Produktdetails
- Anzahl: 1 Audio CD
- Erscheinungstermin: 16. März 2012
- Hersteller: NRW Vertrieb / ECM Records,
- EAN: 0602527895550
- Artikelnr.: 34985776
- Herstellerkennzeichnung
- MFP Tonträger
- Carl-Miele-Straße 22
- 33442 Herzebrock-Clarholz
- info@mfp.de
- www.mfp.de
- 05245 838220
CD | |||
1 | Ballad #1 | 00:05:38 | |
2 | New Day | 00:04:48 | |
3 | Short Stuff | 00:02:12 | |
4 | So What Variations | 00:05:33 | |
5 | Ballad #2 | 00:07:17 | |
6 | Sunrise | 00:05:53 | |
7 | Sticks And Cymbals | 00:06:18 | |
8 | End Of Day | 00:04:51 | |
9 | Uptempo | 00:04:11 | |
10 | Last Ballad | 00:05:21 |
Frankfurter Allgemeine ZeitungHerr Kikuchi und seine Freunde suchen das Glück
Diese Platte wird Legende werden: ein Meilenstein des Post-Free-Jazz, funkelndes Unikat eines einmaligen Trios, zugleich Testament und Durchbruch zum Ideal.
Kürzlich sagte Poo in einem Interview: "Ich mag es, zwischen allem in der Schwebe zu bleiben." Poo - so wird er von seinen Freunden genannt: Der 1939 in Tokio geborene Pianist Masabumi Kikuchi. Die Freunde leben vorzugsweise in New York, wo Kikuchi - einst ein Wunderkind des japanischen Jazz - schon seit den frühen Siebzigern wohnt, um als Sideman mit Giganten wie Gil Evans, Charlie Mariano oder Miles Davis zusammenzuarbeiten. In den letzten beiden stillen Dekaden einer ein halbes Jahrhundert umspannenden Jazz-Karriere ist Poo durch seine Arbeit mit Paul Motian präsent geblieben. Sei es im Projekt Tethered Moon, sei es mit Motians erweitertem Trio 2000, in dem er 2008 auf "Live at the Village Vanguard Vol. III" für schönste Irritationen sorgte.
Das legendäre Village Vanguard ist auch der Ort, auf den sich Poos öffentliches Wirken zuletzt beschränkt hat. Doch selbst hier ist er wohl bestenfalls als jemand in Erinnerung, der dann und wann mit Motian auf der Bühne stand, verquer Klavier spielte, was er durch ständiges Knurren affirmierte. Einen Manager oder Booker soll Kikuchi schon lange nicht mehr haben - sein letztes Album als Bandleader hat er im vorigen Jahrtausend veröffentlicht.
Das Beiheft zu dem neuen Album "Sunrise", womit Kikuchi jetzt sein Debüt beim Label ECM gibt, erklärt in gewisser Weise, was er in all den Jahren gemacht hat: Poo hat seine Sprache gesucht. Immer wieder ermutigt von den Bewunderern seines methodischen Rigorismus, etwa von Gary Peacock, dem Bassisten des Keith Jarrett Trios, oder Paul Motian, dem Vater des modernen Schlagzeugspiels.
Und Letzterer konnte, kurz vor seinem Tod im Herbst 2011, seinen Lieblingspianisten Poo dann doch überzeugen, sich noch einmal wieder auf gemeinsame Aufnahmen einzulassen. Sie sind im September 2009 in den Avatar-Studios in New York entstanden. Wie so oft hatten die Resultate dieser Sessions Masabumi Kikuchi zunächst unbefriedigt, ja, befremdet zurückgelassen - bis er schließlich die vom Produzenten Manfred Eicher in der Stückfolge modifizierte, gestraffte Fassung gehört hatte - die er sehr mochte.
