Produktdetails
- Anzahl: 1 Audio CD
- Erscheinungstermin: 28. Juli 2023
- Hersteller: 375 Media GmbH / INTERNATIONAL ANTHEM / INDIGO,
- EAN: 0789993993338
- Artikelnr.: 68118789
- Herstellerkennzeichnung
- K7 Music GmbH
- Gerichtstr. 35
- 13347 Berlin
- www.k7.com
CD | |||
1 | 5-4-3-2-1 | ||
2 | Yes! | ||
3 | The Sun Returns | ||
4 | Breeze Of Time | ||
5 | Your Name Gonna Ring The Bell | ||
6 | New Future | ||
7 | Droids! | ||
8 | The Concord Hour | ||
9 | Future City | ||
10 | 10mins Past The Hour | ||
11 | Support The Youth (With Sound) | ||
12 | The Beat | ||
13 | Las Niñas Estan Escuchando (The Children Are Listening) | ||
14 | Flitting Splits Reverb Adage | ||
15 | Twilight Shimmer | ||
16 | Suspense In The Grip Of Suspense | ||
17 | Polaris Radio | ||
18 | Drop |
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.08.2023Gezielte Grenzüberschreitung
Das Jazz-Label
International Anthem
hat sich einen glänzenden Ruf erworben. Seine Veröffentlichungen allein in diesem Sommer zeigen, warum.
Es lässt sich nicht behaupten, dass Scottie McNiece die Karriereplanung sehr strategisch angegangen wäre. In seiner Heimatstadt Chicago stromerte der Schlagzeuger mit diversen Bands durch die Klubs, brachte erfolglos ein paar Platten heraus, organisierte nebenbei Konzerte. Und er wäre wohl mit öden Gelegenheitsjobs in eine mehr oder weniger prekäre Postpostadoleszenz geschlittert, hätte nicht das Schicksal wohlwollend eingegriffen. Sein Boss in der Chicagoer Gilt Bar, wo McNiece als Essenslieferant aushalf, wusste um seinen musikalischen Hintergrund und ließ ihn mal machen, nämlich Gigs im Keller einer Kneipe, und dann auch noch vornehmlich mit improvisierter Musik der jungen Untergrundszene. 2012 spielte dort der Kornettist Rob Mazurek - schwebend sphärische Klänge über einem droneartigen Synthieteppich, avantgardistisch und kontemplativ.
Mazurek war bereits ein household name in der Stadt, vor allem als Teil des Chicago-Underground-Duos, das er zusammen mit dem Schlagzeuger Chad Taylor in den Neunzigern gebildet hatte. McNiece bat seinen Kumpel, den Tontechniker David Allen, ihm bei der Liveaufnahme dieser faszinierenden Klanggebilde von Mazurek zu helfen. Zwei Jahre später sollte daraus das erste Album der von McNiece und Allen gegründeten Plattenfirma International Anthem werden. Seither hat das Label sich weltweit einen fulminanten Ruf erworben, der vielleicht am ehesten dem von Impulse! in den Sechzigern oder Black Saint in den Siebzigern vergleichbar ist.
Mazureks "Alternate Moon Cycles" habe den perfekten Ton für die gewagte Unternehmung gesetzt, meinte McNiece einmal. Die Platte sei wie ein Rothko-Gemälde, in dem nichts und alles zugleich drinstecke. Das beschreibt es gar nicht schlecht, und es zeigt auf, wohin der Weg führen sollte: Die International Anthem Recording Company kaprizierte sich von Anfang an auf radikale musikalische Entwürfe, angelehnt an die 1965 in Chicago gegründete Musikervereinigung namens Association for the Advancement of Creative Musicians, deren Einfluss auf die heutige Szene immens ist und deren ästhetische Ideen sich nie auf einen Jazz-Nenner bringen ließen - bei Mitgliedern wie Muhal Richard Abrams, Henry Threadgill oder Anthony Braxton auch schwer vorstellbar. Als "boundary defying music" bezeichnet McNiece deshalb das, was sein Label präsentieren möchte: Musik, die Grenzen überschreitet. Das kann sich um wild-deklamatorische Free-Jazz-Meditationen wie bei Irreversible Entanglements handeln, um collagenartige Klangexperimente von Makaya McCraven oder psychedelisch-unberechenbare Progressive-Jazz-Funk-Fusionen von Ben LaMar Gay. Was diese unterschiedlichen musikalischen Positionen zusammenhält, hat viel mit der Vorstellung einer eng verbandelten Community zu tun: Freundschaften herstellen über gemeinsame Projekte, Haltungen entwickeln durch gegenseitige Unterstützung und politischen Aktivismus. McNiece und Allen verstehen sich nicht als Geschäftsleute - sie sind zuallererst Freunde der Musiker, dann Kuratoren, Ermöglicher, Produzenten, Prozessteilnehmer, Fans. Und sie kümmern sich noch um die kleinsten Details beim Zustandekommen der aufwendig gestalteten Alben.
