Produktdetails
- Anzahl: 1 Vinyl
- Erscheinungstermin: 8. September 2023
- Hersteller: 375 Media GmbH / DRAG CITY / INDIGO,
- EAN: 0781484075912
- Artikelnr.: 68345860
- Herstellerkennzeichnung
- Drag City, Inc.
- 375 Media GmbH
- Schachthofstraße 36a
- 21079 Hamburg
- https://375media.com/
LP | |||
1 | All the Rains | ||
2 | F for Fake | ||
3 | Morning, pt 1 | ||
4 | Morning, pt 2 | ||
5 | For LMC2 | ||
6 | Evening, Not Night, pt 1 | ||
7 | Evening, Not Night, pt 2 | ||
8 | Untitled (w/o Rain) |
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2023Werwölfe, die lieb sind
Unheimliche Begegnung der sechs Gitarrensaiten: David Grubbs nimmt den Ball auf, den ihm John Fahey aus dem Jenseits zuspielt
Wie sag ich's meinem Kinde? Wie meinem Arzt oder Apotheker? Am besten ist wohl ein volles Geständnis: Die Musik und das literarische Werk des 2001 in Oregon verstorbenen Gitarristen John Fahey liegen mir sehr am Herzen. Seine Erzählungen sind unerreichte Studien in Sachen verletzter Kinderseele, verletzter Männlichkeit; seine Musik ist die fast widerwillige Aneignung einer für ihn bereits in den frühen Sechzigern verschwindenden Welt: Die Kultur Afroamerikas und jene des ländlichen, weißen Amerika schienen Fahey nur mehr auf einer abdriftenden Realitätsscholle namens Vergangenheit zu existieren, wurden ihm stündlich unschärfer, unerfahrbarer, unwirklicher. Und John Fahey lauschte und blickte diesem Verschwinden nach, versuchte zu abstrahieren, zusammenzufassen, zu retten, was zu retten war an Klängen aus der Frühzeit der mechanischen Tonaufzeichnung, bis ihm selbst die Musik, die er da hörte und machte, fremd wurde, mehr einem weißen Rauschen ähnelnd als den elaborierten, von Fahey allerdings "american primitive" genannten Klängen auf Tondokumenten, die Gegenstand seiner zwischen Sammelwut und akademischer Pedanterie changierenden, tatsächlich zwanghaften Liebe waren.
Und genau an diesem Punkt, wo nur noch eine kleinste Zeitspanne bleibt, bevor man durchdreht, bevor man wie so viele Blues-Sammler verarmt und verwahrlost in irgendeiner Absteige vor sich hin stirbt, mittellos, hilflos, lieblos und voller Verachtung für die Gegenwart, da entstehen die Aufnahmen, die jetzt, Jahrzehnte später, als "Proofs and Refutations" von dem treu ergebenen Drag City Label in Chicago veröffentlicht werden. Es ist ein ebenso schreckliches wie für den an Fahey Interessierten unverzichtbares Album - spontan fallen mir als Vergleiche Billie Holidays "Last Recording" oder das Spätwerk von Townes van Zandt ein, wo man ebenfalls Musikern unverstellt beim Sterben zuhören muss, Jahre, Lichtjahre von ihrer großen Zeit entfernt, aber immer wieder vom Leben genötigt, sich noch einmal der vergeblichen Hoffnung der Fans auf ein Wunder hinzugeben.
John Fahey in einem Motelzimmer, nachdem er Jahre in einem Auto gehaust hat: Da ist nichts mehr, was an den versierten Techniker erinnert, den Epiker des Einfachen, den Guru einer ganzen Generation von Gitarristen - sein getreuster Jünger Glenn Jones hat mit "Vade Mecum" im vorigen Jahr seine bisher vermutlich beste Platte veröffentlicht -, unerhört, der bekennende Instrumentalist Fahey singt sogar, besser: Er macht Tonbandexperimente mit seiner Stimme. Den Kuchen besitzen und gleichzeitig essen, wer wüsste es nicht, ist auch ihm unmöglich. Es dauert fast eine halbe Stunde, bis man so etwas wie Gitarrenpicking zu hören bekommt, verlernt, vergessen. Und hier beginnt man zu verstehen, dass es Fahey wohl genau darum geht: All dies, was er in seinem Leben an Können und Expertise angehäuft hat, wieder zu verlernen, sich und seinem Körpergedächtnis zu verbieten, weiter John Fahey zu sein. Künstlerische Selbstverstümmelung als Rettungsversuch. Die letzten Lebensjahre waren wohl geprägt von einem lauten Dröhnen, das da von der Bühne herunter auch noch die letzten Fans vergraulte: Musiker wie der bereits erwähnte Glenn Jones, wie Mayo Thompson von Red Crayola, wie David Grubbs von Gastr del Sol erzählten mir immer wieder, wie sie hilflos, fassungslos in einem leergespielten Raum standen, wie gegen einen Sturmwind gelehnt in dieses Gitarrengewitter hineinlauschend, dem nachspürend, was einem Fahey da vielleicht doch noch mitzuteilen versuchte.
