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Produktdetails
Trackliste
LP
1Deiche00:03:12
2Die Ausfahrt zum Haus deiner Eltern00:03:54
348 Stunden00:02:57
4Einer00:03:46
5Tränengas im High-End-Leben00:03:22
6Balu00:04:37
7Stockhausen, Bill Gates und ich00:03:57
8Anders als gedacht00:03:39
9Die Wahrheit ist, man hat uns nichts getan00:03:29
10Handyfeuerzeug gratis dazu00:02:55
11Nacht00:05:21
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.02.2005

Wovon wir reden, wenn wir von Liebe singen
Die neue CD der Hamburger Band Kettcar zeigt erneut, daß von ihrem Label Grand Hotel van Cleef der schönste Pop des Landes kommt

Es ist wieder an der Zeit, nach Hamburg zu ziehen, der Liebe wegen. Oder wegen der Musik, was ja für manche Menschen das gleiche ist. Oder wegen der Landungsbrücken an der Elbe, wegen dieses glücklichen Augenblicks, wenn man mit der U-Bahn von St. Pauli kommend aus dem Tunnel ins Licht fährt und sich rechts das ganze große Wunder dieses Hafens auftut, die Docks, der Dunst, die Schiffe und die Kräne. "An den Landungsbrücken raus", singen Kettcar, eine Band aus Hamburg, "dieses Bild verdient Applaus."

Für manche Menschen, die Musik für Liebe halten und dieses applauswürdige Bild kennen, ist Kettcar deshalb die beste Band der Welt. Für nüchterne Menschen dagegen ist Kettcar nur die beste Band Deutschlands. Wer aber besonders anfällig ist, der kommt sogar auf die Idee, wegen Kettcar nach Hamburg zu ziehen, um all das nicht zu verpassen, wovon Kettcar singen - die großen Freundschaften und zerplatzten Träume, der Getränkenotstand am Elbstrand und der Balkon gegenüber, auf dem sich die wahren Dramen abspielen. Bis ihm klar wird, daß er das erstens fast alles auch in den eigenen vier Wänden und davor erleben kann und zweitens Kettcar ja gerade davon singen, daß es vollkommen in Ordnung ist, immer nur alles zu verpassen, die Großstadt, die Rock-'n'-Roll-Revolution oder nur die Ausfahrt zum Haus ihrer Eltern. Daß einen das Leben eben nicht bestraft, wenn man zu spät kommt. Und die Jugend vorbei ist.

Als vor drei Jahren Kettcars Debütalbum erschien, "Du und wieviel von deinen Freunden" betitelt, da hatten die meisten der fünf Bandmitglieder schon ihre erste Karriere in Punkbands hinter sich. Sie waren dreißig Jahre alt geworden, und die Welt, in der sie mit ihren Bands so lange unterwegs gewesen waren, wurde ihnen zusehends zu eng. Weil in dieser Welt Geschmacksregeln galten, die genauestens sortierten, was gut zu finden war und was nicht. Popmusik zum Beispiel, Pop mit Großbuchstaben und Ausrufezeichen, war für einen strengen Punk eigentlich nicht erlaubt. Also entschlossen sich Marcus Wiebusch und Reimer Bustorff "strategisch", wie sie heute sagen, ihre Bands zu verlassen. Um endlich ihre Liebe zur Popmusik gemeinsam mit drei anderen Freunden auszuleben. So entstand Kettcar: Fünf nicht mehr ganz so junge Männer, die einfach machten, was sie immer schon einmal machen wollten, was letztlich immer noch purer Punkethos war.

Nur klang es anders. Aus der Zeit gefallen, alterslos, schulterzuckend weise. Eine Trostmusik, bei der sich die Gitarren dramatisch aufbauen, um vom Klavier gebremst zu werden - "jenseits von cool und raus aus Selbstmitleid", wie es bei "Landungsbrücken raus" zum Schluß heißt, was vermutlich die beste Beschreibung für Kettcars Pop überhaupt ist. Er klingt nach zwanzig guten, zwanzig schlechten Jahren mit dem Kopfhörer vor der Stereoanlage, bei Housemartins und Elliott Smith, Weezer und Ben Folds Five. Er erinnert an Gruppen, deren Namen lange niemand mehr genannt hat. An Hüsker Dü zum Beispiel, die in den achtziger Jahren für Amerika das bedeuteten, was in Europa die Smiths aus Manchester waren, nur viel lauter: angegriffene, aufrechte junge Männer, die ihr Liebesleiden und den Weltschmerz mit Gitarren austrugen, ohne je weinerlich zu sein. Ohne Hüsker Dü hätte es niemals Nirvana gegeben, aber das ist eine andere Geschichte, die davon handelt, wie ungerecht es in der Popmusik zugeht, weil sie modisch ist.

Kettcar aber scherten sich nicht darum, was momentan oben und was unten ist. Und so nahmen sie ein Album auf, das irgendwie konservativ rockte, sich aber hochempfindlich anfühlte und dennoch keine "Diskurse verhandelte" wie bei Blumfeld, sondern "befindlichkeitsfixiert" war, "hetero und männlich, blaß und arm", wie Marcus Wiebusch bei "Im Taxi weinen" singt, einem der schönsten Lieder der ersten Platte.

