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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.07.2024

Die Liebe ist ein rebellischer Vogel - aber wie singt er?

Georges Bizets "Carmen" zählt zu den meistgespielten Werken der Welt. Das Publikum glaubt, sie zu kennen. Doch die Urfassung, die jetzt beim Bärenreiter-Verlag ediert wurde, weicht - teils gravierend - von der gängigen Fassung ab. Der Dirigent René Jacobs, dessen historisch informierte Interpretationen von Werken Johann Sebastian Bachs und Wolfgang Amadé Mozarts epochal wurden, hat sich mit Bizets Quellen beschäftigt und die rekonstruierte Urfassung bereits konzertant aufgeführt. Einen Mitschnitt findet man in der Mediathek der Elbphilharmonie: www.elbphilharmonie.de/de/mediathek. Wir verabredeten uns mit dem Dirigenten zum Gespräch. F.A.Z.



Herr Jacobs, ausgerechnet Georges Bizets "Carmen" mit dem B'Rock Orchestra unter Ihrer Leitung: Für viele, die mit Ihrer Arbeit vor allem die Jahrhunderte von Monteverdi bis zur frühen Klassik verbinden, dürfte das eine ziemliche Überraschung gewesen sein.

Für mich selbst ehrlich gesagt auch. Als die Anfrage vom Bärenreiter-Verlag kam, ob ich Lust hätte, mich mit der Erstfassung von Bizets Oper zu beschäftigen, die dort ediert werden sollte, war ich erst einmal perplex. Womöglich galt ich nach der Einspielung von Beethovens "Leonore" 2019 als Spezialist oder wenigstens Liebhaber von Urfassungen; und weil die Offerte aus Kassel noch vor der Corona-Pandemie kam, blieb dann auch genügend Zeit, sich mit dem Stoff zu beschäftigen. Wobei es da in der Sache sowieso keine Hemmschwelle gab, denn ich finde das Stück großartig - unabhängig davon, ob ich am Pult stehe.



Keine Hemmschwelle vielleicht, aber doch einen Erfahrungshorizont, der mit dem "B'Rock Orchestra" gerade bis zu Mendelssohn vorgedrungen war. Bizets Oper, deren Uraufführungsvorbereitung 1875 eine seiner letzten Aktionen war, bevor er dann noch im gleichen Jahr starb, liegt ja beträchtlich später.

Aber es gibt viele Verbindungen zu älteren Komponisten des neunzehnten Jahrhunderts. Eine der für mich wichtigsten war, dass diese "Carmen" nicht nur an der Pariser Opéra-Comique uraufgeführt wurde, sondern so, wie sie sich Bizet ursprünglich gedacht hatte, auch den Normen dieser Gattung folgte: inhaltlich mit schnellen Wechseln zwischen Tragik und Komik, formal mit ausführlichen gesprochenen Dialogen analog zum deutschen Singspiel. Das ist ziemlich anders, als man der Oper sonst begegnet - oft in der Fassung von Ernest Guiraud, der die Dialoge durch Rezitative ersetzte . . .



. . . aber sich dabei auf den Komponisten berufen konnte, der das selbst in Aussicht genommen hatte, allerdings nicht mehr dazu kam!

Das ist nicht die volle Wahrheit! Für die erste "Carmen"-Produktion im Ausland (an der Wiener Hofoper, Oktober 1875) hatte Bizet sich vorgenommen, die für das deutschsprachige Publikum unverständlichen Sprechdialoge selbst durch Rezitative zu ersetzen. Nach dem unerwarteten Tod des Komponisten übernahm sein Freund Guiraud diese Arbeit. Ich bin nicht der Einzige, der Zweifel hegt, ob das Ergebnis mit seiner plakativen Wagnerschen Leitmotivik den Intentionen Bizets entspricht. Außerdem lassen sich mit gesprochenen Dialogen viele Charaktere schärfer profilieren, und das Publikum kann der Handlung besser folgen.



Trotzdem wundert mich, dass gerade Sie als ehemaliger Sänger so nachdrücklich für das gesprochene Wort plädieren.

Vergessen Sie bitte nicht, dass der ehemalige Sänger auch als Altphilologe ausgebildet wurde! Ich bin ausgesprochen "textverliebt", für mich beginnt jede neue Opernarbeit mit dem Libretto. Die Trumpfkarte einer Opéra-comique oder eines Singspiels ist der ständige Wechsel zwischen gesungener und gesprochener Sprache, zwischen Poesie und Prosa, zwischen Gebundenheit und Freiheit der Darsteller. Übrigens hat Bizet in seiner "Carmen"-Urfassung an wichtigen Umschlagpunkten der Handlung auch "Melodramen" eingesetzt, also Sprechpassagen über einer exakt auskomponierten Orchesterbegleitung. Sie wurden leider während der Uraufführungsproben zum Teil gestrichen, weil die delikate Balance zwischen Sprechstimme und Orchester nicht gelingen wollte. Die Publikumswirksamkeit von Sprechdialogen in einer Oper setzt voraus, dass man über Sänger verfügt, die mit der Sprache des Stücks souverän umgehen können. Und weil wir bei unserer Produktion der "Carmen"-Urfassung ein solches Team hatten, haben die Hörer vielleicht auch wirklich einige neue Einsichten gewinnen können.