Die Musik fügt sich zwanglos zu einer Suite, sie erschließt sich unmittelbar als ein autarker künstlerischer Kosmos. Augenblicklich wird klar, dass hier die Dinge mit der magischen Folgerichtigkeit geschehen, der nur fortgeschrittene Günstlinge des improvisierten Augenblicks teilhaftig werden. So wird das Album "Sunrise" noch lange als ein Meilenstein des Post-Free-Jazz in der improvisierten Musik nachwirken: als die letzte, quintessentielle Studioaufnahme Paul Motians, auf der sich dessen minimalistisches Spiel mit Texturen zu einer Polyrhythmik der Klangfarben erweitert; und zugleich als ein funkelndes Unikat des Masabumi Kikuchi Trios, das in den reduzierten kontrapunktischen Verhältnissen, die der junge Thomas Morgan zu Piano und Drums pflegt, eine kongeniale Stimmführung im Bass gefunden hatte. Schließlich: als Testament und Durchbruch, mit welchem der Bandleader Kikuchi seinem Ideal der Erschaffung eines Zeit-Raums reiner psychischer Intensitäten denkbar nahe gekommen sein dürfte.
"Reinheit" ist hier freilich als ein Synonym für Freiheit zu verstehen, im Sinne einer Spontaneität der Reflexion, des Selbstgenusses eines Geistes, der sich, zuweilen sarkastisch, auch autoaggressiv, in dem weiß, was er tut und leidet, zeugt und zerfasert, trennt und eint. Kikuchi ist einer der seltenen Romanciers des Jazzklavierspiels. Die Klarheit, die durch dessen kargen Klangkosmos weht, in dem die Ereignisse sich storchenhaft-zögernd, nach ihren ganz eigenen Gesetzen aufzulösen, anzubahnen, aufzuheben, zu verdichten oder zu verketten scheinen, ist eine syntaktische: Ein helles Licht strahlt von der artikulatorischen Prägekraft dieses großen Erzählers in den Nachhall jedes Tons aus. Kikuchi ist das Improvisieren nicht Nachspiel, sondern Apotheose des Komponierens.
Strukturell betrachtet, spannen drei freitonale Balladen als Eröffnungs-, Haupt- und Schlussteil einen Zeit-Raum der Intensitäten auf, in dem sich dann vielschichtigste Rubato-Bewegungen in zehn Szenen vollziehen. Diese Balladen, dem Augenblick entspringend und betörend frei sich entwickelnd, stellen die eher seltenen Momente dar, in denen Impression, bloße Zustandhaftigkeit, mithin Versenkung in anderes obsiegt. In diesem Sinne könnten etwa die Satieschen ersten Takte von "Ballad I" auch von weniger bebopgeprägten Lyrikern des Jazzklaviers wie Marcin Wasilewski oder Stefano Bollani stammen.
Doch schon der zarte, in höchsten Lagen sanglich krächzende Einstieg von Thomas Morgans Bass verdeutlicht sogleich, dass hier nicht die Schicksalsmacht der Funktionsharmonik als Drehbuch zelebriert oder ironisch gebrochen wird, sondern archaischere, letztlich szenische Kategorien das Zusammenspiel organisieren: die sich emporräkelnde Linie Morgans ist der erste verschlafene Satz des Werks - der Moment, in dem Gestimmtheit in Sprache, Sinn in Reflexion, Dasein ins Ritual umschlägt.
In den nachfolgenden Szenen nimmt der Anteil an sprechaktlichen Phrasierungen kontinuierlich zu, bis man schließlich in den "So What Variations" bestaunen kann, wie ein aufgebracht fauchender Kikuchi seine Xenakischen Tontrauben im Moment ihres Erklingens gleich wieder zu zermalmen scheint. Ein ungeheueres urbanes Gewirr aus tausend Gesprächsfetzen wird hier entfesselt, um nur kurz und zart in "Ballad II" zur Ruhe zu kommen. Dieses Herzstück bildet das Panorama des gesamten Albums in sich ab. Es vereint im ruhigen Pulsschlag Thomas Morgans das Genie rhythmischer Zerstäubung Motians mit den unerschöpflichen Formgebungsmöglichkeiten Kikuchis, kraft deren sich in einem Augenblick postserielle Dissonanzen im Geiste einer Blueskadenz versöhnen können, bevor im nächsten kurz die ambientale Stille aufatmet, die diese Musik wesenhaft durchtränkt. Und das Folgende ist wie von einer Schliere spätromantischer Harmonik durchzogen. "Ich mag es, zwischen allem in der Schwebe zu bleiben", sagt Poo. "Ich kann frei sein. Das ist, woran ich glaube." Mühsal und Gunst dieser Freiheit sind auf "Sunrise" zu kosten.