Kettcar kommen aus Hamburg, gehörten aber nie zur "Hamburger Schule". Marcus Wiebusch, Sänger, Gitarrist und Texter von Kettcar und ungefähr zwei Meter groß, betont zwar, wie ungeheuer wichtig Blumfeld für seine "Musiksozialisation" gewesen sei, genauso wie Tocotronic oder Bernd Begemann. Sie selbst aber waren eher Randfiguren dieser Szene, die von außen viel geschlossener aussieht, als sie wohl wirklich ist. Ihre Nische füllten Kettcar konsequent aus. "Wir haben gespürt", sagt Marcus Wiebusch, "daß wir dem ganzen noch eine Nuance geben konnten."

Und nun, da ihr zweites, hinreißendes Album "Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen" erscheint, wirkt es endgültig so, als seien Kettcar an all den anderen Hamburger Bands vorbeigezogen. Zeitweilig lag die neue Platte bei den Vorbestellungen von Amazon.de sogar auf dem fünften Platz. Schon das Debüt war sehr erfolgreich gewesen für ein Independent-Album, verkaufte fast 30 000 Exemplare. Aber Popmusik ist kein Wettkampf und keine doppelte Buchführung. Beim geringsten Verdacht, daß jemand den Erfolg von Bands wie Tocotronic und Kettcar gegeneinander aufrechnet, werden Marcus Wiebusch und Reimer Bustorff, der auch fast zwei Meter groß ist, daher leicht ungemütlich. Was vielleicht auch daran liegt, daß manche Kettcars Erfolg als Ausverkauf auslegen: "Landungsbrücken sprengen, depressive Anekdoten, die keinem was helfen außer Geld", schimpfte neulich die Punkband Oma Hans.

Beim Konzert im Potsdamer Lindenpark vor zehn Tagen rief Reimer dem erschöpften, seligen Publikum nach der letzten Zugabe zu, jetzt gefälligst nicht die Kettcar-Hemden zu kaufen, sondern das neue Album von Bernd Begemann, der mit seiner Band als Vorgruppe aufgetreten war. Begemanns Platten erscheinen auch bei Grand Hotel van Cleef, dem Label, das Marcus Wiebusch und Reimer Bustorff gründen mußten, um ihr eigenes Album überhaupt veröffentlichen zu können. Keine industrielle Plattenfirma hatte die Popsongs von Kettcar vertreiben wollen, jetzt ärgern sich die Herrschaften in ihren silbernen Zentralen vermutlich sehr.

Das Grand Hotel van Cleef ist nicht viel mehr als ein Büro mit Küche in einem Medienhaus in Hörweite des Millerntors, wo der FC St. Pauli derzeit in der Regionalliga herumkrebst, sehr zum Leiden seiner Fans Wiebusch und Bustorff. Die beiden führen die Geschäfte des Grand Hotels gemeinsam mit Thees Uhlmann, dem Songschreiber und Sänger von Tomte, dessen irrlichterndes Talent der Welt einige der zartesten und wütendsten Songs seit langem geschenkt hat. Das Startkapital für das Grand Hotel steuerte Marcus Wiebuschs Mutter bei, die Banken, erzählt Reimer Bustorff, hätten nur mit dem Kopf geschüttelt. Inzwischen sind sie von Montag bis Freitag und von morgens bis abends im Büro, und wenn dann samstags geprobt wird und sonntags Konzerte anstehen, hat die Arbeitswoche eben sieben Tage.

So hat das Grand Hotel allerdings das Kunstwerk fertiggebracht, mit Death Cab for Cutie eine der erfolgreichsten amerikanischen Independent-Bands unter Vertrag zu nehmen. Sie haben sie zwar inzwischen an einen Großkonzern verloren, aber die Episode zeigt, wie stilsicher dieses kleine, unabhängige Label sich bewegt. "Wir wollen hier den lebenden Beweis antreten, daß es geht, sein Glück in die eigene Hand zu nehmen", sagt Marcus Wiebusch.

Als wäre das nicht alles schon Punkmärchen genug, spielen Wiebusch und Thees Uhlmann jetzt auch noch in einem Kinofilm mit. "Keine Lieder über Liebe" von Lars Kraume feierte gerade auf der Berlinale Premiere, es ist die Geschichte von Markus Hansen, gespielt von Jürgen Vogel, der mit Mitte Dreißig eine Band gründet und dann mitsamt seinem Bruder (Florian Lukas) und dessen Freundin (Heike Makatsch) auf Tour geht. Es geht um Liebe und Betrug, um Fehler und ums Erwachsenwerden, ein Kettcar-Stoff also. Jürgen Vogel hatte sich ein Dutzend deutsche Bands angehört und dann entschieden, mit seiner Filmband Hansen wie Tomte und wie Kettcar klingen zu wollen.

Und Kettcar klingen nun mal nach Fehler und Aufbruch, danach, es noch mal zu versuchen, wenn es beim ersten Mal nicht geklappt hat, notfalls immer wieder. Das neue Album, wieder produziert von Swen Meyer, der auch den Schmelz und den Zauber von Tomte verantwortet, schwelgt in Streichern und Sätzen wie: "Mach alles, was dein Herz dir sagt." Oder: "Erst in die Hölle und dann zu Ikea." Wovon wir eben reden, wenn wir von Liebe reden. Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen. Davon handeln wir. Und Kettcar.

TOBIAS RÜTHER

"Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen" erscheint am 7. März bei Grand Hotel van Cleef.

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