Produktdetails
- Anzahl: 2 Vinyls
- Erscheinungstermin: 9. November 2018
- Hersteller: Universal Vertrieb - A Divisio / Universal,
- Gesamtlaufzeit: 93 Min.
- EAN: 0602567696865
- Artikelnr.: 54083848
LP 1 | |||
1 | Back In The U.S.S.R. (2018 Mix) | 00:02:44 | |
2 | Dear Prudence (2018 Mix) | 00:03:56 | |
3 | Glass Onion (2018 Mix) | 00:02:18 | |
4 | Ob-La-Di, Ob-La-Da (2018 Mix) | 00:03:09 | |
5 | Wild Honey Pie (2018 Mix) | 00:00:53 | |
6 | The Continuing Story Of Bungalow Bill (2018 Mix) | 00:03:14 | |
7 | While My Guitar Gently Weeps (2018 Mix) | 00:04:45 | |
8 | Happiness Is A Warm Gun (2018 Mix) | 00:02:45 | |
9 | Martha My Dear (2018 Mix) | 00:02:28 | |
10 | I'm So Tired (2018 Mix) | 00:02:03 | |
11 | Blackbird (2018 Mix) | 00:02:18 | |
12 | Piggies (2018 Mix) | 00:02:04 | |
13 | Rocky Raccoon (2018 Mix) | 00:03:33 | |
14 | Don't Pass Me By (2018 Mix) | 00:03:50 | |
15 | Why Don't We Do It In The Road? (2018 Mix) | 00:01:42 | |
16 | I Will (2018 Mix) | 00:01:46 | |
17 | Julia (2018 Mix) | 00:03:00 | |
LP 2 | |||
1 | Birthday (2018 Mix) | 00:02:43 | |
2 | Yer Blues (2018 Mix) | 00:04:01 | |
3 | Mother Nature's Son (2018 Mix) | 00:02:48 | |
4 | Everybody's Got Something To Hide Except Me And My Monkey (2018 Mix) | 00:02:25 | |
5 | Sexy Sadie (2018 Mix) | 00:03:15 | |
6 | Helter Skelter (2018 Mix) | 00:04:30 | |
7 | Long, Long, Long (2018 Mix) | 00:03:06 | |
8 | Revolution 1 (2018 Mix) | 00:04:16 | |
9 | Honey Pie (2018 Mix) | 00:02:41 | |
10 | Savoy Truffle (2018 Mix) | 00:02:54 | |
11 | Cry Baby Cry (2018 Mix) | 00:03:02 | |
12 | Revolution 9 (2018 Mix) | 00:08:22 | |
13 | Good Night (2018 Mix) | 00:03:17 |
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.11.2018Während wir altern, wimmern unsere Gitarren
Normalerweise feilt man an den Kronjuwelen der Popmusik nicht herum. Das "Weiße Album" der Beatles ist eine Ausnahme: Fünfzig Jahre nach seinem Erscheinen liegt es in historisch-kritischer Fassung vor - eine Offenbarung.
Was konnte nach diesem Glanzstück noch kommen? Wie sollte man die psychedelische Opulenz von "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band" übertreffen? Gar nicht! Instinktiv spürten die Beatles 1968, dass nach dem verrätselten Gesamtkunstwerk mit seinen revolutionären Aufnahmetechniken, einem für die Rockmusik gänzlich ungewohnten Instrumentarium, einer skrupulösen Dramaturgie und einer farbenfrohen Bildcollage nur das vollkommene Gegenteil genügen würde. Tabula rasa! Künstlerischer Fortschritt konnte nur durch Emanzipation vom aktuellen Image entstehen. Also entschloss man sich in bester Pop-Art-Strategie nicht nur zu einer losen Songfolge, eingespielt mit weitgehend konventionellen Instrumenten, sondern auch zu einem rein weißen Cover, das allein durch die fortlaufende Numerierung auf der Vorderseite individualisiert wurde. Wo Peter Blake mit einer Vollversammlung prominenter Köpfe und historischem Klamottenzauber gewuchert hatte, setzte sein Künstlerkollege Richard Hamilton jetzt auf eine erwartungsvolle Leere: die Schallplattenhülle als offene Projektionsfläche für die Erwartungen, Träume und Mythologien ihrer Käufer. Das "Weiße Album" war geboren, von seinem ursprünglichen Titel "The Beatles" sollte bald kaum noch jemand Gebrauch machen.
