Produktdetails
- Anzahl: 1 Vinyl
- Erscheinungstermin: 31. Juli 2020
- Hersteller: Sony Music Entertainment Germany / SONY MUSIC CATALOG,
- EAN: 0194397231410
- Artikelnr.: 58691209
LP | |||
1 | Smiling | 00:04:17 | |
2 | Ablaze | 00:03:57 | |
3 | Reasons I Drink | 00:03:36 | |
4 | Diagnosis | 00:04:47 | |
5 | Missing The Miracle | 00:03:32 | |
6 | Losing The Plot | 00:03:57 | |
7 | Reckoning | 00:03:25 | |
8 | Sandbox Love | 00:04:12 | |
9 | Her | 00:04:10 | |
10 | Nemesis | 00:05:55 | |
11 | Pedestal | 00:04:07 |
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.07.2020Wie man Wunder verpasst
Therapie und Rache, stadiontauglich: Alanis Morissettes neues Album
Zuletzt war sie nicht mehr musikalisch aufgefallen, sondern als Beziehungsberaterin: Im "Guardian" begann Alanis Morissette 2016 eine Kolumne, in der sie humorvoll als "agony aunt" ("Qual-Tante") ausgewiesen wurde und Leserfragen zu Ehe, Sexualität und Fremdgehen beantwortete. Wer Lieder von ihr kennt, wird freilich behaupten können, dass sie schon viel früher zur Therapeutin geworden ist - denkt man etwa an ihre Ballade "That I Would Be Good": Die ist eine Art musikalischer Schwur, sich selbst zu lieben und auch dann noch gut zu finden, wenn man dicker oder dümmer werden sollte, wenn man beleidigt wird oder bankrottgeht. Das war Balsam für die (amerikanische) Teenagerseele, vor zwanzig Jahren und auch danach noch millionenfach gern verrieben. Und es war womöglich auch eine Selbsttherapie einer wenige Jahre zuvor, nach amerikanischen Maßstäben kaum volljährig, plötzlich zum Rockstar und Massenidol gewordenen Sängerin: Ihr Album "Jagged Little Pill" (1995) verkaufte sich weltweit mehr als dreißig Millionen Mal, und wer daraus nicht mindestens die Singles (und Musikvideos) zu "You Oughta Know", "Hand in My Pocket" oder "Ironic" kennt, hat in den neunziger Jahren wohl keine Popmusik gehört. Alanis Morissette wurde inszeniert als weibliche Galionsfigur des Grunge-Rock, während die Musik gar nicht so sperrig war. Die Texte dagegen zeugten von Aufbegehren, vor allem gegen bevormundende Männer: "You took me out to wine dine, sixtynine me / But didn't hear a damn word I said", sang sie damals in "I See Right Through You".
Mit dem Riesenerfolg kam offenbar auch der Wunsch von Plattenfirmen nach mehr Zahmheit, Glätte und stärker hervorgekehrter Schönheit: Von kaum einem Popstar wurden die Zähne derart ausgestellt wie die von Alanis Morissette. Das grimmige Zähnezeigen hingegen schien mit "Jagged Little Pill" auch fast schon wieder vorbei, es folgten zwar noch mehrere Alben, die aber nicht im Gedächtnis blieben.
Wie sie nun in einem Rollenwechsel, nämlich diesmal als interviewte Patientin, dem "Guardian" mitteilte, hat Alanis Morissette selbst Therapie benötigt. Von dieser, von Sucht, Schmerz, Heilung und Rache, handelt nun ihr erstes Album seit acht Jahren, das heute erscheint. Es heißt "Such Pretty Forks in the Road" (Sony) und deutet damit schon bedeutende Weggabelungen des Lebens an. Aus der Sängerin ist eine reife Frau geworden, die nun ihre Erfahrungen teilt und wo sie falsch oder richtig abgebogen ist.
