DVD | |||
1 | Applause | 00:00:33 | |
2 | Tokyo Solo 2002 | ||
3 | Part 1b (Original Version) | 00:10:02 | |
4 | Part 1c (Original Version) | 00:20:25 | |
5 | Part 2a (Original Version) | 00:08:07 | |
6 | Part 2b (Original Version) | 00:02:54 | |
7 | Part 2c (Original Version) | 00:08:45 | |
8 | Part 2d (Original Version) | 00:08:35 | |
9 | Part 2e (Original Version) | 00:13:29 | |
10 | Danny Boy | 00:05:31 | |
11 | Old Man River | 00:06:00 | |
12 | Don't Worry 'Bout Me | 00:05:00 |
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.07.2006Der Speicher ist voll
Vom Mehrwert des Sehens: Keith Jarrett im Konzert
Konzertmitschnitte als Film folgen eigenen Gesetzen. Vor allem, wenn da ein einsamer Mann am Klavier sitzt. Man kann sich also nicht darüber erregen, daß beispielsweise schon wieder eine Frau die Horngruppe unterwandert hat oder die Posaunisten scheinbar gegen jedes physikalische Gesetz zugführend unterwegs sind und der Maestro sich benimmt, als hätte er gerade zwei Jahre Schauspielunterricht hinter sich und wisse noch immer nicht, daß das Orchester drei Viertel der Zeit ebensogut ohne ihn zurechtkäme. Dazu kommt, daß man ins gleiche Konzert normalerweise auch nicht zweimal geht. Wie lange kann also das visuelle Plus über die akustische Information hinaus tragen, von der man möglicherweise auch gar nicht abgelenkt werden will? Hört man das DVD-Silberscheibchen schon bald nur noch bei abgeschaltetem Fernseher?
Die Firma ECM hat unlängst erstmals eine reine Musik-DVD auf den Markt gebracht. Wem anders konnte sie gewidmet sein als Keith Jarrett, jenem Künstler, mit dessen gegen alle Trends produziertem "Köln Concert" von 1975 der Aufstieg des Labels zu Deutschlands kultigstem und in der Welt wohl am intensivsten wahrgenommenem Jazz-Label besiegelt, wenn auch keineswegs abgeschlossen war. Die neue Produktion ist eine ostentative Erinnerung an diesen frühen Ruhm - aber auch eine hinlänglich aktuelle Bestandsaufnahme, nämlich die Dokumentation eines Solo-Konzerts in Tokio von 2002. Man mag den Rausch vermissen, der Jarrett bei seinen Konzerten in den Siebzigern noch im wahrsten Sinn des Wortes vom Hocker gerissen hatte. Auch jetzt steht er noch gelegentlich während des Spielens auf, aber offenbar nur, um die Glieder zu lockern. Die früher intensiveren vokalen Äußerungen, die Jarrett-Grummeleien, haben seine Freunde schon immer eher gestört als begeistert; niemand wird sie vermissen.
Eine neue Ökonomie der Töne, mehr Effizienz und Überschaubarkeit, hat sich entwickelt. Altersweise mag man das noch nicht nennen. Jarretts bekannte, schubweise auftretende gesundheitliche Probleme hatten auch in der Vergangenheit zu größeren Pausen zwischen den Auftritten, aber nie zu Einbußen der pianistischen Qualität geführt. Die Detailschärfe, die Anschlagskultur, die nie sich selbst feiernde Virtuosität haben nicht gelitten. Das prozessuale Element seiner Spontankompositionen, das er ganz bewußt ausstellen wollte, ist faszinierender denn je. Leer müsse er seinen Geist machen vor solchen Konzerten, war eine von seinen eher befremdlichen Selbstauskünften: Schließlich ist kein Jazzpianist so angefüllt mit Musikgeschichte wie er. Gemeint war wohl, daß Jarrett sich frei von jeder Art von Planung halten wollte, ein pfingstliches Sich-Ergießen der Improvisation aus einem geheimnisvoll jenseitigen Erfahrungsspeicher suchte.
