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Produktdetails
  • Hersteller: Walhall,
  • EAN: 4035122650952
  • Artikelnr.: 68496252
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.04.2024

Gottes Gnade ist kein Spott
In Karlsruhe ist Vera Nemirovas mutige Inszenierung von Richard Wagners "Tannhäuser" zu erleben

Eine Zumutung ist Vera Nemirovas Inszenierung von Richard Wagners "Tannhäuser" auf gleich doppelte Weise: in ihrer Härte und in ihrer Glaubensbereitschaft. Zum einen greift sie jetzt am Badischen Staatstheater Karlsruhe einen Einfall aus ihrer Erstinszenierung der romantischen Oper auf, die 2007 in Frankfurt am Main Premiere hatte: Wolfram von Eschenbach erwürgt Elisabeth im dritten Aufzug.

Dieser Wolfram - Armin Kolarczyk zeichnet ihn in Karlsruhe als verklemmten Kümmerer - ist ein Herz im Winter. Nur das befähigt ihn, Elisabeths Bitte "Lass mich in Staub vor dir vergehen, o nimm von dieser Erde mich!" als Aufforderung zur Sterbehilfe zu begreifen. Nemirova inszeniert einen heiteren Blickwechsel zwischen Pauliina Linnosaari als Elisabeth und Kolarczyk als Wolfram. Es ist ein lächelndes Einvernehmen. Ganz wie bei einschlägigen Sterbehilfe-Instituten bestellt sich Elisabeth für ihre letzten Augenblicke noch einmal ihre Lieblingsmusik: Wolframs Lied an den Abendstern. Wo es im Leben keine sinnvollen Alternativen mehr gibt, wählt Elisabeth mit Wolframs Hilfe die für Wagner so typische Alternative zum Leben als solchem.

Doch zum andern hält Nemirova diesem Verzweifeln an der totalen Immanenz etwas entgegen, was die irreligiösen Gefühle einer gesellschaftlichen Mehrheit, zumindest aber die Konventionen des zur Macht gelangten Atheismus im gegenwärtigen Musiktheater verletzt. Wenn der Chor am Ende singt: "Hoch über aller Welt ist Gott, und sein Erbarmen ist kein Spott!", dann lässt Nemirova am Osterabend der Premiere Elisabeth von den Toten auferstehen. Sie stellt sich vor den Chor, der zu den Trümmern von Musikinstrumenten in einer postapokalyptischen Welt greift, und dirigiert ihn wie ein Engelskonzert.

Solchen Mut hat man lange nicht mehr erlebt auf der Bühne, wo christlicher Glaube routinegemäß psychopathologisiert oder ausschließlich als Instrument politisch-sozialer Unterdrückung begriffen wird. Nemirova schließt damit zugleich an ihre Inszenierung von Giuseppe Verdis "Don Carlo" an der Dresdner Semperoper an, wo sie in einer karg-konzentrierten Apotheose Carlo und Elisabeth dem Zugriff der Inquisition entzog und ins Jenseits entrückte.

In Karlsruhe ist der Regisseurin, wie schon in Frankfurt, das Vorspiel eine klingende Utopie für die Einheit von Geist und Lust, Spiritualität und Sexualität, die erst von geist- wie lustfeindlichen Verhältnissen zerrissen wird. In eigener Choreographie zeigt sie zur Musik Pilger, die von ihrer Suche nach Sinn durch die Welt, zu Gott und zueinander getrieben werden. Gespielt wird in Karlsruhe eine Mischversion aus der Dresdner und der Pariser Fassung. Die Ballettmusik des Bacchanals entfällt, aber Venus darf einige tristanesk getränkte Phrasen der Pariser Fassung singen. Dorothea Spilger legt diesen Auftritt planvoll und wandelbar an, steigert sich von anschmiegsamer Lyrik hinein in garstig-dramatische Flüche und spielt damit eindrucksvolles vokales Theater.

Der schwedische Heldentenor Michael Weinius zeichnet, vokal kraftvoll, charakterstark, nicht unbedingt einschmeichelnd, den Tannhäuser als einen depressiven Mann, der von seiner eigenen inneren Leere gehetzt wird. Ihm gelingt in der auf ihn achtsam zugeschnittenen Regie Nemirovas eine Figur von rasender Schwermut. Wie die Pilger taumelt er hin und her zwischen einer "frivolen Sinnlichkeit" (wie Wagner es nannte), die betäubend, aber nicht erfüllend ist, und einer Welt, die nur Wettbewerb, Pflicht, aber keine Neigungen mehr kennt.

Beim "Sängerkrieg" auf der Wartburg hat sich die Kostümbildnerin Marie Thérèse Jossen-Delnon weiße Dinnerjacketts für die Minnesänger ausgedacht. Sie werden so zu Schlagerfuzzis im Spotlight. Als Gegenbild der leibfeindlichen Geistigkeit zur geistfreien Rudelrammelei im Venusberg ist das vielleicht der am wenigsten überzeugende Moment der Inszenierung. Heute setzt das Unterhaltungsgewerbe längst auf "Sex sells"; und sogar im klassischen Konzertbetrieb wird mit empirischen Methoden die Erregungsintensität des Publikums gemessen, damit man auch in der Hochkultur die Orgasmuslücke schließen kann.

Elisabeth tritt in diesem Tingeltangel zwar auch im hautengen Gold-Paillettenkleid auf: Aber als Dirigentin engagiert die sich gegen eine lustlose, matte und trübsinnige Kunst. Erst von den Männern wird sie dann zur Heiligen gemacht und damit stillgestellt. Die Finnin Pauliina Linnosaari lässt in dieser Rolle aufhorchen: Sie hat einen stahlblanken, leichten, gut fokussierten Sopran, der sich strahlend hell behauptet gegen die Chormassen, die Ulrich Wagner in Karlsruhe so gut einstudiert hat, dass sie weder in der fordernden Bewegungsregie noch bei den straffen Tempi des Dirigenten Georg Fritzsch die Orientierung verlieren.

Fritzsch dirigiert den 1845 uraufgeführten "Tannhäuser" wirklich aus dem Geist des deutschen Vormärz heraus. Der Orchesterklang ist scharf gezeichnet und schlank, die Tempi sind durchweg zügig, wenn auch stets aufmerksam mit den Singenden geatmet wird. Betörend aufblühende Holzbläsersoli wie bei der Dirigentin Nathalie Stutzmann in Bayreuth findet man hier zwar kaum, dafür hat bei Fritzsch die Musik eine sprungbereite Eleganz, die auf Carl Maria von Weber zurückweist. Alle Chöre drängen nach vorn. Wilhelminische Üppigkeit ist durchweg vermieden.

Die Bühne von Paul Zoller mit ihrer demolierten Decke eines alten Konzerthauses und den zerborstenen Musikinstrumenten verweist auf eine brüchig gewordene Kunst, die zwischen Sexindustrie und Unterhaltungswettbewerb nicht mehr viel gilt. Doch gerade sie macht Nemirova zum utopischen Ort, an dem Lust und Geist zueinanderfinden und wieder Sinn ergeben. JAN BRACHMANN

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