Zunächst erfreulich: Ihre Chuzpe scheint zurück zu sein. Diagnostiziert mir doch, was ihr wollt, wenn ihr euch dadurch besser fühlt, singt sie in "Diagnosis". Geschickt dreht sie darin den Spieß um, erklärt die Ärzte zu den eigentlich Kranken. Und in der federnden Uptempo-Nummer "Reasons I Drink" legt sie dar, wie jeder Schluck hilft, wenn man damit beschäftigt ist, eine "sick industry" zu überleben - tatsächlich wurde sie von ihrem Manager um sieben Millionen Dollar geprellt und rechnet nun in "Reckoning" und "Pedestal" mit ihm ab.
Aber dabei sind offenbar Konzessionen nötig, denn die Musik kommt leider nicht ganz mit. Hatte Morissette etwa eine Affäre mit Andreas Bourani oder Helene Fischer? Seit ein paar Jahren schon gilt ja offenbar die Regel, dass eine Hitsingle im Refrain wortlose, fußballstadientaugliche "oh-he-oh-e"-Singpassagen haben muss. So auch "Reasons I Drink" - es passt hier nur leider überhaupt nicht. In derselben Weise blendet sich "Sandbox Love" reibungslos in den heutigen Pop-Mainstream aus ununterscheidbaren Feierliedern ein, bei denen man nicht weiß, was sie feiern.
"Nemesis" ist symphonischer Synthie-Bombast, der im Hall verschwimmt und den Text dabei schnell wieder vergessen lässt. Der Gedanke an Auto- oder Bierwerbung liegt hier nicht fern. Interessant dabei: Erst nach fünf Minuten kristallisiert sich aus dem Klangbild heraus, dass ein echtes Schlagzeug verwendet wurde. Da ist das Lied aber fast vorbei, ein klassischer Fall von "zu Tode produziert". Das wäre der Rockmusikerin von 1995 wohl ein Graus gewesen.
Was Alanis Morissette in besagtem Interview sonst noch über lebenslange Ausbeutung, nicht nur im Musikgeschäft, berichtet, klingt dramatisch und beschämend. Aber den richtigen musikalischen Ausdruck hat sie mit dem vorliegenden Album noch nicht gefunden, es ist leider, wie auch das Lied "Missing the Miracle", ständig im Begriff, das Wunder zu verpassen. Das ist schade - weil man durch alle Klangschichten gelegentlich noch durchhört, was für ein gute, eigentlich wundervolle Stimme sie hat.
JAN WIELE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Therapie und Rache, stadiontauglich: Alanis Morissettes neues Album
Zuletzt war sie nicht mehr musikalisch aufgefallen, sondern als Beziehungsberaterin: Im "Guardian" begann Alanis Morissette 2016 eine Kolumne, in der sie humorvoll als "agony aunt" ("Qual-Tante") ausgewiesen wurde und Leserfragen zu Ehe, Sexualität und Fremdgehen beantwortete. Wer Lieder von ihr kennt, wird freilich behaupten können, dass sie schon viel früher zur Therapeutin geworden ist - denkt man etwa an ihre Ballade "That I Would Be Good": Die ist eine Art musikalischer Schwur, sich selbst zu lieben und auch dann noch gut zu finden, wenn man dicker oder dümmer werden sollte, wenn man beleidigt wird oder bankrottgeht. Das war Balsam für die (amerikanische) Teenagerseele, vor zwanzig Jahren und auch danach noch millionenfach gern verrieben. Und es war womöglich auch eine Selbsttherapie einer wenige Jahre zuvor, nach amerikanischen Maßstäben kaum volljährig, plötzlich zum Rockstar und Massenidol gewordenen Sängerin: Ihr Album "Jagged Little Pill" (1995) verkaufte sich weltweit mehr als dreißig Millionen Mal, und wer daraus nicht mindestens die Singles (und Musikvideos) zu "You Oughta Know", "Hand in My Pocket" oder "Ironic" kennt, hat in den neunziger Jahren wohl keine Popmusik gehört. Alanis Morissette wurde inszeniert als weibliche Galionsfigur des Grunge-Rock, während die Musik gar nicht so sperrig war. Die Texte dagegen zeugten von Aufbegehren, vor allem gegen bevormundende Männer: "You took me out to wine dine, sixtynine me / But didn't hear a damn word I said", sang sie damals in "I See Right Through You".
