Produktdetails
Trackliste
LP 1
1Köln, January 24, 1975, Pt. I (Live At The Opera, Köln / 1975)00:26:09
2Köln, January 24, 1975, Pt. II A (Live At The Opera, Köln / 1975)00:14:55
LP 2
1Köln, January 24, 1975, Pt. II B (Live At The Opera, Köln / 1975)00:18:14
2Köln, January 24, 1975, Pt. II C (Live At The Opera, Köln / 1975)00:06:59
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.05.2005

Das Prinzip Freiheit als geistige Strapaze
Nach zwölf Aufnahmen für Klavier solo ist die Phantasie noch immer nicht ausgeschöpft: Keith Jarrett zum Sechzigsten

Von John W. Green, den niemand kennt, weil man im Jazz eben nicht die Stückeschreiber, sondern vor allem die Stückespieler kennt, von John W. Green stammt eine der schönsten Balladen des Jazz. Sie wurde 1930 von ihm für ein Broadway-Musical, das dann nie produziert worden ist, in der standardisierten, zweiundreißig Takte langen AABA-Form komponiert, wobei der Mittelteil einen abrupten, vielleicht programmatisch zu verstehenden Tonartenwechsel von d-Moll nach Des-Dur vornimmt: Body and Soul.

Vermutlich gibt es kaum einen Jazzmusiker, der nicht irgendwann einmal darüber improvisiert hat, und schon gar keinen Pianisten. Art Tatum veröffentlichte allein sechs Solo-Aufnahmen von dem Stück, Teddy Wilson sogar acht, und selbst Thelonious Monk, der sperrige Asket des Klaviers und Bebop-Revolutionär, griff dafür immerhin dreimal in die Tasten. Möglicherweise liegt die Beliebtheit des Stücks auch daran, daß dieser ursprüngliche Love-Song - "I'm all for you, body and soul" - aufgefaßt wurde als eine inoffizielle Hymne des Jazz, der sich, seiner Herkunft wegen, nie nur als eine Kunstform, sondern so emphatisch wie trotzig als ein den ganzen Menschen, eben Körper und Seele, fordernder Lebensstil verstand.

Natürlich hat auch Keith Jarrett "Body and Soul" aufgenommen, bei einem Live-Konzert in der New Yorker Town Hall im April 1990 mit seinen bevorzugten Trio-Partnern, dem Bassisten Gary Peacock und dem Schlagzeuger Jack DeJohnette (The Cure, ECM 1440). Drei Minuten und dreißig Sekunden dauert die solistische Einleitung zu dem Stück, ein kryptisches, gleichwohl ungemein sinnliches Spiel mit freien Harmonien und irgendwie aufkommenden Motivassoziationen, die ebenso unvermutet wie musikalisch zwingend in Thema und Variationen über "Body and Soul" münden, wie sie formvollendeter kaum denkbar sind. Eine Minute benötigt Keith Jarrett danach, um sich mit freien Harmoniefortschreitungen wieder aus dem Bannkreis des Stückes zu lösen.

Die Aufnahme könnte als ein Idealtyp für Jazzimprovisation schlechthin gelten und zugleich als Beispiel für die doppelte Genialität des Jazzpianisten Keith Jarrett: für sein schier unbegrenztes, freies Schwadronieren auf den schwarzen und weißen Tasten des Klaviers und für die nicht minder große Fähigkeit, sich ganz in die Atmosphäre eines Stückes einzufühlen und alles daraus hervorzuholen, was sich musikalisch-logisch darin verbirgt. Man weiß tatsächlich nicht, was man an Jarrett mehr bewundern soll: den freischwebenden, aus sich selbst schöpfenden Komponisten oder den Ausdeuter, den Interpreten des Vorrats aus dem Great American Songbook.