Zur Wiedererkennbarkeit des Labels gehören die an japanische Pressungen erinnernden Obi-Streifen, die die Schallplattenhüllen zieren und meist mit einer großartig-griffigen Liner-Note versehen sind. Angel Bat Dawids jüngst erschienenes Album "Requiem for Jazz" wird da so beworben: "Klassische Schwarze Trauermesse verbindet Kunst & Arkestra in schwermütigem Ritual mit Beatwork, Chor und Arie, um den Tod des Jazz zu beweinen und die Ausrufung der Great Black Music anzustoßen."
"Requiem for Jazz" ist einer der Höhepunkte im diesjährigen Programm von International Anthem: Wie die Klarinettistin und Sängerin schwarze Geschichte, Diskurse über Jazz, einen Film von 1959, in dem sich Edward O. Bland mit dem Rassismus in den USA auseinandersetzte, Sun Ra und Mozart miteinander in Verbindung setzt, ist faszinierend - ein polyphon-vielstimmiges Ereignis. Aber nicht nur diese Veröffentlichung verdeutlicht, welche Rolle International Anthem inzwischen für die progressive Szene in Chicago und darüber hinaus spielt. Der südafrikanische Schlagzeuger und Aktivist Asher Gamedze, übrigens Teil von Angel Bat Dawids Band Tha Brotherhood, veröffentlichte kürzlich mit "Turbulence & Pulse" einen sich an Charles Mingus' Sound der frühen Sechziger anlehnenden, den politischen Impuls der Mittsechziger aufgreifenden Geniestreich - eine rhythmisch-komplexe Reflexion über die Bedeutung von Zeit, Bewegung, Herzschlag in Musik und Geschichte, und was das mit unserer Gegenwart zu tun hat: "Turbulent times call for extreme measures!", heißt es manifesthaft im Eröffnungstrack.
Zu den wichtigsten Protagonisten von International Anthem gehörte Jaimie Branch. Die Trompeterin, Komponistin, Sängerin starb vor einem Jahr im Alter von erst 39 Jahren, ihre Aufnahmen mit den Formationen Fly or Die (teils mit Chad Taylor am Schlagzeug) und Anteloper (mit Jason Nazary und Jeff Parker) haben den Hipnessfaktor des Labels noch mal enorm gesteigert. Am 25. August erscheint postum das Album "Fly or Die Fly or Die Fly or Die ((world war))". Es macht spürbar, was der Verlust dieser Musikerin bedeutet: "Fly or Die" Teil drei ist ein brodelndes, stilsprengendes Testament, das von ihrem schneidend-klaren, fast fanfarenartig-luziden Ton geprägt ist, hinter dem sich immer etwas Schmerzvolles oder Brüchiges verbirgt, etwas Suchendes und Wütendes. Und wie schon die Vorgängeralben ist auch diese nachgelassene Veröffentlichung eine Wundertüte - die langen, groovegetriebenen, melodieseligen Stücke steuern selbstbewusst durch avantgardistische Soundexperimente und streifen dabei Gassenhauer mit Punkattitüde, schwingen mal im Calypso-Rhythmus und schwofen über einen verstaubten Scheunenboden zum Country-Duett, dessen Grundlage ein Song der Meat Puppets liefert. Mit dieser Variationslust und -breite steht Jaimie Branch geradezu exemplarisch für International Anthem.
