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  • Hersteller: Better Music,
  • EAN: 8423834241135
  • Artikelnr.: 46875297
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.02.2018

Die Finsternis soll mir Heimat sein

Im Spinnennetz des Schicksals: Sidi Larbi Cherkaoui und Damien Jalet verwandeln die Debussy-Oper "Pelléas und Mélisande" in ein verrätseltes Ballett.

ANTWERPEN, 4. Februar

Golaud, ein Prinz, der in einem düsteren Schloss haust, umgeben von stehenden Gewässern und Wäldern voller verborgener Grotten, dieser dunkle, traurige Golaud begibt sich auf die Jagd. Er verfolgt das Wild, ohne zu bemerken, wie er tiefer und tiefer in die Wälder eindringt. Die Dunkelheit des Grüns um ihn her lässt ihn die Zeit vergessen. Er ist ein Prinz, aber kein Regent. Aus welchem Reich? Erwartet ihn niemand zurück? Als Golaud bemerkt, dass er die Spur des Wildes längst verloren hat, fällt ihm auf, dass er keine Ahnung hat, wo er sich befindet. Da erblickt er Mélisande, die weint und vor ihm zurückscheut. Er weiß, woher er kommt und dass er seinen Weg verloren hat. Von ihr weiß auch am Ende des Abends niemand, wie sie in diesen Wald gelangt ist, am Rande eines trüben Tümpels, in dem ihre Krone liegt, die ihr jemand aufgesetzt hat, vor dem sie geflohen ist. Sie will nicht zurück, sie will die Krone nicht mehr tragen, aber sie weiß auch nicht, wohin sie stattdessen will. Sie kann nur weinen, kaum sprechen. Golaud will die Unglückliche nicht zurücklassen. Irgendwann gibt sie nach und folgt ihm auf sein Schloss.

Am Ende der Geschichte, die Claude Debussys Musik wie ein Strom betörend süßer, dunkler Melodien zum Klingen bringt, am Ende der drei Stunden, die es braucht, bis sich Maurice Maeterlincks symbolistisches Trauerspiel zu Ende erzählt hat, am Ende ist Mélisande tot. Sie hat einem Kind das Leben geschenkt zuletzt, aber sonst alles verloren. Golaud, der sie geheiratet und auf sein Schloss geführt hat, tötete den Mann, den sie liebte, seinen Halbbruder Pelléas. Das lyrische Drama heißt zwar "Pelléas et Mélisande", aber die beiden Liebenden sind kein Paar, sondern zu betrauernde Tote. Oder will Maeterlinck zeigen, dass die Unglücklichen die Überlebenden sind? Golaud fällt am Bett der sterbenden Mélisande auf die Knie und bittet sie um Vergebung für das, was er ihr angetan hat.

Sicher sind es die Überlebenden, die Erkennenden, denen unser Mitleid gehört, und im Opernhaus von Antwerpen möchte man vor dem knienden Golaud selbst auf die Knie fallen, so ergreifend singt und spielt Leigh Melrose diese letzten Momente. In der neuen Inszenierung der beiden Choreographen Sidi Larbi Cherkaoui und Damien Jalet hört man auf, sich zu fragen, was das soll, dieses "Drâme Lyrique" aufzuführen, in Zeiten von Tinder. Da kaum noch jemand Schlösser besitzt, sie nicht in Hotels verwandelt oder Zeit hat, verschlungene Wege zu gehen, in Brunnen nach verlorenen Ringen zu tauchen, ist es so interessant, den Vorschlägen Maeterlincks, Debussys und des Antwerpener Teams zu folgen. Das Bühnenbild von Marina Abramovic zeigt, dass es um Verborgenes, Verlorenenes, Sichtbares und Undurchdringliches, um kleinstes Nächstes und um den weiten Kosmos geht. Das schwarzglänzende Halbrund, das die Figuren einschließt, wenn die Szene im Schloss spielt, ist das Innere eines Auges. Was sehe ich, was erkenne ich, was sieht der andere in mir, das sind die Fragen innerhalb des Dreiecksverhältnisses der Halbgeschwister Pelléas und Golaud mit Mélisande. Spielt das Geschehen draußen, auf Wegen, in Parks, in Wäldern, in Grotten und Höhlen, dann senkt sich ein großer Ring vom Bühnenhimmel, der zur Projektionsfläche wird für Marco Brambillas Videos von nächtlichen Sternenhimmeln, der Milchstraße oder einem riesigen Augapfel. Wenn Pelléas (Jacques Imbrailo) und Mélisande (Mari Eriksmoen) gesehen, beobachtet werden von Golauds Auftragsspion, seinem Sohn Yniold (Anat Edri), dann, wie sie in diesem zur Erde gelegten Ring stehen, auf ihm balancieren, mit ihm sich wegdrehen. Ist ihre ganze Begegnung, ihre Geschichte, nur Phantasie, spielt sie sich nur in Golauds Kopf ab?

Den sieben großartig singenden Protagonisten der Oper steht ein Corps von sieben männlichen Tänzern gegenüber. Manchmal senkt sich der Vorhang vorne an der Rampe, dann bilden die fast nackten, nur mit hautfarbenen Shorts bekleideten muskulösen Leiber gefährlich nahe am Orchestergraben Formationen, die geometrisch abstrakt Konstellationen und Symbolismen des Stücks durchspielen, etwa als vervielfachter Atlas, gejagte, gekrümmte, unglücksbeladene Gestalten. Auf der Szene verkörpern sie oft das Schicksal, indem sie Mélisande lenken mit langen, elastischen Zügeln, zurückhalten wie im Spinnennetz der Handlung. Immer wieder gibt es Bilder von Abramovic, Jalet und Cherkaoui, die Bewegung in die Verzweiflung bringen, in die vergebliche Suche nach Sinn und Verbindung, wo nur ein gleichgültiger Kosmos das menschliche Chaos umfängt. Eigentlich aber entwickelt sich das Gesamtkunstwerk, das von einer wachsenden Anzahl übermannsgroßer phallischer Kristalle beherrscht wird, zu einer illustrierten, bewegten musikalischen Arbeit, die das Gleiche ausdrückt wie Abramovic, Jalet und Cherkaoui in ihren jeweiligen Performances. Ziel ist, ein Innehalten herzustellen für das Publikum, im Alltag, im Chaos, eine Situation entstehen zu lassen, in der das Gefühl für Zeit und Raum schwindet. Eine halb bequeme, halb unbequeme Lage, in der mancher vom Tag erschöpfte Zuschauer vielleicht einnickt, aber leicht zurückfindet, vom Sog der Inszenierung mitgenommen wird.

Was geschieht, wenn das Publikum in diese meditative innere Stille einkehrt, in der es zwar dem Geschehen folgt, aber auch auf existentielle, eigene Gefühle hingelenkt wird, wenn man gleichsam einem visuellen und akustischen Geschehen folgt, das zurückverweist auf das individuelle Schicksal? Das dürfte die letztgültige Legitimation sein für den hier betriebenen Aufwand. Der Dirigent Alejo Pérez und das "Symfonisch Orkest Opera Vlaanderen" untermalen wunderschön Bergungsarbeiten. Was zutage kommt, ist die Gewissheit, dass nichts realistischer ist, als akzeptieren zu können, dass unsere Wirklichkeit ein Enigma bleiben wird.

WIEBKE HÜSTER

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