In diesem Speicher ist alles aufgehoben: der Jazz von Blues bis Free Jazz und die E-Musik von Bach bis hin zur klassischen Moderne. Unvorhersehbar fließt da zusammen, was nicht zusammengehört und sich doch zu einem wundersam schlüssigen Musikkosmos fügt. Motive und Themen entstehen und vergehen, die Atmosphäre langsamer Sonatensätze von Beethoven romantisieren sich hinüber zu Melodiefloskeln wie aus dem Great American Songbook. Sangliche Atonalität setzt sich durch, der Impressionismus flirrt vorbei, barocke Geradlinigkeit bringt eine gewisse Strenge, im Punktualismus und in Sprungkaskaden feiert sich die Moderne des frühen zwanzigsten Jahrhunderts wie die Freiheit im Jazz der sechziger und späterer Jahre.
Jarretts Motorik ist eher Bartók als Oscar Peterson verpflichtet. Reine Jazzphrasierungen sind oft erahnbar, treten selten dominierend in den Vordergrund. Am Ende dieses Konzerts spielt Jarrett als überraschenden "Bonus" drei Evergreens. Das gab's beim "Köln Concert" und den Solo-Auftritten jener Zeit, etwa in Bremen, Lausanne und den meisten japanischen Großstädten, nicht. Die Auseinandersetzung mit populären Fremdkompositionen blieb eher den fast zwanzig Trio-Aufnahmen mit Gary Peacock und Jack DeJohnette vorbehalten. Nun also spielt Jarrett einen romantischen "Danny Boy", einen mit Kontrapunkten angereicherten "Old Man River" und im Stil eines Gute-Nacht-Liedes "Don't Worry 'Bout Me".
Selbstverständlich vermeidet die Bildregie jeglichen Schnickschnack. Statt dessen: ruhige Kamerafahrten, weit auseinander liegende Schnitte und eine karge Bühnenlandschaft. Um Jarretts engagierte Mimik und seine merkwürdige, an das Ventilspiel von Schiffsmotoren erinnernde Fingertechnik so deutlich beobachten zu können, müßte man schon in der ersten Reihe sitzen. Und noch ein guter Grund für das neue Medium: Die DVD kostet 19,99 Euro. Für diesen Preis kommt man in kein Jarrett-Konzert.
ULRICH OLSHAUSEN
Keith Jarrett, Tokyo Solo; ECM DVD 60249873186 (Universal)
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vom Mehrwert des Sehens: Keith Jarrett im Konzert
Konzertmitschnitte als Film folgen eigenen Gesetzen. Vor allem, wenn da ein einsamer Mann am Klavier sitzt. Man kann sich also nicht darüber erregen, daß beispielsweise schon wieder eine Frau die Horngruppe unterwandert hat oder die Posaunisten scheinbar gegen jedes physikalische Gesetz zugführend unterwegs sind und der Maestro sich benimmt, als hätte er gerade zwei Jahre Schauspielunterricht hinter sich und wisse noch immer nicht, daß das Orchester drei Viertel der Zeit ebensogut ohne ihn zurechtkäme. Dazu kommt, daß man ins gleiche Konzert normalerweise auch nicht zweimal geht. Wie lange kann also das visuelle Plus über die akustische Information hinaus tragen, von der man möglicherweise auch gar nicht abgelenkt werden will? Hört man das DVD-Silberscheibchen schon bald nur noch bei abgeschaltetem Fernseher?
Die Firma ECM hat unlängst erstmals eine reine Musik-DVD auf den Markt gebracht. Wem anders konnte sie gewidmet sein als Keith Jarrett, jenem Künstler, mit dessen gegen alle Trends produziertem "Köln Concert" von 1975 der Aufstieg des Labels zu Deutschlands kultigstem und in der Welt wohl am intensivsten wahrgenommenem Jazz-Label besiegelt, wenn auch keineswegs abgeschlossen war. Die neue Produktion ist eine ostentative Erinnerung an diesen frühen Ruhm - aber auch eine hinlänglich aktuelle Bestandsaufnahme, nämlich die Dokumentation eines Solo-Konzerts in Tokio von 2002. Man mag den Rausch vermissen, der Jarrett bei seinen Konzerten in den Siebzigern noch im wahrsten Sinn des Wortes vom Hocker gerissen hatte. Auch jetzt steht er noch gelegentlich während des Spielens auf, aber offenbar nur, um die Glieder zu lockern. Die früher intensiveren vokalen Äußerungen, die Jarrett-Grummeleien, haben seine Freunde schon immer eher gestört als begeistert; niemand wird sie vermissen.