David Grubbs ist neben seiner sehr singulären Gitarristen-Existenz zwischen kleinen Bühnen und großen Museen ein veritabler Universitätsprofessor und Autor diverser Kunst- und Musikbücher geworden - und im Gegensatz zu John Fahey ein Großmeister des kollaborativen Musizierens. Seine aktuelle Duo-Platte "Braintrust of Fiends and Werewolves" entstand in langen Sessions mit dem argentinischen Vielveröffentlicher Alan Courtis und erhält tatsächlich in der Gegenüberstellung mit dem nihilistischen Fahey-Opus eine noch größere Bedeutung, ermöglicht sie einem zu hören, wie sich hochgradig abstrahierte Gitarrenmusik anhören, anfühlen kann, wenn man nicht mit den Dämonen und Selbstbeschränkungen zu kämpfen hat wie der kreuzunglückliche John Fahey. Die ausgewählten und zu "Stücken" deklarierten Fragmente der Courtis/Grubbs-Sessions scheinen auf gewisse Weise ebenfalls vergessen zu wollen, was beider Gitarrenspiel bisher charakterisiert hat. Auch hier beginnen zwei Gitarristen jeweils mit bekannt scheinenden Mustern, die schleunigst abgelegt werden wollen. Doch setzt hier eben nicht Verzweiflung, Verneinung, Selbsthass ein, sondern eine Art intellektueller Liebe zur Musik, zu den Klangmöglichkeiten des Gegenübers. Diese Musik sagt "Ja" zu den Möglichkeiten des anderen, zu den Chancen, die Popmusik bietet ebenso wie zu den Verfahren ausgefuchster E-Musik-Kompositionstechniken. Dies sind keine Werwölfe und Missgestalten, die einem Böses wollen, wie der Albumtitel mit einem schrägen Lächeln suggeriert, sondern im Gegenteil: Hier wird ohne Worte das Hohelied der Liebe und Freundschaft gesungen, wird das Leben gefeiert. Auch dies ist ohne John Fahey so nicht denkbar. Aus dessen Verzweiflung und Lebensabgewandtheit zieht gerade David Grubbs seine Schlüsse und umarmt uns mit seiner Kunst. Allein deshalb gebührt auch Fahey größter Dank. KARL BRUCKMAIER
John Fahey: "Proofs
and Refutations".
Drag City (Indigo)
Alan Courtis & David Grubbs: "Braintrust
of Fiends and
Werewolves".
Husky Pants (Über Bandcamp)
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Unheimliche Begegnung der sechs Gitarrensaiten: David Grubbs nimmt den Ball auf, den ihm John Fahey aus dem Jenseits zuspielt
Wie sag ich's meinem Kinde? Wie meinem Arzt oder Apotheker? Am besten ist wohl ein volles Geständnis: Die Musik und das literarische Werk des 2001 in Oregon verstorbenen Gitarristen John Fahey liegen mir sehr am Herzen. Seine Erzählungen sind unerreichte Studien in Sachen verletzter Kinderseele, verletzter Männlichkeit; seine Musik ist die fast widerwillige Aneignung einer für ihn bereits in den frühen Sechzigern verschwindenden Welt: Die Kultur Afroamerikas und jene des ländlichen, weißen Amerika schienen Fahey nur mehr auf einer abdriftenden Realitätsscholle namens Vergangenheit zu existieren, wurden ihm stündlich unschärfer, unerfahrbarer, unwirklicher. Und John Fahey lauschte und blickte diesem Verschwinden nach, versuchte zu abstrahieren, zusammenzufassen, zu retten, was zu retten war an Klängen aus der Frühzeit der mechanischen Tonaufzeichnung, bis ihm selbst die Musik, die er da hörte und machte, fremd wurde, mehr einem weißen Rauschen ähnelnd als den elaborierten, von Fahey allerdings "american primitive" genannten Klängen auf Tondokumenten, die Gegenstand seiner zwischen Sammelwut und akademischer Pedanterie changierenden, tatsächlich zwanghaften Liebe waren.