Jetzt kann man das einzige Doppelalbum der Beatles in einer Intensität erleben wie nie zuvor. Zum fünfzigjährigen Bestehen erscheint eine Super-Deluxe-Edition (Apple/Universal Music) mit 107 Songs auf sechs CDs: Neben den 27 rein akustisch eingespielten "Esher Demos", die bisher nur als Bootleg in schlechter Qualität zu haben waren - eingespielt in Harrisons Bungalow in Esher, südwestlich von London -, finden sich weitere fünfzig Outtakes/Alternate Takes, welche die langsame Evolution des Albums dokumentieren. Im Zentrum der Neuveröffentlichung aber steht der Remix von Giles Martin, Sohn vom fünften Beatle George Martin.
Schon in der letztjährigen Neuauflage von "Sgt. Pepper" hat er mit seiner neuen Abmischung einen großartigen Job gemacht. Was eigentlich als Sakrileg gilt, nämlich an den Kronjuwelen der Popmusik herumzufeilen, erscheint bei Giles Martin als sinnvolle Veredelung. Ihm geht es darum, das "Weiße Album" so klingen zu lassen, als wäre es erst gestern aufgenommen worden, den Sound jedes einzelnen Songs zu optimieren, seine technischen Beschränkungen zu überwinden. Weil sich unsere Hörerfahrungen verändert haben und vor allem junge Hörer, durch Techno, Hip-Hop und Heavy Metal sozialisiert, Musik heute dynamischer, vielleicht sogar etwas knalliger erleben, wollte Martin einen "zeitgemäßen" Sound schaffen, ohne den Grundton des Originals zu beschädigen. Die Stimmen rücken jetzt näher an den Hörer heran, die Trennschärfe zwischen den Instrumenten ist größer, als hätte man eine Art akustische Schutzhülle von den Aufnahmen gezogen. Neben der Dynamik hat sich auch die Räumlichkeit jedes einzelnen Songs vergrößert.
Musikalisch machten die Beatles mit dem "Weißen Album" einen Schnitt: Waren die Stücke von "Sgt. Pepper" noch als langwierige Gemeinschaftsleistungen im Studio entstanden, so gingen jetzt selbstbewusste Individuen ans Werk. Jeder kam mit seinen Song-Skizzen, wann immer es ihm passte, in die Abbey Road. Oft war er dann im Studio mit seinem Material allein, die anderen drei vervollständigten die Stücke erst später. John Lennon: "Dieses Album war eigentlich ich und Begleitband, Paul und Begleitband, George und Begleitband . . . Wir lösten uns damals auf." Nicht allein der plötzliche Tod ihres Managers Brian Epstein im August 1967 und der rüpelhafte Stil des neuen Geschäftsführers Allen Klein hatten den Gruppenzusammenhalt erschüttert; auch der gemeinsame, ernüchternde Besuch beim Maharishi Mahesh Yogi in Indien im Februar 1968 führte dazu, dass sich jeder nur mit seinen eigenen Songideen beschäftigte.
Paul McCartney arbeitete an "Mother Nature's Son", "Blackbird" und "I Will", Lennon widmete der schüchternen Schwester der mitgereisten Mia Farrow "Dear Prudence" und schrieb zusammen mit Donovan den Text von "Rocky Racoon". Indien inspirierte ihn auch zu seiner späteren Bekenntnis-Ballade "Jealous Guy". In der jetzt veröffentlichten Urfassung trägt sie noch den Titel "Child Of Nature" und enthält so hübsche Zeilen wie "On the road to Rishikesh, I was dreaming more or less." John Lennon kämpfte während des Indien-Aufenthalts im Beisein seiner Frau Cynthia mit einem besonderen Problem. Bereits während der Studiosession zum Rock 'n' Roll-Erfolg "Lady Madonna" hatte er den tranceartigen Song "Across the Universe" aufgenommen, der dann erst auf "Let It Be" erschien, enthielt gleichwohl die aufschlussreiche Zeile: "Thougths meander like a restless wind inside a letterbox". Cynthia Lennon erinnert sich wehmütig an die Wochen in Indien: "Was ich nicht wusste: Jeden Morgen lief er zum Postamt und schaute nach, ob er einen Brief von Yoko bekommen hatte. Sie schrieb ihm fast täglich." Jetzt beschließt eine hinreißend-innige Lesart von "Across The Universe", nur mit akustischen Gitarren eingespielt, die Neuedition. Sie gleicht einer schmerzlichen Beschwörung seiner amour fou mit Yoko, in die Lennon sein ganzes Leiden hineinzulegen scheint.
Die Beatles gewannen gleichwohl ein wenig Abstand zum aufgedrehten London und konnten die indische Muße kreativ nutzen, ihren Drogenkonsum einschränken und mit mehr als dreißig neuen Songs am 30. Mai 1968 in die Abbey Road-Studios zurückkehren. Dort wurde es schnell schwierig. Vor allem Lennons symbiotische Beziehung zu Yoko Ono unterminierte den Gruppengedanken. Die Geliebte durfte sogar aktiv an den Sessions teilnehmen und ist beispielsweise in dem Lennon-Outtake "Revolution" zu hören. Er wurde zur Grundlage der Stücke "Revolution 1" - einer Hommage an den revolutionären Mai in Paris (am Tag der Aufnahme dieses Songs löste De Gaulle die französische Nationalversammlung auf) - und "Revolution 9", inspiriert von Yoko Onos Avantgarde-Begriff. Fast fünf Monate zogen sich die Aufnahmen des "Weißen Albums" hin, von manchen Songs wurden mehr als einhundert Takes eingespielt. Dafür enthält das Debüt auf dem Beatles-eigenen Label Apple eine seltene Bandbreite, von Folk und Blues über Kinder- und Wiegenlieder, Country, Heavy-Rock und Protestsong bis zur Soundcollage "Revolution 9". Dieses Musterbeispiel elektronischer Zufallskomposition vereint mehr als dreißig Bandaufnahmen. Ein Chor, rückwärts abgespielte Violinen, klingelnde Gläser, Applaus, Opernaufnahmen, rückwärts gespielte Mellotron-Sounds, Summen, Satzfetzen, Schreie - all das wird in einer Collage miteinander verblendet. Obwohl das Stück zunächst schwer verdaulich erscheint, hatte es als Versuch einer freien Klangassoziation, die sich allein aus dem Unterbewusstsein bildet, einen befreienden kulturellen Effekt. In der neuen Abmischung kann man jetzt tiefer als je zuvor in diesen klingenden stream of consciousness eintauchen. Der neue Mix gewährt quasi am laufenden Band Offenbarungen: Selten klang Lennons Stimme leidenschaftlicher als in dem Outtake von "Happiness Is a Warm Gun", ihre außerweltliche Verlorenheit in "Julia" verursacht Gänsehaut. Die Schärfe von Ringos Snare-Drum scheint im neuen "Ob-La-Di, Ob-La-Da"-Mix den peitschenden Beat von Drum 'n' Bass vorwegzunehmen. "Rocky Racoon" fasziniert durch sein zeitlupenhaftes Talking-Blues-Intro, während der Nonsens-Studio-Jam "Los Paranoias" mit albernen Zeilen wie "Los Paranoias, come on and join us" lockt. Man hört diesen Outtakes an, dass die Stimmung im Studio doch nicht die schlechteste gewesen sein kann, zu viel wird da herumgealbert, zu zärtlich verflochten klingen einzelne Harmoniegesänge. "Honey Pie" wirkt in seiner ausgelassenen Music-Hall-Atmosphäre fast charmanter als im Original. Pauls Bass in der Lennon-Nummer "I'm so Tired" klang selten knackiger, und die gänzlich entschlackte Fassung von "Martha My Dear", ohne Streicher und Bläser, atmet eine fast überirdische Unschuld.
Und dann ist da noch der schicksalsschwere Song "Helter Skelter", jene brachiale Rocknummer, aus welcher Charles Manson Mordaufträge heraushörte. Die Beatles galten ihm als die vier Reiter der Apokalypse und "Helter Skelter" als Vorhersage einer Entscheidungsschlacht der Rassen, in dem Schwarze und Reiche vernichtet werden mussten. In einem jetzt veröffentlichten dreizehnminütigen Outtake ist aufgrund des stoisch-monotonen Schlagzeugbeats von diabolischen Kräften gar nichts zu spüren. Doch dann gibt es da noch jene dreieinhalbminütige Version, die mit ihrem völlig überdrehten Schreigesang erstmals so lärmend-böse klingt, wie Manson es sich wohl gewünscht hätte. Denn McCartney fühlte sich in jenen Tagen durch eine Bemerkung von Pete Townshend herausgefordert, der die gerade veröffentlichte Single von The Who "I Can See For Miles" als lautesten und dreckigsten Song aller Zeiten feierte.
Als eigentliche Sensation entpuppen sich aber die erstmals offiziell veröffentlichten "Esher Demos". Nicht nur in "Ob-La-Di, Ob-La-Da" scheinen aufgedrehte Freunde ihre Lieblingssongs unbeschwert am Lagerfeuer ihres Ruhms zu schrammeln. Ihre Stimmen sind glasklar und, wie in "Dear Prudence", von fast beängstigender Intimität. Harrisons Gitarre in der beschleunigten Akustik-Version von "While My Guitar Gently Weeps" klingt fast wie ein verhindertes Banjo. Die jetzt veröffentlichte Fassung mit sphärischer Orgelbegleitung enthält auch die im Original leider fehlende, anrührende Strophe: "I look from the wings at the play you are staging / While my guitar gently weeps / As I'm sitting here doing nothing but aging / Still my guitar gently weeps." In einer weiteren, wundersamen, leider nicht ganz vollständigen Version konterkariert Eric Clapton Harrisons sehnsüchtigen Gesang mit schneidenden Blues-Licks und einem neuen, wimmernd-klagenden Solo. Es verströmt eine jubilierende Traurigkeit, die nicht nur Gitarristen in ihren Bann schlägt.
Die "Esher Demos" sind voller Wunder: Man hört die Harrison-Komposition "Sour Milk", die es nicht auf das "Weiße Album" schaffte, auch Paul McCartneys hypnotischer Singsang in "Junk" blieb für ein späteres Solo-Album reserviert. Betörend unbeschwert klingen auch "Mean Mr. Mustard" und "Polythene Pam", die dann Teil der Suite auf "Abbey Road" wurden. Man wundert sich immer wieder: Trotz der individualistischen Herangehensweise klingen die meisten Songs am Ende wie aus einem Guss.
Im Vergleich mit der Perfektion und Brillanz von "Sgt. Pepper" kommt das "Weiße Album" letztlich unprätentiöser, rauher und direkter daher. Gerade seine lässige Unvollkommenheit macht es so sympathisch und irgendwie cool. Es scheint von allen Beatles-Alben am wenigsten Patina angesetzt zu haben, eine fast unerschöpfliche Wundertüte. Dennoch zählte das "Weiße Album" nicht zu George Martins Lieblingsalben: "Ich denke, es wäre wahrscheinlich ein sehr, sehr gutes Einzelalbum anstelle eines Doppelalbums geworden." Ringo konterte damals weniger süffisant: "Das ist auch meine Meinung. Wir hätten zwei Einzelalben veröffentlichen sollen: das ,Weiße' und das ,Weißere' Album." Nach dem Hören der Neu-Edition lässt sich nur bestätigen: Weißer geht's nicht!
PETER KEMPER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Normalerweise feilt man an den Kronjuwelen der Popmusik nicht herum. Das "Weiße Album" der Beatles ist eine Ausnahme: Fünfzig Jahre nach seinem Erscheinen liegt es in historisch-kritischer Fassung vor - eine Offenbarung.
Was konnte nach diesem Glanzstück noch kommen? Wie sollte man die psychedelische Opulenz von "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band" übertreffen? Gar nicht! Instinktiv spürten die Beatles 1968, dass nach dem verrätselten Gesamtkunstwerk mit seinen revolutionären Aufnahmetechniken, einem für die Rockmusik gänzlich ungewohnten Instrumentarium, einer skrupulösen Dramaturgie und einer farbenfrohen Bildcollage nur das vollkommene Gegenteil genügen würde. Tabula rasa! Künstlerischer Fortschritt konnte nur durch Emanzipation vom aktuellen Image entstehen. Also entschloss man sich in bester Pop-Art-Strategie nicht nur zu einer losen Songfolge, eingespielt mit weitgehend konventionellen Instrumenten, sondern auch zu einem rein weißen Cover, das allein durch die fortlaufende Numerierung auf der Vorderseite individualisiert wurde. Wo Peter Blake mit einer Vollversammlung prominenter Köpfe und historischem Klamottenzauber gewuchert hatte, setzte sein Künstlerkollege Richard Hamilton jetzt auf eine erwartungsvolle Leere: die Schallplattenhülle als offene Projektionsfläche für die Erwartungen, Träume und Mythologien ihrer Käufer. Das "Weiße Album" war geboren, von seinem ursprünglichen Titel "The Beatles" sollte bald kaum noch jemand Gebrauch machen.
Jetzt kann man das einzige Doppelalbum der Beatles in einer Intensität erleben wie nie zuvor. Zum fünfzigjährigen Bestehen erscheint eine Super-Deluxe-Edition (Apple/Universal Music) mit 107 Songs auf sechs CDs: Neben den 27 rein akustisch eingespielten "Esher Demos", die bisher nur als Bootleg in schlechter Qualität zu haben waren - eingespielt in Harrisons Bungalow in Esher, südwestlich von London -, finden sich weitere fünfzig Outtakes/Alternate Takes, welche die langsame Evolution des Albums dokumentieren. Im Zentrum der Neuveröffentlichung aber steht der Remix von Giles Martin, Sohn vom fünften Beatle George Martin.
Schon in der letztjährigen Neuauflage von "Sgt. Pepper" hat er mit seiner neuen Abmischung einen großartigen Job gemacht. Was eigentlich als Sakrileg gilt, nämlich an den Kronjuwelen der Popmusik herumzufeilen, erscheint bei Giles Martin als sinnvolle Veredelung. Ihm geht es darum, das "Weiße Album" so klingen zu lassen, als wäre es erst gestern aufgenommen worden, den Sound jedes einzelnen Songs zu optimieren, seine technischen Beschränkungen zu überwinden. Weil sich unsere Hörerfahrungen verändert haben und vor allem junge Hörer, durch Techno, Hip-Hop und Heavy Metal sozialisiert, Musik heute dynamischer, vielleicht sogar etwas knalliger erleben, wollte Martin einen "zeitgemäßen" Sound schaffen, ohne den Grundton des Originals zu beschädigen. Die Stimmen rücken jetzt näher an den Hörer heran, die Trennschärfe zwischen den Instrumenten ist größer, als hätte man eine Art akustische Schutzhülle von den Aufnahmen gezogen. Neben der Dynamik hat sich auch die Räumlichkeit jedes einzelnen Songs vergrößert.
Musikalisch machten die Beatles mit dem "Weißen Album" einen Schnitt: Waren die Stücke von "Sgt. Pepper" noch als langwierige Gemeinschaftsleistungen im Studio entstanden, so gingen jetzt selbstbewusste Individuen ans Werk. Jeder kam mit seinen Song-Skizzen, wann immer es ihm passte, in die Abbey Road. Oft war er dann im Studio mit seinem Material allein, die anderen drei vervollständigten die Stücke erst später. John Lennon: "Dieses Album war eigentlich ich und Begleitband, Paul und Begleitband, George und Begleitband . . . Wir lösten uns damals auf." Nicht allein der plötzliche Tod ihres Managers Brian Epstein im August 1967 und der rüpelhafte Stil des neuen Geschäftsführers Allen Klein hatten den Gruppenzusammenhalt erschüttert; auch der gemeinsame, ernüchternde Besuch beim Maharishi Mahesh Yogi in Indien im Februar 1968 führte dazu, dass sich jeder nur mit seinen eigenen Songideen beschäftigte.
