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Trackliste
LP
1Stand Ins, One
2Lost Coastlines
3Singer Songwriter
4Starry Stairs
5Blue Tulip
6Stand Ins, Two
7Pop Lie
8On Tour With Zykos
9Calling And Not Calling My Ex
10Stand Ins, Three
11Bruce Wayne Campbell Interviewed On The Roof Of The Chelsea Hotel, 1979
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.09.2008

Texas, verlorene Küstenlinie

Vom Nervenzusammenbruch auf zur neuen Fröhlichkeit: Die Band Okkervil River mausert sich mit ihrem Country-Folk-Rock langsam von Kritiker-Lieblingen zu Seelentröstern für jedermann.

Was gibt es in der manierierten Popwelt Manierierteres, als seine Band nach einem Fluss in Russland zu benennen, der in einer Kurzgeschichte von Tatjana Tolstaja, einer Urgroßnichte Leo Tolstois, auftaucht? Selbst schuld, wenn man dafür vom allmächtigen Kundenberater Google bestraft wird und die existenzsichernde Selbstvermarktung Schaden nimmt: Wer von Okkervil River aus dem Radio oder, was sehr viel wahrscheinlicher ist, durch Mundpropaganda erfährt und den Namen später im Internet suchen will, wird den Namen falsch schreiben und sich mit einer Handvoll Internetseiten gleichgesinnter Falschtipper begnügen müssen.

Könnte sich hinter der merkwürdigen Taufe ein avantgardistischer Protest gegen die Internethölle, ein Plädoyer für den Gang zum Plattenladen, wo Kunden nicht nur hören, sondern auch gehört werden, verbergen? Eher nicht. Denn zum einen haben Okkervil River ein entspanntes Verhältnis zum Internet. Ende vergangenen Jahres etwa stellten sie neun unveröffentlichte Lieder, davon acht Coverversionen, Huldigungen an Vorbilder wie Serge Gainsbourg oder Joni Mitchell, zum kostenlosen Herunterladen auf ihre Homepage. Zum anderen rechnet sich eine gescheite Band wie diese wohl kaum Chancen gegen Google aus, deren Besserwisserfunktion den etymologisch unkundigen Hörer doch immer ans Ziel bringt: "Meinten sie Okkervil River?" Allerdings. Jedenfalls ist die Band gänzlich unpolitisch und der breiten Öffentlichkeit unbekannt, leider.

Sänger und Liederschreiber Will Sheff und seine bis zu acht Mitmusiker spielen nicht bloß technisch treffsicher; ihre Kunst ist eine Kunst des Fallen-Vermeidens. Sie spielen Folk, der nie lahmt, Country, der nie altbacken wirkt, Rockmusik, die nie langweilt. Dazu singt der zweiunddreißig Jahre alte Sheff Wunderliches, Pathetisches, Märchenhaftes, ohne in die radiotaugliche Kitschkiste abzugleiten. So leicht verprellt man das große Publikum der Nebenbeihörer.

Ihr erstes Album nehmen die provinzfrustrierten Texaner schon im Sommer 1999 auf. In nur drei Tagen und live spielen sie "Stars Too Small To Use" ein. Erste Auftritte folgen, auf Festivals in Austin werden sie erst von Produzent Brian Beattie und dann vom kleinen Label Jagjaguwar entdeckt. Dort erscheinen zwei Alben, bevor mit dem dramatischen "Black Sheep Boy" und der formidablen Auskopplung "For Real" ein erster kleiner Erfolg gelingt. Labelgigant Virgin/EMI engagiert sie für den europäischen Markt. An diesem Punkt einer Bandbiographie trennt sich aus marktwirtschaftlicher Perspektive die Indie-Spreu vom MTV-Weizen, unrentables Minderheitenheldentum von gut bezahltem Starpotential. Okkervil River hätten eine Band werden können, deren Name allseits bekannte Marke statt Stolperstein ist, wie Motörhead oder Hüsker Dü. Oder Häagen Dazs.

Aber Virgin/EMI verliert trotz einer leidenschaftlichen Europa-Tournee das Interesse an der Band. Was bleibt, sind prominente Anhänger: Okkervil River spielen in der Late-Night-Show von Conan O'Brian und, auf persönlichen Wunsch des Meisters, als Vorband von Lou Reed. Das 2007 auch in Europa bei Jagjaguwar erschienene und von Beattie produzierte Album "The Stage Names" wird schließlich von den Kritikern gefeiert. In den amerikanischen Billboard Charts erreicht die Platte Platz 62 - respektabel und wenig aufsehenerregend und damit bandtypisch.

Doch die Studioaufnahmen sind zu viel des Guten: Okkervil River haben Lieder für zwei Platten. Die Musiker entscheiden sich gegen ein Doppelalbum. So erscheint erst jetzt der zweite Schwung der Aufnahmen, genannt "The Stand Ins". Mit diesem Album gelingt der Band endgültig der Ausburch aus der Innerlichkeit. Sheff scheint sich von seinen Nervenzusammenbrüchen erholt und eine souveräne Fröhlichkeit für sich und seine Band entdeckt zu haben. So singt er "I'm alive, but a different kind of alive" in "Starry Stairs", das den Gesinnungswandel munter mit Mellotron und Trompete untermalt. Die hinzugewonnenen Facetten werden im Stück "Lost Coastlines" vorgeführt, in dem Sheff mit seiner ausgelassen klagenden Jugendstimme sich das Mikrofon teilt mit dem väterlich-tief singenden Klavierspieler Jonathan Meiburg, bis das Stück in einem Lalala-Trällern endet und alles von Banjo bis zum Klavier im Tanztakt scheppert. Vor allem das hervorragend treibende "Singer Songwiter" widerlegt den Verdacht, die Band habe mit "The Stand-Ins" Aussortiertes unter die erwartungsvollen Leute bringen wollen. "Blue Tulip" und "On Tour With Zykos" führen dann wunderschön zurück in die WG-Küche.

Das letzte Stück des Albums heißt "Bruce Wayne Campbell Interviewed On The Roof Of The Chelsea Hotel, 1979". Der Mann sei in den siebziger Jahren unter dem Künstlernamen Jobriath bekannt und einer der ersten bekennenden Schwulen der Glam-Rock-Szene gewesen, sagt das Internet. Möge Google der Band so viel nutzen wie dem interessierten Hörer.

MARTIN WITTMANN

Okkervil River, The Stand Ins. Jagjaguwar 001 (Cargo)

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