ALESSANDRO TOPA
Masabumi
Kikuchi Trio:
Sunrise
ECM 2096/2789555 (Universal)
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Diese Platte wird Legende werden: ein Meilenstein des Post-Free-Jazz, funkelndes Unikat eines einmaligen Trios, zugleich Testament und Durchbruch zum Ideal.
Kürzlich sagte Poo in einem Interview: "Ich mag es, zwischen allem in der Schwebe zu bleiben." Poo - so wird er von seinen Freunden genannt: Der 1939 in Tokio geborene Pianist Masabumi Kikuchi. Die Freunde leben vorzugsweise in New York, wo Kikuchi - einst ein Wunderkind des japanischen Jazz - schon seit den frühen Siebzigern wohnt, um als Sideman mit Giganten wie Gil Evans, Charlie Mariano oder Miles Davis zusammenzuarbeiten. In den letzten beiden stillen Dekaden einer ein halbes Jahrhundert umspannenden Jazz-Karriere ist Poo durch seine Arbeit mit Paul Motian präsent geblieben. Sei es im Projekt Tethered Moon, sei es mit Motians erweitertem Trio 2000, in dem er 2008 auf "Live at the Village Vanguard Vol. III" für schönste Irritationen sorgte.
Das legendäre Village Vanguard ist auch der Ort, auf den sich Poos öffentliches Wirken zuletzt beschränkt hat. Doch selbst hier ist er wohl bestenfalls als jemand in Erinnerung, der dann und wann mit Motian auf der Bühne stand, verquer Klavier spielte, was er durch ständiges Knurren affirmierte. Einen Manager oder Booker soll Kikuchi schon lange nicht mehr haben - sein letztes Album als Bandleader hat er im vorigen Jahrtausend veröffentlicht.
Das Beiheft zu dem neuen Album "Sunrise", womit Kikuchi jetzt sein Debüt beim Label ECM gibt, erklärt in gewisser Weise, was er in all den Jahren gemacht hat: Poo hat seine Sprache gesucht. Immer wieder ermutigt von den Bewunderern seines methodischen Rigorismus, etwa von Gary Peacock, dem Bassisten des Keith Jarrett Trios, oder Paul Motian, dem Vater des modernen Schlagzeugspiels.
Und Letzterer konnte, kurz vor seinem Tod im Herbst 2011, seinen Lieblingspianisten Poo dann doch überzeugen, sich noch einmal wieder auf gemeinsame Aufnahmen einzulassen. Sie sind im September 2009 in den Avatar-Studios in New York entstanden. Wie so oft hatten die Resultate dieser Sessions Masabumi Kikuchi zunächst unbefriedigt, ja, befremdet zurückgelassen - bis er schließlich die vom Produzenten Manfred Eicher in der Stückfolge modifizierte, gestraffte Fassung gehört hatte - die er sehr mochte.
Die Musik fügt sich zwanglos zu einer Suite, sie erschließt sich unmittelbar als ein autarker künstlerischer Kosmos. Augenblicklich wird klar, dass hier die Dinge mit der magischen Folgerichtigkeit geschehen, der nur fortgeschrittene Günstlinge des improvisierten Augenblicks teilhaftig werden. So wird das Album "Sunrise" noch lange als ein Meilenstein des Post-Free-Jazz in der improvisierten Musik nachwirken: als die letzte, quintessentielle Studioaufnahme Paul Motians, auf der sich dessen minimalistisches Spiel mit Texturen zu einer Polyrhythmik der Klangfarben erweitert; und zugleich als ein funkelndes Unikat des Masabumi Kikuchi Trios, das in den reduzierten kontrapunktischen Verhältnissen, die der junge Thomas Morgan zu Piano und Drums pflegt, eine kongeniale Stimmführung im Bass gefunden hatte. Schließlich: als Testament und Durchbruch, mit welchem der Bandleader Kikuchi seinem Ideal der Erschaffung eines Zeit-Raums reiner psychischer Intensitäten denkbar nahe gekommen sein dürfte.
