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  • Hersteller: RCA,
  • EAN: 0090266048625
  • Artikelnr.: 26289978
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.06.2018

Sechzehn Jahre Schafskälte
Sir Simon Rattle nimmt bezeichnend Abschied von den Berliner Philharmonikern

Marschtritte im Tritonus, Triumph des Teufels, aber immerhin: ein Triumph! Die "Pinien der Via Appia", Finale der "Pini di Roma" von Ottorino Respighi, waren das Lieblingsstück von Benito Mussolini. Der Duce fühlte sich erkannt, denn natürlich hatte hier sein musikalischer Bewunderer Respighi, politisch naiv, aber sehr italienisch gesinnt, Mussolinis "Marsch auf Rom" anno diaboli 1922 in ein dröhnendes Historiengemälde verwandelt. Mit dieser kolossalen Schwarzhemdensymphonik ließ Sir Simon Rattle am Johannistag den offiziellen Teil seines Konzertes mit den Berliner Philharmonikern, also seinen letzten Auftritt in offizieller Funktion als Chefdirigent dieses Orchesters, ausklingen. Vielleicht empfand er das ja als eine gerade noch der Schicklichkeit genügende Reverenz an den Ort, so unweit vom Olympiastadion. Auf diese Weise jedenfalls waren die Italiener, "unsere lieben Mitfaschisten", wie der Verleger Klaus Wagenbach sie einmal zärtlich genannt hatte, auch vertreten in einem Programm, das ansonsten nur die vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs versammelte.

Den Anfang hatten die Amerikaner gemacht mit gutgelaunter Zuckerrohrsymphonik in Gestalt von George Gershwins "Cuban Ouverture" samt schmelzend süßen Soli von Wenzel Fuchs an der Klarinette. Dann folgten die Franzosen mit der "Pavane" von Gabriel Fauré und den "Chants d'Auvergne" des - immerhin - Vichy-Collaborateurs Joseph Canteloube: schöne, ländliche Musik, herzerwärmend gesungen mit der barfüßigen Stimme eines Dorfstrolchs von Rattles Frau Magdalena Kozená. Und schließlich riss es die dreiundzwanzigtausend Hörer, die geduldig im Dauerregen und in der Schafskälte mit Daunenmänteln und Gefrierbeuteln als Duschhaubenersatz auf den Haaren ausharrten, von den Sitzen, als die Lesginka - Stalins Lieblingstanz übrigens - den Abschluss des sowjetischen Blocks markierte: Tänze aus dem Ballett "Gajaneh" von Aram Chatschaturjan 1941 bis 1943 geschrieben, virtuose Erntehelfersymphonik im Stil des zaristischen Kolonialismus, mit dem schon Alexander Borodin und Nikolaj Rimski-Korsakow die kaukasischen und mittelasiatischen Expansionsbestrebungen Russlands musikalisch meisterhaft begleitet hatten.

Die Briten kamen dann endlich in der Zugabe an die Reihe. "Ich glaube, Sie lieben Märsche", wandte sich Sir Simon an die Berliner. "Wir in Großbritannien auch, aber etwas ironischer." Was dann folgte, war der "Pomp and Circumstance March No. 1" von Sir Edward Elgar, das denkbar unironischste Stück englischer Musik, geschrieben von einem grundehrlichen, todernsten Mann, für den britischer Imperialismus und Humanismus deckungsgleich waren. "Wider still and wider shall thy bounds be set. God, who made thee mighty, make thee mightier yet", singen die Briten bis heute zur Melodie des Mittelteils. Das heißt so viel wie: "Heute gehört uns England und morgen die ganze Welt". Nun ja, wenn die bunten Fahnen wehen, ist der Verstand in der Trompete, sagen die Böhmen, und die Trompeter, auch die Posaunisten, alle Blechbläser der Philharmoniker, hatten sich für diese Nummer Simon-Rattle-Lockenperücken auf den Kopf gestülpt.

