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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Wild wuchern die Träume aus Koloraturblüten
In Ludwigsburg zeigt Christina Pluhar, warum Pergolesis Mariengedicht eine zutiefst erotische Musik ist

Das Publikum: ein unbekanntes Wesen. Ja, in dieser Haut steckt keiner drin. Heute Abend, zum Beispiel, spielt Martha Argerich bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen gemeinsam mit ihrer famosen Freundin Lilya Zilberstein und deren Söhnen ein vier- bis achthändiges Mendelssohn-Programm. Sie sind passgenau zum Halbfinale fertig. Argerich tritt überhaupt nur zweimal damit in Deutschland auf. Heute in Ludwigsburg aber wird sie, was ihr seit Jahren nicht oder womöglich noch nie widerfuhr, vor leeren Sitzreihen spielen. Wieso? Wer ist Argerich?

Eine Legende ist sie, die Callas des Klaviers! In langen Schlangen stehen die Pianomaniacs an, um sie zu hören, von London über Tokio bis Berlin. Doch einen Tag vor dem Ludwigsburger Auftritt sind erst zwei Drittel der Tickets verkauft, es ist auch kaum damit zu rechnen, dass die ahnungslosen Ludwigsburger oder gar die gemütlichen benachbarten Stuttgarter plötzlich die Abendkasse stürmen werden. Fragt sich: Wo liegt Ludwigsburg? Hinter dem Mond?

Es gibt einen Präzedenzfall dazu, der Mut macht. Vor Jahr und Tag stiegen auch die Alte-Musik-Diva Christina Pluhar und die französische Countertenor-Röhre Philippe Jaroussky erstmals in Ludwigsburg aus dem Zug. Sie kamen, um mit Pluhars preisgekröntem Ensemble L'Arpeggiata bei den Schlossfestspielen aufzuspielen. Sangen und spielten dann aber nur für eine Handvoll Freunde. Publikum kann man das wohl kaum nennen, zweihundert Zuhörer verteilten sich damals im Saal. Jetzt aber, vier Jahre später, ist er rappelvoll und überbucht: Draußen laufen die Pluhar-Fans mit Suche-Karte-Schildchen herum. Drinnen aber schwelgen sie, mit geschlossenen Augen, lassen sich treiben durch all die wild und schön wuchernden Koloraturblütenträume, die Zink- und Geigenausflüge, die Orgelimprovisationen und Klavierintermezzi, die allesamt freilich gut festgezurrt und vor dem Absturz gesichert sind durch den zuverlässig fallenden Grundbass in Pluhars Bearbeitung.

Ja, Pluhar hat sich in Ludwigsburg ein Publikum erspielt, erworben oder auch erzogen, das zu den besten gehört, die man sich nur denken kann: diese Leute lieben offenbar nicht nur den exotischen Klang von Zink und Theorbe und hohen Falsettstimmen; sie kennen und mögen nicht nur Henry Purcell und seine Lautenlieder, Songs und Tänze aus dem nachelisabethanischen Zeitalter. Sie können auch dieser Musik kreativ entgegenhören. Und zwar eben nicht nur den Songs, die man halt kennt, sondern auch, in der gleichen atemlos-andächtigen Anspannung, den freien Improvisationen darüber, die sie nicht kennen.

Am Ende kocht das Auditorium, man jubelt, trampelt, springt von den Sitzen auf und will die fünfzehn Musiker gar nicht mehr gehen lassen. Der Jazz-Klarinettist Gianluigi Trovesi ist diesmal mit dabei, der so wundersam pflaumenblaue, betrunkene Melodie-Ranken erfinden kann, auch der filigran-zergrübelte Gitarristenphilosoph Wolfgang Muthspiel sowie Francesco Turrisi, der vom Klavier zur Orgel, von der Orgel zum Cembalo eilt und auch zwischendurch eine Kindermelodica bläst. Und, natürlich, Pluhar, die mittendrin thront wie Buddha und das Gesamtkunstwerk lenkt von der Theorbe aus.