Vermutlich weiß Keith Jarrett selbst nicht, was er lieber mag. Denn es gibt ebenso viele herausragende Einspielungen von Standards und Eigenkompositionen mit Combos wie spektakuläre Aufnahmen von Solo-Klavierimprovisationen. Freilich weiß Keith Jarrett ganz genau, was er nicht mag. Denn wenn er frei improvisiert, dann meint er es wortwörtlich: frei von Komposition und Arrangement, von Motiven und Mustern, von Formverläufen und Zeitvorstellungen, vor allem aber frei von Klischees und tausendmal gehörten und nachgeplapperten Jazzphrasen. Es ist die größte Herausforderung, die er an sich selbst gestellt hat - ohne vorgefaßte Klangvorstellung ans Klavier zu treten und aus dem ersten Ton und der spontanen Eingebung einen neuen musikalischen Kosmos entstehen zu lassen.

Möglicherweise war die völlig freie Einstiegspirouette in Jazz-Standards, wie sie später bei "Body and Soul" idealtypischen Charakter angenommen hat, der Ausgangspunkt für seine Idee von der reinen Klavierimprovisation, die ihre Gesetze aus sich selbst entwickelt. Mittlerweile ist daraus eine Enzyklopädie für das Klavier solo geworden: zwölf Aufnahmen mit zwanzig CDs. Von keinem anderen Pianisten gibt es eine umfassendere Werkschau, keiner hat sich so ohne allen kollegialen Rückhalt in seine Pianistenseele blicken lassen wie der von diesem Sonntag an sechzig Jahre alte Keith Jarrett, seit er 1971 mit "Facing You" zum ersten Mal für ECM eine Solo-Platte einspielte. Keiner hat aber auch mehr riskiert als Keith Jarrett, der sich mit Haut und Haaren in das Klavier stürzte und dabei fast um Kopf und Kragen spielte.

Schon zwei Jahre später, bei dem Konzert in Lausanne, kam es zu jenem spektakulären, oft zitierten Ereignis, als Keith Jarrett, nachdem ihm am Klavier partout nichts mehr einfallen wollte und er motivisch immer enger um sich selbst kreiste, plötzlich aufstand, an die Bühnenrampe trat und das Publikum fragte, ob nicht ein anderer Pianist im Saal sei, der bessere Ideen habe und für ihn weitermachen möchte. Deutlicher konnte er nicht zeigen, welch eine geistige Strapaze das Prinzip Freiheit im Jazz sein kann, die Verwirklichung von Keith Jarretts Idee, sich wie absichtslos ans Klavier zu setzen und aus dem Unbewußten Klänge zu schöpfen, von denen er selbst keine klaren Kenntnisse besaß. Kaum zwei Jahre nach "Solo Concerts Bremen/Lausanne" kam dann das "Köln Concert" heraus, bis heute unerreicht in seiner Popularität und eine der wenigen "Kultplatten" improvisierter Musik, die sogar bis in die feinsten Verästelungen von Yukiko Kishinami und Kunihiko Yamashita transkribiert worden ist.

Danach hat Jarrett in unregelmäßigen Abständen immer wieder Soloaufnahmen herausgebracht, gigantische Rhapsodien und ziselierte Miniaturen, eine leuchtende Farbpalette voller Ausdrucksnuancen und so manches grandios hingeworfenes Fresko des Jazz. Womit diese musikalischen Kraftakte erkauft wurden, kam ihm selbst allerdings Mitte der neunziger Jahre schmerzlich zu Bewußtsein, als seine Karriere durch eine plötzlich auftretende Krankheit - chronisches Erschöpfungssyndrom - beendet schien. Aber Keith Jarrett begriff die Krankheit als Chance, über sich selbst nachzudenken, über Kreativität im allgemeinen, vor allem aber auch darüber, was man mit reduzierter Energie dennoch künstlerisch zu leisten vermag. Als drei Jahre nach Ausbruch der Krankheit sein Solo-Album "The Melody At Night, With You" herauskam, schlichte Balladen, schnörkellose Klangstudien ohne allen rhetorischen Aufwand, bemerkte er selbst dazu: "Wer viel Energie hat, macht auch viel. Ich hatte nur die Kraft für eine einzige Sache, die dadurch so etwas wie einen Zen-Charakter bekam - schlank, anmutig, diskret. Es sind Aufnahmen, die zeigen, wie man Melodien spielen kann, ohne zugleich raffiniert zu sein. Ich habe mich gewissermaßen von Jazz-Harmonien entgiftet, die aus dem Kopf stammen und nicht aus dem Herzen."