Dies alles, die Ankündigung genau dieses Marsches mit der Bemerkung "wir auch, aber ironischer" ließ wie unter einem Brennglas das tiefe Missverständnis zwischen Simon Rattle und Berlin, das nun sechzehn Jahre gewährt hat, hervortreten. Als er im Spätwinter 2002 aus Birmingham nach Berlin gekommen war, eröffnete er die Proben zu Johann Sebastian Bachs Johannespassion vor dem Orchester und dem Rias-Kammerchor mit der Ankündigung, er werde jetzt "den Staub von diesem Werk blasen". Ohne die gewachsene und hoch reflektierte Aufführungstradition vor Ort zu Wort kommen zu lassen, ohne großen Respekt für etwas, das man "geistige Heimat" nennen könnte, ging er damals forsch ans Werk: Ich zeig euch, wie Bach geht.

Und dann musste er den Deutschen auch zeigen, dass klassische Musik "kein Luxus" sei und in die sozialen Brennpunkte getragen werden müsse. Dabei hatten in der Stadt die Berliner Symphoniker dreißig Jahre lang Bildungsarbeit in den Schulen geleistet; dabei ackerten die Musiktheaterpädagogen im unglamourösen Grau des Alltags längst mit matten Schülern, die sich nicht im mindesten für Oper interessierten. Doch das Education Event der Philharmoniker mit 250 Jugendlichen aus Berliner Schulen zu Igor Strawinskys Ballett "Le sacre du printemps", im Film "Rhythm is it" festgehalten, katapultierte Rattle und sein Orchester in die Position des Marktführers in diesem Angebotssegment. Rattle galt mit einem Mal als Erfinder von etwas, das es lange vorher - auch ohne Sponsoren, die als "Kulturbürger" auftreten konnten - gegeben hatte.

Rein dirigentisch fiel Rattle von Anfang an durch seinen Bewegungsdrang auf. Er betrachtete das Orchesterspiel als ständiges Interventionsgebiet, griff in fast jede Phrase ein. Jetzt, als er die Philharmoniker unter der Leitung von Herbert Blomstedt und Bernard Haitink hörte, gestand er, dass man wahrscheinlich erst neunzig werden müsse, um dieses Orchester richtig dirigieren zu können: "Vielleicht habe ich nie richtig zugehört." Ganz offenbar hatte Rattle den Eindruck, immer etwas tun zu müssen, eingreifen, umprägen, ja, umerziehen: die Stadt genauso wie das Orchester. Nun sind aber die Berliner Philharmoniker ein Ensemble, das Druck mit Gegendruck beantwortet und Herausforderungen nicht nur annimmt, sondern erwidert. Und hört man sich die Stellungnahmen von Sir Simon aus den letzten Jahren an, so war seine Arbeit als Chefdirigent in Berlin für ihn weitaus mehr Herausforderung als Vergnügen. Liebe, Freude, Hingabe, Gelöstheit hat man da wenig bemerkt. Kraft oft, manchmal auch Härte, immer Anspannung. Blickt man auf die Stücke, die sich das Orchester in diesen sechzehn Jahren neu oder vertiefend erschlossen hat, Musik von Helmut Lachenmann genauso wie von Sergej Rachmaninow, wichtige Uraufführungen von Hans Abrahamsen und Wolfgang Rihm, so ist das eine gute, ertragreiche Zeit gewesen. Aber die Sehnsucht nach einem Umgang miteinander, der weniger ein Ringen, mehr ein Verstehen ist, die spürt man nun auch.

Rattles Begründung, den Berliner Chefposten 2018 aus Altersgründen abzugeben, war obsolet, als er den Chefposten beim London Symphony Orchestra übernahm. Über die deutsche Sprache hatte er einmal gesagt, sie habe einen "absolut unenglischen Mangel an Nuancen und Zwischentönen". Er soll aber alle Romane von Thomas Mann im Original gelesen haben. Vielleicht ist Rattles Verständnis von Ironie für uns Deutsche einfach zu komplex.

JAN BRACHMANN

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