Da die Purcell-Schlager sich mindestens so schnell und tief im Gedächtnis einnisten können wie ein Ohrwurm von Brian Wilson, eignen sie sich hervorragend zur improvisatorischen Weiterverarbeitung. Was für eine Lust, wenn selbst der Zink-Spieler (Doron Sherwin) plötzlich zu rappen beginnt! Auch Jaroussky, dessen Stimme weiter gewachsen und noch voller und verführerischer geworden ist, beteiligt sich an den Improvisationen. Er singt im Terzett oder auch abwechselnd mit der spanischen Sopranistin Raquel Andueza sowie dem italienischen Altus Vincenzo Capezzuto, der bekannt ist für sein blechernes, grell-androgynes Straßenjungentimbre. "Hark! Hark!", flöten Jaroussky und Andueza im Duett. Ihre Stimmen umschlingen und necken einander in dem süßen Vogel-Liebeslied aus Henry Purcells Schauspielmusik zu Shakespeares "Timon of Athens". Nur die Blockflöten fehlen dabei, man vermisst sie nicht. Ansonsten ist die Combo an diesem Abend vollständig, und sie entspricht fast exakt der Originalbesetzung, die Pluhar, Meisterin des musikalischen Netzwerkens, sich für ihr jüngstes Purcell-Album namens "Music for a while" zusammengesucht hatte.

Man kann natürlich auch die Platte hören. Aber was für ein Glück, dass alle diese wunderbaren Solistenstars, jeder ein Kleinod in seinem Fach, noch einmal einen gemeinsamen Termin für diese öffentliche Session in ihren jeweiligen Kalendern gefunden haben! Konserve bleibt Konserve - einzigartig, unwiederholbar ist nur das Live-Konzert. Es trug auch das gleiche fromme Versprechen im Titel wie die Platte, das aus der Schauspielmusik für "Oedipus" von John Dryden stammt und als Lied um die Welt ging: "Musik wird, für eine Weile, eure Sorgen vertreiben." Ja, doch, so war es. Genau so.

Und wurde dann, zwei Tage später, übertroffen durch ein weiteres, abermals einzigartiges Konzert, zu dem die Pluhar sich vom Ludwigsburger Intendanten Thomas Wördehoff hatte überreden lassen. Zufällig war ein Termin frei im Kalender des gesuchten jungen Countertenors Valer Sabadus. Zufällig war auch Jaroussky noch greifbar. Und so bearbeitete Pluhar, was sonst, das "Stabat Mater" von Giovanni Battista Pergolesi für ihr luxuriöses Solistenensemble. In dieser entkernten, streng-spröden Fassung wirkt dieser von süßesten, passionierten Durchgangsdissonanzen erfüllte Schwanengesang eines Frühvollendeten noch ungleich stärker als sonst. Diese Musik wirkt wie gereinigt, glasklar und befreit von allen falschen Sentimentalitäten. Das Psalterium (gespielt von Margit Übellacker) und die Barockvioline (Veronika Skuplik), auch Bass und Harfe fügen fahle Zwischenfarben, Licht und Schatten hinzu. Und wenn auch das "Stabat Mater" heutzutage meist von Frauenstimmen gesungen wird, Alt und Sopran, so ist es doch nicht von der Hand zu weisen, dass die Partien, die ursprünglich für Kastraten geschrieben worden waren, viel besser aufgehoben sind bei Countertenören. Am besten bei Philippe Jaroussky und Valer Sabadus.

Männer-Sopran und Männer-Alt, einander jagend im Fugato, einander umschlingend und übertrumpfend mit virtuosen Trillern, Passagen und langen, noch längeren Liegetönen, einander verlierend in Konkurrenz zueinander, einander umarmend in Symbiose: diese Mariensequenz ist eine zutiefst erotische Musik. Möglicherweise war sie schon, als Pergolesi sie schrieb, homoerotisch geprägt und wurde auch so aufgefasst. Doch so vollendet, so völlig aufgelöst in interesselosem Wohlgefallen, so ätherisch und unwirklich wie in dieser Ludwigsburger Schlossfestspielnacht ist dieses "Stabat Mater" wohl selten gesungen worden.

ELEONORE BÜNING

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