Wofür sie allerdings an anderer Stelle einen Verlust in Kauf nehmen mussten . . .

Sie sprechen von der Habanera, Carmens Auftrittslied, dem Hit der Oper und einer der populärsten Opern-Nummern überhaupt. Die erklang bei uns nicht, weil es sie in der Urfassung noch gar nicht gibt. Es ist ja bekannt, dass weder die Melodie noch die immer wiederkehrende Bassfloskel im Orchester original Bizet sind, sondern einer Revuenummer des baskischen Komponisten Sebastián de Yradier entlehnt wurden; und wir wissen auch, dass Bizets Uraufführungs-Carmen Célestine Galli-Marié mit ihrer ursprünglichen Auftrittsarie unzufrieden war, weil sie ihr keine Gelegenheit bot, sich, wie sie sagte, "in den Hüften zu wiegen". Eine nahe liegende Vermutung ist deswegen, dass sie es war, die Bizet auf Yradiers Vorlage brachte ...



Die ursprüngliche Arie war also gar keine Habanera und wurde erst jetzt ediert, sodass sie nun von "Ihrer" Carmen - Gaëlle Arquez - zum ersten Mal gesungen werden konnte?

Ja, im ersten Konzert unserer Tournee hat das Antwerpener Publikum tatsächlich so etwas wie eine Weltpremiere erlebt, wobei Carmens Auftrittsarie nur einen Teil einer großen Menge Musik darstellt, die Bizet während der turbulenten Uraufführungsproben unter Druck von außen verworfen hat. Auch an allen weiteren Stationen der Tournee hat dann unsere Ur-"Carmen" erstaunlich gut funktioniert. Der Habanera wurde nicht nachgetrauert und ebenso wenig einigen weiteren, erst ganz am Ende auf Betreiben des Theaterintendanten hinzugefügten musikalischen Attraktionen, weil sie trotz Bizets brillanter Musik dramaturgisch völlig überflüssig sind: Zugeständnisse an die Vorliebe der Franzosen für exotische Tanzeinlagen oder an einen eitlen Sänger, der unbedingt eine Soloszene forderte.



Woraus man entnehmen könnte, dass diese "Ur-Carmen", deren Edition bei Bärenreiter Paul Prévost verantwortet hat, nicht nur für Philologen, sondern auch für die Hörer ein Gewinn ist?

Für mich verkörpert diese Fassung das Stück so, wie es Bizet vorschwebte, ehe er im Vorfeld der Uraufführung ins Getriebe der Eitelkeiten und Zumutungen der Bühnenpraxis geriet - denen er sich allerdings mit seinen schon vorhandenen Musiktheater-Erfahrungen auch nicht verweigerte. Zum Beispiel drohten die Choristen der Opéra-Comique sogar mit Streik, weil sie manche Passagen zu kompliziert fanden - die hat er dann eben zähneknirschend ausgelassen. Diese Musik sei "exécrable" (ekelhaft), schimpfte der Chor ... mit Ausnahme der Habanera! Das hat Bizet erbittert. Er wusste, dass seine ursprüngliche Auftrittsarie dem Text des Librettisten genau entsprach, während die Melodie der Habanera einfach nicht zu Halévys Versen passt. Zweifellos kommt auch der Sinn des Textes in der ursprünglichen Arie besser heraus: Stolz proklamiert Carmen ihr Ideal der freien Liebe. Sie betritt die Bühne als kapriziöse Kokotte, wird aber später immer neue und oft widersprüchliche Facetten ihrer Persönlichkeit zeigen, immer neue Carmens: die Zigeunerin, die Gebildete, die aufreizend Körperliche, die Zornige, die Loyale als Kopf der Schmugglerbande, die Feministin, die Zärtliche, die Fatalistin, die Teufelin. Nur der "richtigen" Carmen ist nicht beizukommen.



Also nicht nur die gängige, offensive, etwas ranschmeißerische Erotik?

Da haben sich Klischees eingebürgert und ebenso bei Carmens männlichen Kontrahenten, auch bei Micaëla. Nehmen wir Don José. Aus der behutsamen Instrumentierung seiner Rolle geht hervor, dass Bizet ihn als einen gebrochenen Charakter betrachtet, einen Versager, der in seinen Aggressivitätskrisen seiner Stimme ebenso Gewalt antut wie seinem Ich. Keinem romantischen Heldentenor, sondern einem verletzlichen Antihelden mutet er solch zarte Töne zu wie die "unmännlichen" Falsetttöne am Schluss der Blumenarie. Ebenso wenig ist Escamillo nur ein schneidiger Machotyp, sondern zeigt ebenfalls empfindsame Seiten. Die Partitur fordert von ihm auch leise Töne, dazu elegante, klein gedruckte Verzierungsnoten. Das ist kein bloßer Dreinschläger, der sich die Kehle aus dem Hals schreit! Micaëla ist laut Libretto siebzehn Jahre alt. Bizet stellt sie als eine sehr junge, aber auch erstaunlich starke Frau dar, deren Name auf den biblischen Erzengel Michael verweist. Die Instrumentierung und exakt vorgeschriebene Dynamik erfordern eine unverdorbene, überirdische Sopranstimme, die auch bitter klingen kann: die Stimme Michaels eben, der den Teufel besiegt. Und der Teufel heißt in dieser Oper Carmen, von José mehrfach "Dämon" genannt.



