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  • EAN: 0745099286620
  • Artikelnr.: 61028242
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.04.2024

Höhenflug eines Stadttheaters
Ulm zeigt Richard Wagners "Parsifal" und verbucht steigende Abonnentenzahlen

Kann das sein? 142 Jahre nach der Uraufführung wird Richard Wagners "Parsifal" erstmals in Ulm gespielt. Nicht einmal Herbert von Karajan hatte das Stück angesetzt, als er dort Anfang der 1930er-Jahre Kapellmeister war.

Was jetzt in Ulm passiert, ist kein Zeichen von übertriebenem Ehrgeiz, sondern das Ergebnis einer klugen Spielplan- und Ensemblepolitik. Eineinhalb Jahre ist es her, da sorgte die Uraufführung von Charles Tournemires 1926 komponierter "Légende de Tristan" für einen überregionalen Coup. Mit Wagner hatte dieser "Tristan" nichts zu tun. Tournemire, sonst nur Organisten ein Begriff, erwies sich als Opernkomponist eigenen Formats, der weit mehr ist als ein Missing Link zwischen seinem Lehrer César Franck und seinem Schüler Olivier Messiaen. Für Mai 2025 plant das Theater Ulm die nächste postume Uraufführung: Tournemires "Le petit pauvre d'Assise", der zwischen 1937 und 1939 entstand. Wieder wird das Stück erstmals ediert. Dass man Messiaens "François d'Assise" danach mit anderen Ohren hört, dürfte außer Frage stehen.

Dazwischen nun "Parsifal". Nicht dass die Aufführung an einem Haus stattfindet, das seiner Rechtsform nach Stadttheater ist, entscheidet, sondern das "Wie". Wie bei Tournemire ist Felix Bender ein Motor des Abends: Der Ulmer Musikchef versteht Wagners Spätwerk keineswegs als weihevollen Gottesdienst. Er schlägt schnelle Tempi an, kümmert sich aber auch bis ins Detail um die Finessen der Instrumentation. Wagners klangliche Experimente und harmonische Schroffheiten kommen plastisch heraus. Gleichzeitig sind die großen architektonischen Blöcke mit Ohren zu greifen. Was sich über alle stilistische Idiomatik hinaus vermittelt, ist der innermusikalische Spannungszustand, den Wagner im "Parsifal" besonders raffiniert anlegt. Das Philharmonische Orchester spielt mit einer Dringlichkeit und Entdeckerfreude, die in der Wagner-Routine mancher Staatstheater verloren gegangen ist.

Kay Metzger, der Intendant des Hauses, zeigt die Gralsritterschaft als aggressiv-egomane Glaubensgemeinschaft, die sich zwischen Waffenweihe und militärischem Aufmarsch eine Zukunft sichern will. Gott ist hier schon lange tot. Der überlebensgroße Christus im Zentrum der Bühne fällt fast vom Kreuz, wenn von den "Wunderkräften" des Grals die Rede ist. Im zweiten Akt hängt er wieder richtig und ist doch falsch am Platz: Love-Guru Klingsor und die ihm in Hassliebe ergebenen Blumenmädchen feiern eine hippe Hasch-Party. Während des Karfreitagszaubers werden die Trümmer der zerborstenen Christusfigur von Kundry und Parsifal beerdigt. Beide sind deutlich als Paar gezeichnet und weisen am Schluss den Weg in eine von Dogmen befreite Zukunft. Das raumfüllende Riesenkreuz kracht zu Boden, niemand kann es aufstemmen. Symbolisiert das Handkreuz, mit dem Kundry vorangeht, einen menschlich geläuterten Glauben? Die Inszenierung braucht keinen Zeigefinger, um Wagners Kirchenkritik an aktuelle Probleme heranzurücken. Sie greift Text und Subtext gleichermaßen auf und hält sich an eine hermeneutisch geschulte Narration, die es nicht nötig hat, die bei diesem Stück beliebten Katastrophen-Szenarien erneut auszubreiten.

Der Applaus hatte den Charakter einer Ovation, die dem Haus als Ganzes galt. Das heißt auch: den Ensemblemitgliedern, die einen großen Teil der Besetzung stellen und dem Publikum in verschiedensten Rollen vertraut sind. Markus Francke, der Tournemires Tristan sang, bewältigt nun Parsifals Ausbrüche und Lyrismen gleichermaßen gelassen. Die ukrainische Sopranistin Maryna Zubko, die sonst mit Donizettis Anna Bolena brilliert, ist diesmal einfach als Blumenmädchen dabei. Als Gäste wurden nur Sabine Hogrefe als Kundry und Wilfried Staber gebucht, dessen Gurnemanz belcantische Qualität entfaltet. Auch das ist eben Stadttheater: Es funktioniert nur, wenn sich alle mit dem identifizieren, was sie tun. Dieser Geist ist es, der dem Ulmer Theater derzeit einen Höhenflug beschert.

Die Stadtgesellschaft hat das ebenso erkannt wie das überregionale Publikum. Es hilft eben nicht, wenn Theater über Corona-Folgen und ein verändertes Freizeitverhalten jammern. Man muss damit umgehen und Raum für ästhetisches Erleben schaffen, das als existenziell wahrgenommen werden kann. In Ulm steigen die Abozahlen wieder, weil ein Theater nicht nur wichtige Fragen unserer Zeit stellt, sondern sich - mit Gadamer gesprochen - in diese Fragen hineinstellt. Ein umfangreiches Rahmenprogramm führte auf "Parsifal" hin. Anselm Grün diskutierte über Selbstfindung und Gefahren im Ritual, der Musikchef setzte sich, wenn nötig, persönlich ans Klavier. 28 Premieren in vier Sparten bietet die laufende Spielzeit, darunter auch das "Junge Theater". Natürlich muss ein Kassenfüller wie "Tosca" dabei sei. Ansonsten reicht der Bogen im Musiktheater vom barocken Pasticcio bis zu George Benjamins jüngster Oper "Lessons in Love and Violence", die zum Ende der Saison ansteht. So bewährt sich Stadttheater als lebendiges Kulturerbe ersten Ranges. STEPHAN MÖSCH

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