Mit dem Riesenerfolg kam offenbar auch der Wunsch von Plattenfirmen nach mehr Zahmheit, Glätte und stärker hervorgekehrter Schönheit: Von kaum einem Popstar wurden die Zähne derart ausgestellt wie die von Alanis Morissette. Das grimmige Zähnezeigen hingegen schien mit "Jagged Little Pill" auch fast schon wieder vorbei, es folgten zwar noch mehrere Alben, die aber nicht im Gedächtnis blieben.
Wie sie nun in einem Rollenwechsel, nämlich diesmal als interviewte Patientin, dem "Guardian" mitteilte, hat Alanis Morissette selbst Therapie benötigt. Von dieser, von Sucht, Schmerz, Heilung und Rache, handelt nun ihr erstes Album seit acht Jahren, das heute erscheint. Es heißt "Such Pretty Forks in the Road" (Sony) und deutet damit schon bedeutende Weggabelungen des Lebens an. Aus der Sängerin ist eine reife Frau geworden, die nun ihre Erfahrungen teilt und wo sie falsch oder richtig abgebogen ist.
Zunächst erfreulich: Ihre Chuzpe scheint zurück zu sein. Diagnostiziert mir doch, was ihr wollt, wenn ihr euch dadurch besser fühlt, singt sie in "Diagnosis". Geschickt dreht sie darin den Spieß um, erklärt die Ärzte zu den eigentlich Kranken. Und in der federnden Uptempo-Nummer "Reasons I Drink" legt sie dar, wie jeder Schluck hilft, wenn man damit beschäftigt ist, eine "sick industry" zu überleben - tatsächlich wurde sie von ihrem Manager um sieben Millionen Dollar geprellt und rechnet nun in "Reckoning" und "Pedestal" mit ihm ab.
Aber dabei sind offenbar Konzessionen nötig, denn die Musik kommt leider nicht ganz mit. Hatte Morissette etwa eine Affäre mit Andreas Bourani oder Helene Fischer? Seit ein paar Jahren schon gilt ja offenbar die Regel, dass eine Hitsingle im Refrain wortlose, fußballstadientaugliche "oh-he-oh-e"-Singpassagen haben muss. So auch "Reasons I Drink" - es passt hier nur leider überhaupt nicht. In derselben Weise blendet sich "Sandbox Love" reibungslos in den heutigen Pop-Mainstream aus ununterscheidbaren Feierliedern ein, bei denen man nicht weiß, was sie feiern.
"Nemesis" ist symphonischer Synthie-Bombast, der im Hall verschwimmt und den Text dabei schnell wieder vergessen lässt. Der Gedanke an Auto- oder Bierwerbung liegt hier nicht fern. Interessant dabei: Erst nach fünf Minuten kristallisiert sich aus dem Klangbild heraus, dass ein echtes Schlagzeug verwendet wurde. Da ist das Lied aber fast vorbei, ein klassischer Fall von "zu Tode produziert". Das wäre der Rockmusikerin von 1995 wohl ein Graus gewesen.
Was Alanis Morissette in besagtem Interview sonst noch über lebenslange Ausbeutung, nicht nur im Musikgeschäft, berichtet, klingt dramatisch und beschämend. Aber den richtigen musikalischen Ausdruck hat sie mit dem vorliegenden Album noch nicht gefunden, es ist leider, wie auch das Lied "Missing the Miracle", ständig im Begriff, das Wunder zu verpassen. Das ist schade - weil man durch alle Klangschichten gelegentlich noch durchhört, was für ein gute, eigentlich wundervolle Stimme sie hat.
JAN WIELE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main