Produktdetails
  • Anzahl: 1 Audio CD
  • Erscheinungstermin: 14. März 2008
  • Hersteller: ROUGH TRADE / LOOSE MUSIC,
  • EAN: 5029432007727
  • Artikelnr.: 23464691
  • Herstellerkennzeichnung
  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Trackliste
CD
1Little Ann00:03:23
2Greatest Show On Earth00:05:30
3Frankie's Gun!00:04:06
4Goddamn You, Jim00:03:25
5Wonderful Life00:04:02
6Don't Wake The Scarecrow00:04:56
7Take This Bread00:04:51
8Saint Stephen's End00:04:03
9Love Me Tenderly00:03:40
10Ruby Mae00:04:08
11Murder By Mistletoe00:04:41
12Whiskey In My Whiskey00:03:48
13Helen Fry00:05:44
14Radio Song00:03:51
15Tip Your Way00:05:22
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.07.2008

Hobos, Tramps, Mörder
Schöne Folk-Lügengeschichten: Die Felice Brothers

Glaubt man seinen Erinnerungsbüchern "Chronicles", dann begann Bob Dylans Karriere mit der Räuberpistole, er sei als Tramper im Güterzug nach New York gekommen. Hätte man Woody Guthrie die Story aufgrund seiner Herkunft und seines Aufwachsens in Sandsturm- und Depressionszeiten vielleicht noch abnehmen können, so wurde in der relativen Wohlstandsgesellschaft des Nachkriegsamerika spätestens mit Dylans Maskenspiel jene fiktionalisierte Variante des Vagabundenlebens bekannt, in der es nicht mehr wirklich um die Wurst geht, man aber zumindest schön darüber singen kann. Mit Gauklern wie Tom Waits lebt diese Tradition fort, und allzu gern nimmt man die Übereinstimmung zwischen Songs und Sängern an: Man kauft ihnen ab, dass sie monatelang in einem Auto gewohnt haben und ihr größtes Glück eine Weihnachtskarte von einem leichten Mädchen aus Minneapolis ist.

Was über die junge Folk-Gruppe The Felice Brothers erzählt wird, passt in dieses Muster: Sie seien Zimmermannssöhne aus den Catskill Mountains, haben jahrelang von der Hand in den Mund gelebt und landauf, landab in die Saiten gegriffen, bis ein Musikjournalist auf sie aufmerksam wurde. Simone, Ian und James Felice nahmen dann noch einen neunzehnjährigen Herumtreiber namens Christmas in die Band auf, und nun haben sie, zur eigenen Überraschung, innerhalb kürzester Zeit zwei Alben eingespielt.

Wie schon der Vorgänger "Tonight At The Arizona" ist auch die zweite, unbetitelte Platte stark atmosphärisch grundiert: Hier und da hört man Schüsse, Kneipengeräusche und das unvermeidliche Horn eines fernen Güterzuges. Zwischen melancholischen Akkordeonphrasen skandiert der immer leicht heisere Ian Felice Sätze aus dem beschädigten Leben. Wiederholt kommt es zum Mord, zum Beispiel an "Ruby Mae", einer Tingeltangel-Tänzerin, mit der alles so gut anfing und doch schlimm endet: "In the bitter morning air / I hid her body there / In the heart of Old Times Square / So she'd not lose her way." Der Bänkelsängerton, den schon Brecht und Döblin für die Moderne wieder salonfähig gemacht haben, zieht noch immer Menschen in seinen Bann. Die Mörderballade hat in der Rockmusik seit Jahren Konjunktur, und die Felice Brothers sind auf einen Schlag in den Club ihrer besten Interpreten eingetreten. Wo Lustmorde geschehen, sind scharfe Getränke nicht weit. Die alte Country-Logik "She left because I drink and I drink because she left me" haben die Brüder wohl schon mit der Muttermilch aufgenommen. Etwas anders gewendet, heißt es bei ihnen: "I put some whiskey into my whiskey / I put some heartache into my heart." Alles ist also da, wo es hingehört. Als wäre das noch nicht schlimm genug, gerät dann aber auch dieser Song noch überraschend auf die schiefe Bahn: "I put my boots on the old dance floor / I put three rounds, oh Lord, in my Eleanor".

Viele der dunklen Texte laufen auf den Humor des Ökonomen John Maynard Keynes hinaus: "In the long run we're all dead." Vorgetragen werden sie jedoch mit dem Gestus eines Kirmesanheizers, der verspricht, dass im Zelt noch richtig geboxt werde, und die Musik dazu klingt bisweilen, als wäre eine Marching Band in New Orleans aus dem Trauerzug ausgebrochen und komplett durchgedreht. Wenngleich die Lieder zumeist eher von denen handeln, die gar nicht arbeiten, spukt ab und zu der Geist von Tom Joad vorbei. "Trouble Been Hard" erzählt in Steinbeckscher Manier von jenen, die meilenweit zu Fuß am Highway entlanglaufen müssen, um dann eine Doppelschicht anzutreten. Wenngleich solche Lebenshärte durch Anleihen aus Gospelsongs einen Hoffnungsschimmer erhält, überwiegt doch die Weltsicht des enttäuschten Predigers aus den "Früchten des Zorns", der angesichts von so viel Leid das Wort nicht mehr verkünden mag.

Mit Sicherheit keine Fiktion ist, dass die wilden Kerle viel musikalische Straßenerfahrung mitbringen. Für lange Zeit waren die U-Bahn-Stationen entlang der 42. Straße in New York ihre Bühne. Noch heute spielen sie, wo sie gehen und stehen. Davon vermitteln viele spontane Auftritte, die auf YouTube zu bestaunen sind, einen lebhaften Eindruck: Irgendwo in Texas geben sie noch schnell hinter dem Zelt eine Zugabe zu Ehren der Abendsonne, und selbst eine der sonst so drögen Werbeveranstaltungen in größeren Musikgeschäften, bei denen die meisten nur gelangweilt signieren, verwandeln sie mit Waschbrett und Mundharmonika aus dem Stegreif in einen veritablen Schautanz ihres Könnens. Das ist eine Erneuerung der Folktradition, wie man sie lange nicht gesehen hat - und bestimmt kein Zufall, dass die Felice Brothers demnächst beim legendären "Newport Folk Festival" auftreten.

JAN WIELE

The Felice Brothers, Tonight At The Arizona. V2 Records 7487328 (Universal)

The Felice Brothers, Rough Trade 4320077

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