Wer sich noch weiter von der programmatischen, nie beliebigen Genrevielfalt des Labels überzeugen will, sollte am besten ins neue Album des exzentrischen Gesamtkunstwerkers Alabaster DePlume reinhören ("Come With Fierce Grace", erscheint am 8. September). Oder, um den Bogen zu den Ursprüngen von International Anthem zu schlagen, in Rob Mazureks und Damon Locks jüngst erschienenes "New Future City Radio", ein Konzeptalbum aus geisterhaften Radiostimmen, fragmentarischen Improvisationen und smarten Retro-Boombox-Botschaften für die Zukunft. ULRICH RÜDENAUER
Damon Locks and
Rob Mazurek: "New
Future City Radio".
International Anthem (Indigo)
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Jazz-Label
International Anthem
hat sich einen glänzenden Ruf erworben. Seine Veröffentlichungen allein in diesem Sommer zeigen, warum.
Es lässt sich nicht behaupten, dass Scottie McNiece die Karriereplanung sehr strategisch angegangen wäre. In seiner Heimatstadt Chicago stromerte der Schlagzeuger mit diversen Bands durch die Klubs, brachte erfolglos ein paar Platten heraus, organisierte nebenbei Konzerte. Und er wäre wohl mit öden Gelegenheitsjobs in eine mehr oder weniger prekäre Postpostadoleszenz geschlittert, hätte nicht das Schicksal wohlwollend eingegriffen. Sein Boss in der Chicagoer Gilt Bar, wo McNiece als Essenslieferant aushalf, wusste um seinen musikalischen Hintergrund und ließ ihn mal machen, nämlich Gigs im Keller einer Kneipe, und dann auch noch vornehmlich mit improvisierter Musik der jungen Untergrundszene. 2012 spielte dort der Kornettist Rob Mazurek - schwebend sphärische Klänge über einem droneartigen Synthieteppich, avantgardistisch und kontemplativ.
Mazurek war bereits ein household name in der Stadt, vor allem als Teil des Chicago-Underground-Duos, das er zusammen mit dem Schlagzeuger Chad Taylor in den Neunzigern gebildet hatte. McNiece bat seinen Kumpel, den Tontechniker David Allen, ihm bei der Liveaufnahme dieser faszinierenden Klanggebilde von Mazurek zu helfen. Zwei Jahre später sollte daraus das erste Album der von McNiece und Allen gegründeten Plattenfirma International Anthem werden. Seither hat das Label sich weltweit einen fulminanten Ruf erworben, der vielleicht am ehesten dem von Impulse! in den Sechzigern oder Black Saint in den Siebzigern vergleichbar ist.
Mazureks "Alternate Moon Cycles" habe den perfekten Ton für die gewagte Unternehmung gesetzt, meinte McNiece einmal. Die Platte sei wie ein Rothko-Gemälde, in dem nichts und alles zugleich drinstecke. Das beschreibt es gar nicht schlecht, und es zeigt auf, wohin der Weg führen sollte: Die International Anthem Recording Company kaprizierte sich von Anfang an auf radikale musikalische Entwürfe, angelehnt an die 1965 in Chicago gegründete Musikervereinigung namens Association for the Advancement of Creative Musicians, deren Einfluss auf die heutige Szene immens ist und deren ästhetische Ideen sich nie auf einen Jazz-Nenner bringen ließen - bei Mitgliedern wie Muhal Richard Abrams, Henry Threadgill oder Anthony Braxton auch schwer vorstellbar. Als "boundary defying music" bezeichnet McNiece deshalb das, was sein Label präsentieren möchte: Musik, die Grenzen überschreitet. Das kann sich um wild-deklamatorische Free-Jazz-Meditationen wie bei Irreversible Entanglements handeln, um collagenartige Klangexperimente von Makaya McCraven oder psychedelisch-unberechenbare Progressive-Jazz-Funk-Fusionen von Ben LaMar Gay. Was diese unterschiedlichen musikalischen Positionen zusammenhält, hat viel mit der Vorstellung einer eng verbandelten Community zu tun: Freundschaften herstellen über gemeinsame Projekte, Haltungen entwickeln durch gegenseitige Unterstützung und politischen Aktivismus. McNiece und Allen verstehen sich nicht als Geschäftsleute - sie sind zuallererst Freunde der Musiker, dann Kuratoren, Ermöglicher, Produzenten, Prozessteilnehmer, Fans. Und sie kümmern sich noch um die kleinsten Details beim Zustandekommen der aufwendig gestalteten Alben.