Mittlerweile sind wiederum sieben Jahre vergangen, Keith Jarrett, auf wunderbare Weise von seiner Krankheit genesen, ist längst wieder zurückgekehrt in den Konzertsaal, hat Aufnahmen mit Gary Peacock und Jack DeJohnette gemacht und, was lange Zeit fraglich schien, jetzt auch wieder mit "Radiance" ein Solo-Album herausgebracht.

Geht die Doppel-CD über das hinaus, was er schon in Köln und Lausanne, in Paris und Mailand, in Wien und Kyoto an pianistischen Klangmassen bewegt und vor uns aufgetürmt hat? Wer die ersten Stücke dieser jetzt veröffentlichten Live-Aufnahmen von Konzerten im Oktober 2002 aus Osaka und Tokio hört, wird möglicherweise zunächst irritiert sein von der abstrakten Klangsprache, von den freien harmonischen Fortschreitungen, dem Fehlen motivischer Fixpunkte und dramatischer Steigerungsmomente. Man lasse sich von dem merkwürdigen Glasperlenspiel des Anfangs nicht abschrecken. Spätestens nach zehn Minuten eröffnen sich jene mächtigen Klangräume, wie man sie von Keith Jarrett kennt. Und noch ein wenig mehr.

Die ganze Aufnahme wirkt in ihrer Dichte, ihrer rigorosen pianistischen Ausführung, ihrer Vielgestaltigkeit wie ein Kompendium des zeitgenössischen Klavierspiels. Wer Werke von Debussy hören möchte, die Debussy nie komponiert hat, wer in Cecil Taylors Stakkato-Kaskaden bisher den melodischen Kern vermißt hat, wer bedauert, daß Bill Evans schon gestorben ist und Lennie Tristano nur einen Mambo und ein Requiem auf Charlie Parker geschrieben hat, wer hören möchte, wie man einen Dreiklang durch alle Tonarten dekliniert, wer glaubt, daß Prokofjews mächtiger Klavierton immer noch steigerungsfähig ist, wer wissen möchte, was überhaupt auf dem Klavier noch an Ausdruck möglich ist, wer den lyrischen Jazztonfall so sehr schätzt wie den Drive des Swing, wer sich in Trance versetzen möchte durch die Wiederholungsrituale eines linkshändigen Riffs, über das sich die nie verebbende Flut minimalistischer Klangveränderungen ergießt - der findet von all dem etwas in "Radiance".

Vielleicht sollte man die Aufnahme nicht von Beginn an hören. Man taste sich zunächst über Part 15 und 16 von der zweiten CD heran und unterziehe sich dann erst dem Exerzitium von zwei Stunden, neunzehn Minuten und einundvierzig Sekunden freier Jazzimprovisation. Danach wird sich möglicherweise ein anderes musikalisches Weltbild einstellen. Wenn nicht, sollte man über den ursprünglichen Sinn von Askese nachdenken. Und noch einmal von vorne beginnen.

Wer Keith Jarretts Musik nicht nur hören, sondern auch sehen will, wer wissen will, was er über seine Musik denkt und was andere Musiker dazu zu sagen haben, dem sei zusätzlich die DVD "Keith Jarrett - The Art of Improvisation" (EuroArts 2054119) empfohlen: eine Dokumentation von Gewicht.

WOLFGANG SANDNER

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr