Produktdetails
- Anzahl: 1 Audio CD
- Erscheinungstermin: 29. September 2023
- Hersteller: Universal Vertrieb - A Divisio / Virgin Music LAS,
- Gesamtlaufzeit: 64 Min.
- EAN: 0044003353077
- Artikelnr.: 68777960
CD | |||
1 | Inclination | 00:07:17 | |
2 | What Life Brings | 00:03:40 | |
3 | Economies of Scale | 00:04:18 | |
4 | Impossible Tightrope | 00:10:44 | |
5 | Rock Bottom | 00:04:25 | |
6 | Beautiful Scarecrow | 00:05:21 | |
7 | The Harmony Codex | 00:09:50 | |
8 | Time Is Running Out | 00:03:59 | |
9 | Actual Brutal Facts | 00:05:06 | |
10 | Staircase | 00:09:29 |
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.01.2024Ein Vogel auf dem Drahtseil
Der Krachkultur nicht abgeneigt, mit Einlagen an Chapman Stick und Duduk: Der progressive Rockmusiker Steven Wilson ist auf dem Album "The Harmony Codex" wieder in Bestform.
Steven Wilson ist der Zeremonienmeister des neuen Progrocks. Lange hat er sich von der Musik der frühen Siebziger inspirieren lassen, von Bands wie King Crimson, Gentle Giant und Pink Floyd, hat den progressiven Sound gemischt mit Metal, vor allem bei seiner langjährigen Hauptband "Porcupine Tree", die kürzlich nach langer Pause wieder ein neues Album vorgelegt hat. Als Solokünstler aber hat Wilson auf seinem letzten Album "The Future Bites" das Steuer herumgerissen: Richtung basslastigem Synthpop, was nicht wirklich überzeugt hat, auch wenn ein paar gelungenere Songs darunter waren wie das knuffige "Personal Shopper", in dessen Mittelteil ausgerechnet der luxusaffine Elton John eine lange, konsumkritisch gemeinte Einkaufsliste rezitiert.
Was die Themen seiner Liedtexte betrifft, kann man sich den 1967 geborenen, aber viel jünger aussehenden Wilson als eine Art Roger Waters ohne Antisemitismus vorstellen: Entfremdung durch Medien und Technik, Konsumgesellschaft, Vereinsamung der Menschen in der postmodernen Zivilisation. "Plagued by poor health / But you stockpile more wealth / Congratulate yourself", heißt es in "Staircase", einem ausgedehnten Stück seines neuen Soloalbums "The Harmony Codex", das Wilson wieder in Bestform zeigt. Der Reim ist hübsch, aber natürlich hört man ein Wilson-Werk nicht wegen der Texte, sondern wegen der musikalischen Texturen, auf die sich der Soundingenieur, Klang-Perfektionist, Multi-Instrumentalist und gefragte Produzent versteht. Wortlos überlässt man sich der mitreißenden Klangreise des elfminütigen Tracks "Impossible Tightrope", der mit nur drei Textzeilen auskommt und dennoch ein Höhepunkt des Albums ist.
Beim Hören und Wiederhören kommt man in einen schönen Flow. Kein potentieller Superhit ist dabei, dafür genießt man ein ausgetüfteltes, Vielfalt und Kohärenz verbindendes Albumerlebnis von vierundsechzig Minuten, das nur ein einziges Mal langweilig wird - ausgerechnet im Titeltrack, der mit seinen endlosen Arpeggios nach Wellness-Center-Musik klingt. Ansonsten verbindet Wilson gekonnt den süffigen Pop mit Ambient-Progrock; zwischendrin gibt es orientalisierende oder jazzige Anklänge, für die vor allem der Trompeter Nils Peter Molvaer und der Saxophonist Theo Travis sorgen. Die Basis sind die Elektro-Sounds, die Wilson in seinem Londoner Studio zusammengeschraubt hat und den Stücken oft als Loop unterlegt.
Die genreübergreifende Mischung wirkt auf entspannte Weise zeitgemäß. Auch seine etwas blasse, uncharismatische Stimme versteht Wilson inzwischen aufzuwerten, indem er mehrere Gesangsspuren fast gespinsthaft übereinanderlegt und verflicht wie in "Economies of Scale". Oder indem er seine Stimme elektronisch bearbeitet wie beim verzerrten Sprechgesang des starken, auf einer absteigenden chromatischen Akkordfolge gebauten Songs "Actual Brutal Facts". Oder indem er sich ins Duett mit der expressiven israelischen Sängerin Ninet Tayeb begibt.