Paul McCartney arbeitete an "Mother Nature's Son", "Blackbird" und "I Will", Lennon widmete der schüchternen Schwester der mitgereisten Mia Farrow "Dear Prudence" und schrieb zusammen mit Donovan den Text von "Rocky Racoon". Indien inspirierte ihn auch zu seiner späteren Bekenntnis-Ballade "Jealous Guy". In der jetzt veröffentlichten Urfassung trägt sie noch den Titel "Child Of Nature" und enthält so hübsche Zeilen wie "On the road to Rishikesh, I was dreaming more or less." John Lennon kämpfte während des Indien-Aufenthalts im Beisein seiner Frau Cynthia mit einem besonderen Problem. Bereits während der Studiosession zum Rock 'n' Roll-Erfolg "Lady Madonna" hatte er den tranceartigen Song "Across the Universe" aufgenommen, der dann erst auf "Let It Be" erschien, enthielt gleichwohl die aufschlussreiche Zeile: "Thougths meander like a restless wind inside a letterbox". Cynthia Lennon erinnert sich wehmütig an die Wochen in Indien: "Was ich nicht wusste: Jeden Morgen lief er zum Postamt und schaute nach, ob er einen Brief von Yoko bekommen hatte. Sie schrieb ihm fast täglich." Jetzt beschließt eine hinreißend-innige Lesart von "Across The Universe", nur mit akustischen Gitarren eingespielt, die Neuedition. Sie gleicht einer schmerzlichen Beschwörung seiner amour fou mit Yoko, in die Lennon sein ganzes Leiden hineinzulegen scheint.
Die Beatles gewannen gleichwohl ein wenig Abstand zum aufgedrehten London und konnten die indische Muße kreativ nutzen, ihren Drogenkonsum einschränken und mit mehr als dreißig neuen Songs am 30. Mai 1968 in die Abbey Road-Studios zurückkehren. Dort wurde es schnell schwierig. Vor allem Lennons symbiotische Beziehung zu Yoko Ono unterminierte den Gruppengedanken. Die Geliebte durfte sogar aktiv an den Sessions teilnehmen und ist beispielsweise in dem Lennon-Outtake "Revolution" zu hören. Er wurde zur Grundlage der Stücke "Revolution 1" - einer Hommage an den revolutionären Mai in Paris (am Tag der Aufnahme dieses Songs löste De Gaulle die französische Nationalversammlung auf) - und "Revolution 9", inspiriert von Yoko Onos Avantgarde-Begriff. Fast fünf Monate zogen sich die Aufnahmen des "Weißen Albums" hin, von manchen Songs wurden mehr als einhundert Takes eingespielt. Dafür enthält das Debüt auf dem Beatles-eigenen Label Apple eine seltene Bandbreite, von Folk und Blues über Kinder- und Wiegenlieder, Country, Heavy-Rock und Protestsong bis zur Soundcollage "Revolution 9". Dieses Musterbeispiel elektronischer Zufallskomposition vereint mehr als dreißig Bandaufnahmen. Ein Chor, rückwärts abgespielte Violinen, klingelnde Gläser, Applaus, Opernaufnahmen, rückwärts gespielte Mellotron-Sounds, Summen, Satzfetzen, Schreie - all das wird in einer Collage miteinander verblendet. Obwohl das Stück zunächst schwer verdaulich erscheint, hatte es als Versuch einer freien Klangassoziation, die sich allein aus dem Unterbewusstsein bildet, einen befreienden kulturellen Effekt. In der neuen Abmischung kann man jetzt tiefer als je zuvor in diesen klingenden stream of consciousness eintauchen. Der neue Mix gewährt quasi am laufenden Band Offenbarungen: Selten klang Lennons Stimme leidenschaftlicher als in dem Outtake von "Happiness Is a Warm Gun", ihre außerweltliche Verlorenheit in "Julia" verursacht Gänsehaut. Die Schärfe von Ringos Snare-Drum scheint im neuen "Ob-La-Di, Ob-La-Da"-Mix den peitschenden Beat von Drum 'n' Bass vorwegzunehmen. "Rocky Racoon" fasziniert durch sein zeitlupenhaftes Talking-Blues-Intro, während der Nonsens-Studio-Jam "Los Paranoias" mit albernen Zeilen wie "Los Paranoias, come on and join us" lockt. Man hört diesen Outtakes an, dass die Stimmung im Studio doch nicht die schlechteste gewesen sein kann, zu viel wird da herumgealbert, zu zärtlich verflochten klingen einzelne Harmoniegesänge. "Honey Pie" wirkt in seiner ausgelassenen Music-Hall-Atmosphäre fast charmanter als im Original. Pauls Bass in der Lennon-Nummer "I'm so Tired" klang selten knackiger, und die gänzlich entschlackte Fassung von "Martha My Dear", ohne Streicher und Bläser, atmet eine fast überirdische Unschuld.
Und dann ist da noch der schicksalsschwere Song "Helter Skelter", jene brachiale Rocknummer, aus welcher Charles Manson Mordaufträge heraushörte. Die Beatles galten ihm als die vier Reiter der Apokalypse und "Helter Skelter" als Vorhersage einer Entscheidungsschlacht der Rassen, in dem Schwarze und Reiche vernichtet werden mussten. In einem jetzt veröffentlichten dreizehnminütigen Outtake ist aufgrund des stoisch-monotonen Schlagzeugbeats von diabolischen Kräften gar nichts zu spüren. Doch dann gibt es da noch jene dreieinhalbminütige Version, die mit ihrem völlig überdrehten Schreigesang erstmals so lärmend-böse klingt, wie Manson es sich wohl gewünscht hätte. Denn McCartney fühlte sich in jenen Tagen durch eine Bemerkung von Pete Townshend herausgefordert, der die gerade veröffentlichte Single von The Who "I Can See For Miles" als lautesten und dreckigsten Song aller Zeiten feierte.
Als eigentliche Sensation entpuppen sich aber die erstmals offiziell veröffentlichten "Esher Demos". Nicht nur in "Ob-La-Di, Ob-La-Da" scheinen aufgedrehte Freunde ihre Lieblingssongs unbeschwert am Lagerfeuer ihres Ruhms zu schrammeln. Ihre Stimmen sind glasklar und, wie in "Dear Prudence", von fast beängstigender Intimität. Harrisons Gitarre in der beschleunigten Akustik-Version von "While My Guitar Gently Weeps" klingt fast wie ein verhindertes Banjo. Die jetzt veröffentlichte Fassung mit sphärischer Orgelbegleitung enthält auch die im Original leider fehlende, anrührende Strophe: "I look from the wings at the play you are staging / While my guitar gently weeps / As I'm sitting here doing nothing but aging / Still my guitar gently weeps." In einer weiteren, wundersamen, leider nicht ganz vollständigen Version konterkariert Eric Clapton Harrisons sehnsüchtigen Gesang mit schneidenden Blues-Licks und einem neuen, wimmernd-klagenden Solo. Es verströmt eine jubilierende Traurigkeit, die nicht nur Gitarristen in ihren Bann schlägt.
Die "Esher Demos" sind voller Wunder: Man hört die Harrison-Komposition "Sour Milk", die es nicht auf das "Weiße Album" schaffte, auch Paul McCartneys hypnotischer Singsang in "Junk" blieb für ein späteres Solo-Album reserviert. Betörend unbeschwert klingen auch "Mean Mr. Mustard" und "Polythene Pam", die dann Teil der Suite auf "Abbey Road" wurden. Man wundert sich immer wieder: Trotz der individualistischen Herangehensweise klingen die meisten Songs am Ende wie aus einem Guss.
Im Vergleich mit der Perfektion und Brillanz von "Sgt. Pepper" kommt das "Weiße Album" letztlich unprätentiöser, rauher und direkter daher. Gerade seine lässige Unvollkommenheit macht es so sympathisch und irgendwie cool. Es scheint von allen Beatles-Alben am wenigsten Patina angesetzt zu haben, eine fast unerschöpfliche Wundertüte. Dennoch zählte das "Weiße Album" nicht zu George Martins Lieblingsalben: "Ich denke, es wäre wahrscheinlich ein sehr, sehr gutes Einzelalbum anstelle eines Doppelalbums geworden." Ringo konterte damals weniger süffisant: "Das ist auch meine Meinung. Wir hätten zwei Einzelalben veröffentlichen sollen: das ,Weiße' und das ,Weißere' Album." Nach dem Hören der Neu-Edition lässt sich nur bestätigen: Weißer geht's nicht!
PETER KEMPER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main