"Reinheit" ist hier freilich als ein Synonym für Freiheit zu verstehen, im Sinne einer Spontaneität der Reflexion, des Selbstgenusses eines Geistes, der sich, zuweilen sarkastisch, auch autoaggressiv, in dem weiß, was er tut und leidet, zeugt und zerfasert, trennt und eint. Kikuchi ist einer der seltenen Romanciers des Jazzklavierspiels. Die Klarheit, die durch dessen kargen Klangkosmos weht, in dem die Ereignisse sich storchenhaft-zögernd, nach ihren ganz eigenen Gesetzen aufzulösen, anzubahnen, aufzuheben, zu verdichten oder zu verketten scheinen, ist eine syntaktische: Ein helles Licht strahlt von der artikulatorischen Prägekraft dieses großen Erzählers in den Nachhall jedes Tons aus. Kikuchi ist das Improvisieren nicht Nachspiel, sondern Apotheose des Komponierens.
Strukturell betrachtet, spannen drei freitonale Balladen als Eröffnungs-, Haupt- und Schlussteil einen Zeit-Raum der Intensitäten auf, in dem sich dann vielschichtigste Rubato-Bewegungen in zehn Szenen vollziehen. Diese Balladen, dem Augenblick entspringend und betörend frei sich entwickelnd, stellen die eher seltenen Momente dar, in denen Impression, bloße Zustandhaftigkeit, mithin Versenkung in anderes obsiegt. In diesem Sinne könnten etwa die Satieschen ersten Takte von "Ballad I" auch von weniger bebopgeprägten Lyrikern des Jazzklaviers wie Marcin Wasilewski oder Stefano Bollani stammen.
Doch schon der zarte, in höchsten Lagen sanglich krächzende Einstieg von Thomas Morgans Bass verdeutlicht sogleich, dass hier nicht die Schicksalsmacht der Funktionsharmonik als Drehbuch zelebriert oder ironisch gebrochen wird, sondern archaischere, letztlich szenische Kategorien das Zusammenspiel organisieren: die sich emporräkelnde Linie Morgans ist der erste verschlafene Satz des Werks - der Moment, in dem Gestimmtheit in Sprache, Sinn in Reflexion, Dasein ins Ritual umschlägt.
In den nachfolgenden Szenen nimmt der Anteil an sprechaktlichen Phrasierungen kontinuierlich zu, bis man schließlich in den "So What Variations" bestaunen kann, wie ein aufgebracht fauchender Kikuchi seine Xenakischen Tontrauben im Moment ihres Erklingens gleich wieder zu zermalmen scheint. Ein ungeheueres urbanes Gewirr aus tausend Gesprächsfetzen wird hier entfesselt, um nur kurz und zart in "Ballad II" zur Ruhe zu kommen. Dieses Herzstück bildet das Panorama des gesamten Albums in sich ab. Es vereint im ruhigen Pulsschlag Thomas Morgans das Genie rhythmischer Zerstäubung Motians mit den unerschöpflichen Formgebungsmöglichkeiten Kikuchis, kraft deren sich in einem Augenblick postserielle Dissonanzen im Geiste einer Blueskadenz versöhnen können, bevor im nächsten kurz die ambientale Stille aufatmet, die diese Musik wesenhaft durchtränkt. Und das Folgende ist wie von einer Schliere spätromantischer Harmonik durchzogen. "Ich mag es, zwischen allem in der Schwebe zu bleiben", sagt Poo. "Ich kann frei sein. Das ist, woran ich glaube." Mühsal und Gunst dieser Freiheit sind auf "Sunrise" zu kosten.
ALESSANDRO TOPA
Masabumi
Kikuchi Trio:
Sunrise
ECM 2096/2789555 (Universal)
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main