Helle und dunkle Momente, melancholische Sanftheit und aggressiver Biss wechseln sich ab. Auch bei den beiden Sologitarristen hat Wilson diese Balance gewahrt. In der eher süßlichen Tradition David Gilmours steht Niko Tsonev, nur dass er die Saiten noch ein bisschen mehr dehnt als das Vorbild und die Intervalle noch weiter und juchzender gestaltet. Wunderbar, wie Tsonev in "Rock Bottom", dem besten Popstück des Albums, den letzten Ton Ninet Tayebs aufnimmt und seine Stratocaster die Melodie weitersingen und weiterfabulieren lässt. Der Pink-Floyd-Touch wird auch deutlich durch die von h-Moll ausgehende Akkordfolge des Liedes, die jener von "Comfortably Numb" stark ähnelt. Noch schöner ist sein dezentes Solo auf dem abschließenden Zehnminüter "Staircase". Tsonevs Widerpart ist der experimentelle, der Krachkultur nicht abgeneigte Gitarrist David Kollar, der "Actual Brutal Facts" durch ein Solo bereichert, das streckenweise wie eine wütende Duduk klingt und bei dem man kaum ahnen würde, dass es auf einer verzerrten akustischen Bariton-Gitarre mit dem Streicherbogen eingespielt wurde.
Für beeindruckende Hörerlebnisse sorgt auch wieder Wilsons alter Gefährte Nick Beggs: In "Staircase" liefert er ein gewaltig groovenden Solo auf dem Chapman Stick. Man könnte es für einen in höheren Lagen gespielten E-Bass halten, aber es ist eine elektrisch verstärkte Griffbrettzither. Und wenn in dem erst elegischen, dann düster-wuchtigen Song "Beautiful Scarecrow" - schöne Vogelscheuche - über dem bollernden Chapman Stick diesmal noch eine echte Duduk erklingt, dann freut man sich, dass Steven Wilson nach dem simplistischen "The Future Bites" wieder komplexere Musik macht und dabei dennoch das gewisse selbstverliebte Prog-Strebertum, das bisweilen störte bei früheren Alben, abgelegt zu haben scheint. WOLFGANG SCHNEIDER
Steven Wilson:
"The Harmony Codex".
Virgin Music
(Universal)
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Krachkultur nicht abgeneigt, mit Einlagen an Chapman Stick und Duduk: Der progressive Rockmusiker Steven Wilson ist auf dem Album "The Harmony Codex" wieder in Bestform.
Steven Wilson ist der Zeremonienmeister des neuen Progrocks. Lange hat er sich von der Musik der frühen Siebziger inspirieren lassen, von Bands wie King Crimson, Gentle Giant und Pink Floyd, hat den progressiven Sound gemischt mit Metal, vor allem bei seiner langjährigen Hauptband "Porcupine Tree", die kürzlich nach langer Pause wieder ein neues Album vorgelegt hat. Als Solokünstler aber hat Wilson auf seinem letzten Album "The Future Bites" das Steuer herumgerissen: Richtung basslastigem Synthpop, was nicht wirklich überzeugt hat, auch wenn ein paar gelungenere Songs darunter waren wie das knuffige "Personal Shopper", in dessen Mittelteil ausgerechnet der luxusaffine Elton John eine lange, konsumkritisch gemeinte Einkaufsliste rezitiert.
Was die Themen seiner Liedtexte betrifft, kann man sich den 1967 geborenen, aber viel jünger aussehenden Wilson als eine Art Roger Waters ohne Antisemitismus vorstellen: Entfremdung durch Medien und Technik, Konsumgesellschaft, Vereinsamung der Menschen in der postmodernen Zivilisation. "Plagued by poor health / But you stockpile more wealth / Congratulate yourself", heißt es in "Staircase", einem ausgedehnten Stück seines neuen Soloalbums "The Harmony Codex", das Wilson wieder in Bestform zeigt. Der Reim ist hübsch, aber natürlich hört man ein Wilson-Werk nicht wegen der Texte, sondern wegen der musikalischen Texturen, auf die sich der Soundingenieur, Klang-Perfektionist, Multi-Instrumentalist und gefragte Produzent versteht. Wortlos überlässt man sich der mitreißenden Klangreise des elfminütigen Tracks "Impossible Tightrope", der mit nur drei Textzeilen auskommt und dennoch ein Höhepunkt des Albums ist.
Beim Hören und Wiederhören kommt man in einen schönen Flow. Kein potentieller Superhit ist dabei, dafür genießt man ein ausgetüfteltes, Vielfalt und Kohärenz verbindendes Albumerlebnis von vierundsechzig Minuten, das nur ein einziges Mal langweilig wird - ausgerechnet im Titeltrack, der mit seinen endlosen Arpeggios nach Wellness-Center-Musik klingt. Ansonsten verbindet Wilson gekonnt den süffigen Pop mit Ambient-Progrock; zwischendrin gibt es orientalisierende oder jazzige Anklänge, für die vor allem der Trompeter Nils Peter Molvaer und der Saxophonist Theo Travis sorgen. Die Basis sind die Elektro-Sounds, die Wilson in seinem Londoner Studio zusammengeschraubt hat und den Stücken oft als Loop unterlegt.
Die genreübergreifende Mischung wirkt auf entspannte Weise zeitgemäß. Auch seine etwas blasse, uncharismatische Stimme versteht Wilson inzwischen aufzuwerten, indem er mehrere Gesangsspuren fast gespinsthaft übereinanderlegt und verflicht wie in "Economies of Scale". Oder indem er seine Stimme elektronisch bearbeitet wie beim verzerrten Sprechgesang des starken, auf einer absteigenden chromatischen Akkordfolge gebauten Songs "Actual Brutal Facts". Oder indem er sich ins Duett mit der expressiven israelischen Sängerin Ninet Tayeb begibt.
Helle und dunkle Momente, melancholische Sanftheit und aggressiver Biss wechseln sich ab. Auch bei den beiden Sologitarristen hat Wilson diese Balance gewahrt. In der eher süßlichen Tradition David Gilmours steht Niko Tsonev, nur dass er die Saiten noch ein bisschen mehr dehnt als das Vorbild und die Intervalle noch weiter und juchzender gestaltet. Wunderbar, wie Tsonev in "Rock Bottom", dem besten Popstück des Albums, den letzten Ton Ninet Tayebs aufnimmt und seine Stratocaster die Melodie weitersingen und weiterfabulieren lässt. Der Pink-Floyd-Touch wird auch deutlich durch die von h-Moll ausgehende Akkordfolge des Liedes, die jener von "Comfortably Numb" stark ähnelt. Noch schöner ist sein dezentes Solo auf dem abschließenden Zehnminüter "Staircase". Tsonevs Widerpart ist der experimentelle, der Krachkultur nicht abgeneigte Gitarrist David Kollar, der "Actual Brutal Facts" durch ein Solo bereichert, das streckenweise wie eine wütende Duduk klingt und bei dem man kaum ahnen würde, dass es auf einer verzerrten akustischen Bariton-Gitarre mit dem Streicherbogen eingespielt wurde.
Für beeindruckende Hörerlebnisse sorgt auch wieder Wilsons alter Gefährte Nick Beggs: In "Staircase" liefert er ein gewaltig groovenden Solo auf dem Chapman Stick. Man könnte es für einen in höheren Lagen gespielten E-Bass halten, aber es ist eine elektrisch verstärkte Griffbrettzither. Und wenn in dem erst elegischen, dann düster-wuchtigen Song "Beautiful Scarecrow" - schöne Vogelscheuche - über dem bollernden Chapman Stick diesmal noch eine echte Duduk erklingt, dann freut man sich, dass Steven Wilson nach dem simplistischen "The Future Bites" wieder komplexere Musik macht und dabei dennoch das gewisse selbstverliebte Prog-Strebertum, das bisweilen störte bei früheren Alben, abgelegt zu haben scheint. WOLFGANG SCHNEIDER
Steven Wilson:
"The Harmony Codex".
Virgin Music
(Universal)
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main