Produktdetails
- Anzahl: 1 Audio CD
- Erscheinungstermin: 16. Januar 2009
- Hersteller: 375 Media GmbH / ROUGH TRADE/BEGGARS GROUP / INDIGO,
- EAN: 0883870044325
- Artikelnr.: 25474752
- Herstellerkennzeichnung
- Beggars UK Ltd.
- 375 Media GmbH
- Schachthofstraße 36a
- 21079 Hamburg
- https://375media.com/
CD | |||
1 | Her Eyes Are Underneath The Ground | 00:04:23 | |
2 | Epilepsy Is Dancing | 00:02:41 | |
3 | One Dove | 00:05:34 | |
4 | Kiss My Name | 00:02:48 | |
5 | The Crying Light | 00:03:17 | |
6 | Another World | 00:03:59 | |
7 | Daylight And The Sun | 00:06:20 | |
8 | Aeon | 00:04:34 | |
9 | Dust And Water | 00:02:50 | |
10 | Everglade | 00:02:58 |
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.01.2009Jede Zelle meines Körpers ist traurig
Gegenwehr ist sinnlos: Warum niemand Antony and the Johnsons braucht und ihr neues Album trotzdem den Pop vor der Bedeutungslosigkeit retten wird.
Es gibt Musik, die man nicht braucht. Ist das mit Kunst nicht immer so? Eben nicht! Gerade Popmusik dient allen möglichen Zwecken: in Kaufhäusern der Förderung der Konsumlust, in Fanblocks der Steigerung des Gemeinschaftsgefühls, bei langen Autofahrten dem Wachbleiben, daheim dem Einschlafen, dem Aggressionsab- oder -aufbau, der Beruhigung oder dem erotischen Zuwillenmachen. Die meisten Menschen hören Pop, um sich nicht allein zu fühlen. Sobald man zu zweit im Zimmer ist, kann man reden oder sonst etwas tun, und die Musik beginnt zu stören.
Antony macht eine Art Musik, bei der ich mir nicht vorstellen kann, wozu ich sie brauchen könnte. Ich hatte natürlich gehört, dass sie begeisterte Anhänger hat, eine regelrechte Fangemeinde quer zu den herkömmlichen Popmilieus, den kennerischen Abgrenzungen zwischen Chartshörern und Chartshassern, den Missionaren und den Indifferenten: ein neues Popkönigskind sei uns geboren, zu dem alle Mühseligen und Beladenen kommen können.
Doch mich interessierte das nicht die Bohne. Wozu sollte ich die angestrengte Ausdruckskunst eines offenbar in seiner Jugend schwer traumatisierten Transvestiten anhören? Wozu an mystischen Erfahrungen zwischen Vergewaltigung und Visio Dei, Sado/Maso und Suche nach der verlorenen Unschuld teilhaben? Ich bin popmusikalisch in den Achtzigern sozialisiert worden, mit Boy George und seinem Culture Club, mit Frankie Goes to Hollywood und den Communards, den Darkroom-Soundtracks von Depeche Mode und dem zur Platten-Promo entwürdigten Aids-Tod Freddie Mercurys. Wozu also jetzt noch einmal die Last und Lust einer sexuellen Identitätssuche, als popmusikalisches Gesamtkunstwerk? Den Trotz einer Selbstbehauptung, die Trauer über die Opfer des Andersseins? Das muss ich doch mal ignorieren dürfen!
Also nie richtig hingehört, nie diese überkandidelten und im Gesang zerbröselnden Texte studiert, nicht in die Biographie Antony Hegartys eingelesen (jetzt nachgeholt: 1971 in der englischen Provinz geboren, in Kalifornien aufgewachsen und 1990, auf dem Höhepunkt der Aids-Katastrophe, nach Manhattan gegangen). Die Psychoanalytiker unter den Fans mögen von Abwehr sprechen.
Dann lasse ich ihn hiermit doch einmal an mich heran, und schon die erste Zeile des ersten Lieds der neuen Platte verstehe ich gar nicht, weil sie so überdeutlich gesungen wird, als nehme Antony Anteil am Schicksal jeder verklingenden Silbe und sorge sich um jeden verschluckten Buchstaben: "Her eyes are underneath the ground / I have heard the crying sound", dechiffriere ich irgendwann und auch wieder nicht. Wer ist diese "Sie" und wer das "Ich" und wer das "Du" in diesem Lied, in dem jemand mit seiner Mutter einst im Garten eine Blume gestohlen hat? In Antonys Welt spielen solche Unterscheidungen keine Rolle mehr, Subjekt und Objekt verschmelzen ebenso wie Geschlechter und musikalische Genres in einem romantisch-allumfassenden Trauergesang, einem Eingedenken im Sinne Walter Benjamins, das gerade das immer schon Verlorene noch zu retten versucht.