Zur Wiedererkennbarkeit des Labels gehören die an japanische Pressungen erinnernden Obi-Streifen, die die Schallplattenhüllen zieren und meist mit einer großartig-griffigen Liner-Note versehen sind. Angel Bat Dawids jüngst erschienenes Album "Requiem for Jazz" wird da so beworben: "Klassische Schwarze Trauermesse verbindet Kunst & Arkestra in schwermütigem Ritual mit Beatwork, Chor und Arie, um den Tod des Jazz zu beweinen und die Ausrufung der Great Black Music anzustoßen."
"Requiem for Jazz" ist einer der Höhepunkte im diesjährigen Programm von International Anthem: Wie die Klarinettistin und Sängerin schwarze Geschichte, Diskurse über Jazz, einen Film von 1959, in dem sich Edward O. Bland mit dem Rassismus in den USA auseinandersetzte, Sun Ra und Mozart miteinander in Verbindung setzt, ist faszinierend - ein polyphon-vielstimmiges Ereignis. Aber nicht nur diese Veröffentlichung verdeutlicht, welche Rolle International Anthem inzwischen für die progressive Szene in Chicago und darüber hinaus spielt. Der südafrikanische Schlagzeuger und Aktivist Asher Gamedze, übrigens Teil von Angel Bat Dawids Band Tha Brotherhood, veröffentlichte kürzlich mit "Turbulence & Pulse" einen sich an Charles Mingus' Sound der frühen Sechziger anlehnenden, den politischen Impuls der Mittsechziger aufgreifenden Geniestreich - eine rhythmisch-komplexe Reflexion über die Bedeutung von Zeit, Bewegung, Herzschlag in Musik und Geschichte, und was das mit unserer Gegenwart zu tun hat: "Turbulent times call for extreme measures!", heißt es manifesthaft im Eröffnungstrack.
Zu den wichtigsten Protagonisten von International Anthem gehörte Jaimie Branch. Die Trompeterin, Komponistin, Sängerin starb vor einem Jahr im Alter von erst 39 Jahren, ihre Aufnahmen mit den Formationen Fly or Die (teils mit Chad Taylor am Schlagzeug) und Anteloper (mit Jason Nazary und Jeff Parker) haben den Hipnessfaktor des Labels noch mal enorm gesteigert. Am 25. August erscheint postum das Album "Fly or Die Fly or Die Fly or Die ((world war))". Es macht spürbar, was der Verlust dieser Musikerin bedeutet: "Fly or Die" Teil drei ist ein brodelndes, stilsprengendes Testament, das von ihrem schneidend-klaren, fast fanfarenartig-luziden Ton geprägt ist, hinter dem sich immer etwas Schmerzvolles oder Brüchiges verbirgt, etwas Suchendes und Wütendes. Und wie schon die Vorgängeralben ist auch diese nachgelassene Veröffentlichung eine Wundertüte - die langen, groovegetriebenen, melodieseligen Stücke steuern selbstbewusst durch avantgardistische Soundexperimente und streifen dabei Gassenhauer mit Punkattitüde, schwingen mal im Calypso-Rhythmus und schwofen über einen verstaubten Scheunenboden zum Country-Duett, dessen Grundlage ein Song der Meat Puppets liefert. Mit dieser Variationslust und -breite steht Jaimie Branch geradezu exemplarisch für International Anthem.
Wer sich noch weiter von der programmatischen, nie beliebigen Genrevielfalt des Labels überzeugen will, sollte am besten ins neue Album des exzentrischen Gesamtkunstwerkers Alabaster DePlume reinhören ("Come With Fierce Grace", erscheint am 8. September). Oder, um den Bogen zu den Ursprüngen von International Anthem zu schlagen, in Rob Mazureks und Damon Locks jüngst erschienenes "New Future City Radio", ein Konzeptalbum aus geisterhaften Radiostimmen, fragmentarischen Improvisationen und smarten Retro-Boombox-Botschaften für die Zukunft. ULRICH RÜDENAUER
Damon Locks and
Rob Mazurek: "New
Future City Radio".
International Anthem (Indigo)
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main