Produktdetails
- Anzahl: 1 Audio CD
- Erscheinungstermin: 8. Januar 2010
- Hersteller: GOODTOGO / DOMINO RECORDS,
- EAN: 5034202016724
- Artikelnr.: 20753916
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
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1 | Cravo é canela | 00:03:09 | |
2 | Thunder road | 00:06:28 | |
3 | It's expected I'm gone | 00:03:21 | |
4 | Daniel | 00:04:59 | |
5 | Love is love | 00:03:31 | |
6 | Pancho | 00:03:13 | |
7 | That's pep! | 00:02:41 | |
8 | Some say [I got devil] | 00:03:33 | |
9 | Cavalry cross | 00:05:08 | |
10 | On my own | 00:03:42 |
Wärmegewitter: Bonnie "Prince" Billy trifft "Tortoise"
Ein popmusikalisches Gipfeltreffen dient der Umwertung aller Werte: Der Sonderling Bonnie "Prince" Billy hat mit den Post-Rockern von "Tortoise" ein Coveralbum gemacht.
Er kultiviert das Prinzip "Sonderling" und feilt an seinem Ruf als schratiger Troubadour - Will Oldham alias Bonnie "Prince" Billy besitzt eine seltene Gabe: Mit ausgemergelter Stimme, die in all seinen Songs für latentes Unwohlsein sorgt, trifft er gleichzeitig einen anrührenden Ton von Schüchternheit und Verletzlichkeit. Oldham verkörpert den unberechenbaren Eigenbrötler. Obwohl seit seinen Anfängen in den frühen Neunzigern der amerikanischen Folk- und Alternative-Country-Szene zugerechnet, hat er seine Wurzeln in der experimentellen Post-Punk-Szene von Louisville/Kentucky. Hier erprobte er seinen Gesang als melodisches Murmeln, hier befreite er sich mit skurrilem Humor aus jugendlichen Angstzuständen.
Seine künstlerische Karriere kam zunächst mit einem Auftritt in dem Film "Matewan" über eine Bergarbeiter-Clique in den Appalachen in Schwung. Oldham spielte darin einen jugendlichen Prediger. Seine Qualifikation für diese Rolle rechtfertigte er später mit den Worten "Zu Hause waren wir leidenschaftliche Atheisten. Wir sangen immer verrückt-verzerrte Hymnen und kehrten die religiösen Bezüge in weltliche um." Mit zwanzig brach Oldham sein Studium an der "Brown University" ab und kaufte sich für erste Song-Aufnahmen mit Freunden in Brooklyn eine billige Gitarre. Zurück in Kentucky, gründete er mit seinem Bruder Net die Indie-Rock-Band "Slint" - ein loser Arbeitszusammenhang, aus dem 1993 dann seine erste Veröffentlichung unter dem Pseudonym "Palace Brothers" entstand. Den häufigen Namenswechseln - von "Palace Brothers" zu "Palace Song" über "Palace Music" bis hin zu Bonnie "Prince" Billy - ist Oldham treu geblieben, wohl um so seine fragile Identität zu kaschieren, wenn nicht zu schützen. Nicht zufällig lautet sein Credo: "Wenn du allein bist, kann dich auch niemand verletzen."
Oldham, der melancholische Exzentriker, ist inzwischen ein Nomade aus Passion. Ständig auf Achse, rund um die Welt, schleppt er einen Rucksack voller Kleider und einen alten Kaffeebecher mit sich herum. Der trägt die Aufschrift "Gott vermehre mein Wissen!". Wie die Wegmarken dieser seltsamen Wissensvermehrung klingen, dokumentieren inzwischen achtzehn Schallplatten: Mit vertrödelter Phrasierung und einem fast furchtsamen Flüstern singt Oldham vom Verschwinden wahrer Liebe aus dieser Welt, zerbrechlich und zäh zugleich. Johnny Cash sah in ihm einen düsteren Seelenverwandten und spielte mit ihm dessen Komposition "I see a darkness" neu ein. Ob pure Lust oder reine Liebe - Oldhams geisterhafte Geschichten spielen nur die alten romantischen Skripte nach, ohne im Innern noch dem Ideal vom "freien Einklang zweier Seelen" zu vertrauen: bedingungslose Zuneigung im Zustand des Als-ob. Kein Wunder, daß Oldham in einem seiner braveren Lieder beispielsweise den Verkehr mit einem Berg preist.
Was hat dieser langbärtige Prophet der Trostlosigkeit mit einer Hybrid-Jazz-Formation wie "Tortoise" gemeinsam? Beide entstammen der "Post"-Tradition, beide suchten Anfang der Neunziger Antworten auf die von Macho-Posen durchseuchte Rockmusik. "Tortoise" propagierten einen weich pulsierenden Post-Rock, der Minimal-Strukturen mit Free-Jazz-Momenten und Rock-Rhythmen versöhnte. Oldham wies in der Rolle des Nashville-Zombies darauf hin, daß in allen "rockistischen" Gesten bereits der Keim ihres Scheiterns angelegt ist, daß in jeder Form auftrumpfenden Gesangs bereits seine Selbstzerstörung lauert. Während der gewaltlose Mathematik-Rock von "Tortoise" den Hörer immer wieder in einen amorphen Mahlstrom aus Kontemplation und Abstraktion lockt, versucht Oldham als Person in der gespenstischen Intimität seiner kruden Songs zu verschwinden. Jetzt ist er zu einem körperlosen Wanderer zwischen den beiden Welten geworden.
Aus der Kollaboration der Indie-Folk-Ikone mit den artifiziellen Folk-Rockern ist ein betörendes Coveralbum der etwas anderen Art entstanden: Auf "The Brave and The Bold" findet eine Umwertung der popmusikalischen Werte statt, ohne daß es schmerzt. Da atmet die majestätische und zugleich monströse Version von Bruce Springsteens "Thunder Road" Respekt und den Wunsch nach Revision. Die triumphale Gitarre mutiert zu einem wimmernden Theremin, und Oldhams einschläfernd brüchiger Gesang klingt plötzlich trostreich und ermutigend. So unterschiedliche Lieder wie "Daniel" von Elton John oder "Love is Love" von "Lungfish" winden sich mit ihren Klangschleifen und kalkulierten Verzerrungen bis in die hintersten Winkel der Gehirnschale. David Hanners Edelkitsch-Hyme "Pancho" entfaltet eine betörende Sogwirkung, während "Some Say (I got the Devil)" vom sprichwörtlich arglosen Blumenmädchen "Melanie" stoisch-melodisch auf der Stelle tritt.
Hier wird historisches Material enthistorisiert, ohne zugleich entkernt zu werden. Und mit den Songs verwandeln sich die Interpreten. Das ständig federnde Musik-Bett von "Tortoise" schafft selbst für einen vorsätzlichen Verzweifler wie Oldham eine geradezu provokante Wohlfühlatmosphäre. Das kühle Elektronik-Kalkül der Chicagoer Hybrid-Jazzer verströmt plötzliche Wärme. Zart, fast anheimelnd kommt Richard Thompsons "Cavalry Cross" daher, während "It's expected I'm gone" von den "Minutemen" wie ein Freudenfest aus Störgeräuschen klingt. Man darf nach diesem Album bezweifeln, ob Bonnie "Prince" Billy inmitten der gleichgesinnten Mitmusiker von "Tortoise" noch seine alte Maxime aufrechterhalten würde: "Lieber wäre ich ein Wolf unter Wölfen als ein Mann unter Männern."
PETER KEMPER.
Tortoise and Bonnie "Prince" Billy, The Brave and The Bold, Domino/Rough Trade wigcd 167
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