Es sind Lieder wie vom Totenbett aus gesungen oder bereits "Erinnerungen von jenseits des Grabes", wie der französische Romantiker Chateaubriand seine postum veröffentlichte Autobiographie nannte. "Ich werde die Vögel vermissen, die ihre Lieder singen, und den Wind, der mich so lange geküsst hat", singt Antony in "Another World". Wer hier geht und wer bleibt - die Welt oder das Bewusstsein -, ist unerheblich. Antony zittert sich mit seiner Falsettstimme durch diese Verse, als nehme er Abschied von jedem Wort, als würde jedes zum letzten Male genannt und verdiene das längstmögliche Vibrato als Lohn für seine Dienste. Die sparsamen, aber ausgefeilten Arrangments aus Klavier, Streichern, Holzbläsern, Konzertgitarrentupfern und dezentem Schlagwerk unterstreichen den fragilen Charakter dieser Musik, in der jedem Takt die gleiche Aufmerksamkeit zukommen muss: Jede Zelle dieses Kunstwerks ist traurig. Und selbst der im fröhlichen Walzertakt anhebene Song "Epilepsy is Dancing" lässt die Seelenzustände der Ekstase und der völligen Verfinsterung als Zwillinge erscheinen.
So bettelt Antony um Gnade und ist zugleich der Erlöser, der allein sie gewähren kann, besingt die Verlorenheit der Welt und zugleich ihre Schönheit. Mitunter verdoppelt er seine Gesangsstimme in verschiedenen Lagen und erscheint so erst recht als Verkörperung der Dreifaltigkeit, als eine Trias aus Gott, Mensch und Heiligem Geist, welche die ganze Schöpfung unmittelbar durchdringt. Wenn in "One Dove" die Ankunft der friedensbringenden Taube erfleht wird, dann sind auch alle Unterscheidungen zwischen Camp, Kitsch und Kunst unerheblich geworden.
Und dann kommt so ein irrwitziger Psychedelic-Gospel wie "Aeon" oder die manische Beschwörung "Kiss My Name" - man kann kaum glauben, dass solche unsagbar traurigen, zugleich schwerelosen Lieder möglich sind. Das kann man nicht gebrauchen, ich wüsste jedenfalls nicht, wozu. Und weil ich Antony nicht brauche, werde ich nicht mehr ohne ihn leben können.
RICHARD KÄMMERLINGS
Antony and the Johnsons, The Crying Light. Rough Trade (Indigo)
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gegenwehr ist sinnlos: Warum niemand Antony and the Johnsons braucht und ihr neues Album trotzdem den Pop vor der Bedeutungslosigkeit retten wird.
Es gibt Musik, die man nicht braucht. Ist das mit Kunst nicht immer so? Eben nicht! Gerade Popmusik dient allen möglichen Zwecken: in Kaufhäusern der Förderung der Konsumlust, in Fanblocks der Steigerung des Gemeinschaftsgefühls, bei langen Autofahrten dem Wachbleiben, daheim dem Einschlafen, dem Aggressionsab- oder -aufbau, der Beruhigung oder dem erotischen Zuwillenmachen. Die meisten Menschen hören Pop, um sich nicht allein zu fühlen. Sobald man zu zweit im Zimmer ist, kann man reden oder sonst etwas tun, und die Musik beginnt zu stören.
Antony macht eine Art Musik, bei der ich mir nicht vorstellen kann, wozu ich sie brauchen könnte. Ich hatte natürlich gehört, dass sie begeisterte Anhänger hat, eine regelrechte Fangemeinde quer zu den herkömmlichen Popmilieus, den kennerischen Abgrenzungen zwischen Chartshörern und Chartshassern, den Missionaren und den Indifferenten: ein neues Popkönigskind sei uns geboren, zu dem alle Mühseligen und Beladenen kommen können.