Eine neue Ökonomie der Töne, mehr Effizienz und Überschaubarkeit, hat sich entwickelt. Altersweise mag man das noch nicht nennen. Jarretts bekannte, schubweise auftretende gesundheitliche Probleme hatten auch in der Vergangenheit zu größeren Pausen zwischen den Auftritten, aber nie zu Einbußen der pianistischen Qualität geführt. Die Detailschärfe, die Anschlagskultur, die nie sich selbst feiernde Virtuosität haben nicht gelitten. Das prozessuale Element seiner Spontankompositionen, das er ganz bewußt ausstellen wollte, ist faszinierender denn je. Leer müsse er seinen Geist machen vor solchen Konzerten, war eine von seinen eher befremdlichen Selbstauskünften: Schließlich ist kein Jazzpianist so angefüllt mit Musikgeschichte wie er. Gemeint war wohl, daß Jarrett sich frei von jeder Art von Planung halten wollte, ein pfingstliches Sich-Ergießen der Improvisation aus einem geheimnisvoll jenseitigen Erfahrungsspeicher suchte.
In diesem Speicher ist alles aufgehoben: der Jazz von Blues bis Free Jazz und die E-Musik von Bach bis hin zur klassischen Moderne. Unvorhersehbar fließt da zusammen, was nicht zusammengehört und sich doch zu einem wundersam schlüssigen Musikkosmos fügt. Motive und Themen entstehen und vergehen, die Atmosphäre langsamer Sonatensätze von Beethoven romantisieren sich hinüber zu Melodiefloskeln wie aus dem Great American Songbook. Sangliche Atonalität setzt sich durch, der Impressionismus flirrt vorbei, barocke Geradlinigkeit bringt eine gewisse Strenge, im Punktualismus und in Sprungkaskaden feiert sich die Moderne des frühen zwanzigsten Jahrhunderts wie die Freiheit im Jazz der sechziger und späterer Jahre.
Jarretts Motorik ist eher Bartók als Oscar Peterson verpflichtet. Reine Jazzphrasierungen sind oft erahnbar, treten selten dominierend in den Vordergrund. Am Ende dieses Konzerts spielt Jarrett als überraschenden "Bonus" drei Evergreens. Das gab's beim "Köln Concert" und den Solo-Auftritten jener Zeit, etwa in Bremen, Lausanne und den meisten japanischen Großstädten, nicht. Die Auseinandersetzung mit populären Fremdkompositionen blieb eher den fast zwanzig Trio-Aufnahmen mit Gary Peacock und Jack DeJohnette vorbehalten. Nun also spielt Jarrett einen romantischen "Danny Boy", einen mit Kontrapunkten angereicherten "Old Man River" und im Stil eines Gute-Nacht-Liedes "Don't Worry 'Bout Me".
Selbstverständlich vermeidet die Bildregie jeglichen Schnickschnack. Statt dessen: ruhige Kamerafahrten, weit auseinander liegende Schnitte und eine karge Bühnenlandschaft. Um Jarretts engagierte Mimik und seine merkwürdige, an das Ventilspiel von Schiffsmotoren erinnernde Fingertechnik so deutlich beobachten zu können, müßte man schon in der ersten Reihe sitzen. Und noch ein guter Grund für das neue Medium: Die DVD kostet 19,99 Euro. Für diesen Preis kommt man in kein Jarrett-Konzert.
ULRICH OLSHAUSEN
Keith Jarrett, Tokyo Solo; ECM DVD 60249873186 (Universal)
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main