Und genau an diesem Punkt, wo nur noch eine kleinste Zeitspanne bleibt, bevor man durchdreht, bevor man wie so viele Blues-Sammler verarmt und verwahrlost in irgendeiner Absteige vor sich hin stirbt, mittellos, hilflos, lieblos und voller Verachtung für die Gegenwart, da entstehen die Aufnahmen, die jetzt, Jahrzehnte später, als "Proofs and Refutations" von dem treu ergebenen Drag City Label in Chicago veröffentlicht werden. Es ist ein ebenso schreckliches wie für den an Fahey Interessierten unverzichtbares Album - spontan fallen mir als Vergleiche Billie Holidays "Last Recording" oder das Spätwerk von Townes van Zandt ein, wo man ebenfalls Musikern unverstellt beim Sterben zuhören muss, Jahre, Lichtjahre von ihrer großen Zeit entfernt, aber immer wieder vom Leben genötigt, sich noch einmal der vergeblichen Hoffnung der Fans auf ein Wunder hinzugeben.
John Fahey in einem Motelzimmer, nachdem er Jahre in einem Auto gehaust hat: Da ist nichts mehr, was an den versierten Techniker erinnert, den Epiker des Einfachen, den Guru einer ganzen Generation von Gitarristen - sein getreuster Jünger Glenn Jones hat mit "Vade Mecum" im vorigen Jahr seine bisher vermutlich beste Platte veröffentlicht -, unerhört, der bekennende Instrumentalist Fahey singt sogar, besser: Er macht Tonbandexperimente mit seiner Stimme. Den Kuchen besitzen und gleichzeitig essen, wer wüsste es nicht, ist auch ihm unmöglich. Es dauert fast eine halbe Stunde, bis man so etwas wie Gitarrenpicking zu hören bekommt, verlernt, vergessen. Und hier beginnt man zu verstehen, dass es Fahey wohl genau darum geht: All dies, was er in seinem Leben an Können und Expertise angehäuft hat, wieder zu verlernen, sich und seinem Körpergedächtnis zu verbieten, weiter John Fahey zu sein. Künstlerische Selbstverstümmelung als Rettungsversuch. Die letzten Lebensjahre waren wohl geprägt von einem lauten Dröhnen, das da von der Bühne herunter auch noch die letzten Fans vergraulte: Musiker wie der bereits erwähnte Glenn Jones, wie Mayo Thompson von Red Crayola, wie David Grubbs von Gastr del Sol erzählten mir immer wieder, wie sie hilflos, fassungslos in einem leergespielten Raum standen, wie gegen einen Sturmwind gelehnt in dieses Gitarrengewitter hineinlauschend, dem nachspürend, was einem Fahey da vielleicht doch noch mitzuteilen versuchte.
David Grubbs ist neben seiner sehr singulären Gitarristen-Existenz zwischen kleinen Bühnen und großen Museen ein veritabler Universitätsprofessor und Autor diverser Kunst- und Musikbücher geworden - und im Gegensatz zu John Fahey ein Großmeister des kollaborativen Musizierens. Seine aktuelle Duo-Platte "Braintrust of Fiends and Werewolves" entstand in langen Sessions mit dem argentinischen Vielveröffentlicher Alan Courtis und erhält tatsächlich in der Gegenüberstellung mit dem nihilistischen Fahey-Opus eine noch größere Bedeutung, ermöglicht sie einem zu hören, wie sich hochgradig abstrahierte Gitarrenmusik anhören, anfühlen kann, wenn man nicht mit den Dämonen und Selbstbeschränkungen zu kämpfen hat wie der kreuzunglückliche John Fahey. Die ausgewählten und zu "Stücken" deklarierten Fragmente der Courtis/Grubbs-Sessions scheinen auf gewisse Weise ebenfalls vergessen zu wollen, was beider Gitarrenspiel bisher charakterisiert hat. Auch hier beginnen zwei Gitarristen jeweils mit bekannt scheinenden Mustern, die schleunigst abgelegt werden wollen. Doch setzt hier eben nicht Verzweiflung, Verneinung, Selbsthass ein, sondern eine Art intellektueller Liebe zur Musik, zu den Klangmöglichkeiten des Gegenübers. Diese Musik sagt "Ja" zu den Möglichkeiten des anderen, zu den Chancen, die Popmusik bietet ebenso wie zu den Verfahren ausgefuchster E-Musik-Kompositionstechniken. Dies sind keine Werwölfe und Missgestalten, die einem Böses wollen, wie der Albumtitel mit einem schrägen Lächeln suggeriert, sondern im Gegenteil: Hier wird ohne Worte das Hohelied der Liebe und Freundschaft gesungen, wird das Leben gefeiert. Auch dies ist ohne John Fahey so nicht denkbar. Aus dessen Verzweiflung und Lebensabgewandtheit zieht gerade David Grubbs seine Schlüsse und umarmt uns mit seiner Kunst. Allein deshalb gebührt auch Fahey größter Dank. KARL BRUCKMAIER
John Fahey: "Proofs
and Refutations".
Drag City (Indigo)
Alan Courtis & David Grubbs: "Braintrust
of Fiends and
Werewolves".
Husky Pants (Über Bandcamp)
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main