Doch mich interessierte das nicht die Bohne. Wozu sollte ich die angestrengte Ausdruckskunst eines offenbar in seiner Jugend schwer traumatisierten Transvestiten anhören? Wozu an mystischen Erfahrungen zwischen Vergewaltigung und Visio Dei, Sado/Maso und Suche nach der verlorenen Unschuld teilhaben? Ich bin popmusikalisch in den Achtzigern sozialisiert worden, mit Boy George und seinem Culture Club, mit Frankie Goes to Hollywood und den Communards, den Darkroom-Soundtracks von Depeche Mode und dem zur Platten-Promo entwürdigten Aids-Tod Freddie Mercurys. Wozu also jetzt noch einmal die Last und Lust einer sexuellen Identitätssuche, als popmusikalisches Gesamtkunstwerk? Den Trotz einer Selbstbehauptung, die Trauer über die Opfer des Andersseins? Das muss ich doch mal ignorieren dürfen!
Also nie richtig hingehört, nie diese überkandidelten und im Gesang zerbröselnden Texte studiert, nicht in die Biographie Antony Hegartys eingelesen (jetzt nachgeholt: 1971 in der englischen Provinz geboren, in Kalifornien aufgewachsen und 1990, auf dem Höhepunkt der Aids-Katastrophe, nach Manhattan gegangen). Die Psychoanalytiker unter den Fans mögen von Abwehr sprechen.
Dann lasse ich ihn hiermit doch einmal an mich heran, und schon die erste Zeile des ersten Lieds der neuen Platte verstehe ich gar nicht, weil sie so überdeutlich gesungen wird, als nehme Antony Anteil am Schicksal jeder verklingenden Silbe und sorge sich um jeden verschluckten Buchstaben: "Her eyes are underneath the ground / I have heard the crying sound", dechiffriere ich irgendwann und auch wieder nicht. Wer ist diese "Sie" und wer das "Ich" und wer das "Du" in diesem Lied, in dem jemand mit seiner Mutter einst im Garten eine Blume gestohlen hat? In Antonys Welt spielen solche Unterscheidungen keine Rolle mehr, Subjekt und Objekt verschmelzen ebenso wie Geschlechter und musikalische Genres in einem romantisch-allumfassenden Trauergesang, einem Eingedenken im Sinne Walter Benjamins, das gerade das immer schon Verlorene noch zu retten versucht.
Es sind Lieder wie vom Totenbett aus gesungen oder bereits "Erinnerungen von jenseits des Grabes", wie der französische Romantiker Chateaubriand seine postum veröffentlichte Autobiographie nannte. "Ich werde die Vögel vermissen, die ihre Lieder singen, und den Wind, der mich so lange geküsst hat", singt Antony in "Another World". Wer hier geht und wer bleibt - die Welt oder das Bewusstsein -, ist unerheblich. Antony zittert sich mit seiner Falsettstimme durch diese Verse, als nehme er Abschied von jedem Wort, als würde jedes zum letzten Male genannt und verdiene das längstmögliche Vibrato als Lohn für seine Dienste. Die sparsamen, aber ausgefeilten Arrangments aus Klavier, Streichern, Holzbläsern, Konzertgitarrentupfern und dezentem Schlagwerk unterstreichen den fragilen Charakter dieser Musik, in der jedem Takt die gleiche Aufmerksamkeit zukommen muss: Jede Zelle dieses Kunstwerks ist traurig. Und selbst der im fröhlichen Walzertakt anhebene Song "Epilepsy is Dancing" lässt die Seelenzustände der Ekstase und der völligen Verfinsterung als Zwillinge erscheinen.
So bettelt Antony um Gnade und ist zugleich der Erlöser, der allein sie gewähren kann, besingt die Verlorenheit der Welt und zugleich ihre Schönheit. Mitunter verdoppelt er seine Gesangsstimme in verschiedenen Lagen und erscheint so erst recht als Verkörperung der Dreifaltigkeit, als eine Trias aus Gott, Mensch und Heiligem Geist, welche die ganze Schöpfung unmittelbar durchdringt. Wenn in "One Dove" die Ankunft der friedensbringenden Taube erfleht wird, dann sind auch alle Unterscheidungen zwischen Camp, Kitsch und Kunst unerheblich geworden.
Und dann kommt so ein irrwitziger Psychedelic-Gospel wie "Aeon" oder die manische Beschwörung "Kiss My Name" - man kann kaum glauben, dass solche unsagbar traurigen, zugleich schwerelosen Lieder möglich sind. Das kann man nicht gebrauchen, ich wüsste jedenfalls nicht, wozu. Und weil ich Antony nicht brauche, werde ich nicht mehr ohne ihn leben können.
RICHARD KÄMMERLINGS
Antony and the Johnsons, The Crying Light. Rough Trade (Indigo)
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main