Sind Bizets peinlich genaue Anweisungen in der Partitur nicht manchmal Zeichen einer gewissen Pedanterie?

Sie sind Zeichen von Liebe - und wir versuchen sie genauso liebevoll umzusetzen: Jede Abstufung der Lautstärke ist wichtig, jede vom Komponisten im Klavierauszug mit Metronom festgelegte Tempoangabe, jedes Detail der Musiknotation. So geht aus dem Dancaïre zugewiesenen Tenorschlüssel im Autograph hervor, dass der großmäulige Schmugglerboss eben von einem Tenor gesungen werden muss, nicht von einem Bariton wie üblich! Mit dem historischen Instrumentarium unseres Orchesters werden bestimmte, oft verdeckte Feinheiten plötzlich deutlich hörbar.



Nun sollen die Sänger neben den vielen musikalischen Ansprüchen noch glaubwürdige Sprechdialoge gestalten, die teilweise von Ihnen selbst nachgeschliffen worden sind.

Meine "Nachschliffe" sind teilweise als Kürzungen gemeint. Aber meistens dienen sie dazu, bestimmte Figurenkonstellationen und die typischen Kontraste zwischen komischen und ernsthaften Szenen zu verschärfen. Wo notwendig, sollen sie die Darsteller ermutigen, heute überholte Redensarten moderner zu gestalten. Weder zur Zeit Mozarts noch zur Zeit Bizets haben die Akteure sich gescheut, den gedruckten Dialogtext abzuwandeln, um die Spontaneität einer frei geführten Unterhaltung zu erreichen. In diesem Sinne haben wir Meilhacs Uraufführungs-Dialoge überarbeitet: ein Prozess, der mit einem grübelnden Dirigenten und seinem szenischen Assistenten angefangen hat und mit den schauspielernden Sängern bis in die Endproben fortgeführt wurde. Ich habe übrigens versucht, die spielfreudigsten Chorsänger aus ihrer Anonymität zu befreien: Sie werden, wo es sich anbietet, beispielsweise als Carmens Freundinnen Frasquita und Mercédès oder das komische, an Laurel und Hardy erinnernde Schmugglerpaar Remendado und Dancaïre personalisiert. Und noch etwas Wichtiges kommt dazu: Die Zensur griff im Frankreich der Siebzigerjahre des neunzehnten Jahrhunderts bei öffentlichen Präsentationen wesentlich entschiedener zu als bei bloßer Literatur. Was also in Mérimées "Carmen"-Novelle von 1845, der Vorlage für die Oper, klar ausgesprochen werden konnte, war nicht zwangsläufig auch auf der Bühne erlaubt . . .



. . . und entsprechende Stellen haben Sie nun wieder ent-zensiert?

Ja, zum Beispiel Josés Erzählung im ersten Akt, der zu entnehmen ist, dass er nicht freiwillig zur Armee gegangen ist, sondern weil er wegen einer blutigen Schlägerei, vielleicht auch eines Totschlags, die Heimat verlassen musste. Oder die eigentlich ziemlich offenkundige Tatsache, dass sich Carmen ihren Lebensunterhalt auch durch Prostitution verdient. Und dann gibt es im Gespräch zwischen den Schmugglern gelegentlich Wendungen, die auf Ägypten hindeuten, was im Kontext der Handlung eigentlich ziemlich absurd wirken müsste . . .



Klären Sie uns bitte auf!

. . . wenn man nicht weiß, dass es seinerzeit eine von mehreren geläufigen Theorien war, dass die Roma - im damaligen Sprachgebrauch "Zigeuner" - eben aus Ägypten via Böhmen nach Europa eingewandert seien, weshalb Bizet das "Chanson bohème" Anfang des zweiten Aktes, in dem Carmen den rauscherzeugenden Klang uralter ägyptischer Instrumente besingt, eben pseudoaltägyptisch instrumentiert! Bizets Librettist Halévy nutzt dabei ein Wort wie "Bohème" - ähnlich wie Charles Aznavour in einem seiner Chansons - auch als Ausdruck für einen Lebensstil, der sich bürgerlichen Sitten und Regulierungen widersetzt. Dazu kommt, dass das französische Wort "Bohèmien" außerdem einen Einwohner von Böhmen und "une bohèmienne" zudem noch eine Prostituierte bezeichnen konnte. Perfekte Übersetzungen dieser Art von Wortspielen sind wohl illusorisch, aber die Lösungen im Programmheft der Elbphilharmonie scheinen mir die bestmöglichen.

Das Gespräch führte Gerald Felber.

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