwerk später verbrannt zu haben. Das gilt allenfalls für eine zweite, überarbeitete Fassung, die er zuvor regelrecht ausgeschlachtet hatte: Bedeutende Teile gingen in seine späteren Kompositionen ein - so die mächtig erweiterte Szene des Jüngsten Gerichts in sein Requiem. Das Autograph der Uraufführungsfassung von 1825 aber schenkte er 1835 einem belgischen Freund. 1991tauchte es auf einer Antwerpener Orgelempore wieder auf. Mit beträchtlichem Ehrgeiz sicherte sich John Eliot Gardiner die Erstaufführung im Herbst 1993, von der alsbald eine CD erschien. Fast zeitgleiche CD-Produktionen aus Frankreich und den Vereinigten Staaten hatten dagegen kaum eine Rezeptions-Chance. Riccardo Mutis Engagement für das Werk bei den Salzburger Festspielen 2012 und mancher andere Versuch blieben letztlich folgenlos.

Nun hat, mehr als ein Vierteljahrhundert nach Gardiner, Hervé Niquet mit seinem "Concert Spirituel" eine neue, in der Versailler Chapelle royale realisierte Aufnahme vorgelegt. Hören wir gleich in die Kyrie-Beschwörung hinein: Beide, Gardiner wie Niquet, wissen nur zu genau um die Realisierungsprobleme einer solch angespannten Musik, und beide packen sie bei den Hörnern. Aber während Gardiner eine starr mechanisierte Version anbietet, die das ohnehin schon Überspannte noch zu überziehen sucht, gelingt Niquet bei (fast) gleicher Präzision eine viel weniger distanzierte, enthusiastische Lösung voller Fluidität und Empathie. Erstmals wird dem Befremdlichen eine Brücke zu einem Publikum gebaut, auf das auch der kompromisslose Berlioz all seine Hoffnungen setzte. Niquet wählt flüssigere Tempi. Während Gardiner das "Gratias" aus dem Gloria, das später in den langsamen Satz der Symphonie fantastique eingehen sollte, wie ein Zitat aus diesem Werk sehr zerdehnt zelebriert, wählt Niquet ein frisches Zeitmaß dieses leicht schwebenden Sechsachtel-Satzes, der von seiner melancholischen Verwendung in der Symphonie noch nichts weiß. Und so geht es weiter: überall eine glückliche Wahl der Tempi und der Binnenrelationen dieses höchst abenteuerlichen Stücks, vom brillanten Chor gar nicht zu reden. Gardiners Interpretation in ihrer besserwisserischen Starrheit erscheint aus neuer Perspektive fast als ein Rezeptionshindernis - ein Angstgegner, der nun überwunden sein könnte.

KLAUS HEINRICH KOHRS

Hector Berlioz: Messe Solennelle.

Le Concert Spirituel u. a., Hervé Niquet. Alpha Classics 564 (Outhere/Note 1).

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr