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Produktdetails
Trackliste
CD
1Driving
2TATA
3Fold Up
4Feel Life
5Little Threads
6Be Again
7Steady
8Forget Me Now
9Blood Moon
10Sea Without Blue
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.02.2020

Musik für den Notfall
Moritat vom gebrochenen Wirbel: Neues von Poliça

Vor zwei Jahren stürzte Channy Leaneagh vom Dach ihres Hauses, das sie vom Eis befreien wollte. Sie brach sich einen Lendenwirbel und musste monatelang ein Korsett tragen. "Snow falls on the tip of my tongue / Tasting blood of the violence to come", lauten nun die ersten Verse von "Driving", dem beklemmenden Eröffnungsstück des neuen Albums ihrer Band Poliça. Es heißt "When We Stay Alive".

Im Vordergrund steht also das Weiterleben, der Heilungsprozess. Zumindest bei der Hälfte der Songs, die erst nach Leaneaghs Unfall entstanden. Ihr Arzt hatte ihr geraten, ihren Sturz umzuschreiben und sich einen anderen Verlauf der Ereignisse auszumalen. So stellte sie sich beispielsweise vor, auszurutschen, aber nicht auf Beton, sondern sicher auf einer Wolke zu landen. Diese mentale Übung wendete sie sodann auf weitere qual- oder sorgenvolle Ereignisse ihres Lebens an. "When We Stay Alive" ist indes keine Therapieplatte. Poliça ist auch nicht vorzuwerfen, künstlerisch nur noch um die eigene Wirbelsäule zu kreisen. Ihre letzten Alben "United Crushers" (2016) und "Music For The Long Emergency" (2018), eine Kooperation mit André de Ridders Berliner Kammerensemble Stargaze, waren oberflächlich betrachtet zwar politischer, von einem Rückzug ins Private kann jedoch auch jetzt keine Rede sein. Dafür sind die Texte der von decouragierten Synthesizern und einem vornehmen Bass geprägten Songs zu vieldeutig, offen und bildhaft. Geschrieben hat Leaneagh sie erst, als ihr der Produzent Ryan Olson die in nächtelangen Sessions verschraubten Tracks nach Hause schickte; den Gesang nahm sie allein oder mit einem Tontechniker auf. Sie hat ihn deutlich seltener verfremdet als auf den Vorgängerwerken. Die beiden Schlagzeuger Drew Christopherson und Ben Ivascu entwarfen dazu ein rhythmisches Geflecht, das zwischen elektronischen und herkömmlichen Klängen keine Unterschiede macht. Es klingt nach R&B, nach Triphop und Industrieruinen. Die Stimmung ist unterkühlt und düster. Der Heilungsprozess ist in einer heillosen Welt nie abgeschlossen.

Am deutlichsten vermittelt sich diese zwischen Hoffnung und Verzweiflung hin- und hergerissene Atmosphäre in "Fold Up", dem mit seinen Noise-Anklängen und dräuenden Beats musikalisch reizvollsten Stück. Im zartbesaiteten, aber auch leicht abgegriffenen "Steady" dagegen bringt eine Akustikgitarre ein bisschen zu viel Licht ins Dunkel, während sich "Forget Me Now" gefährlich nah an das Pathos der Powerballade heranwagt. Überhaupt wirkt diese zweite Hälfte des Albums konventioneller und weniger abwechslungsreich als der starke Beginn. Kein Vergleich etwa zum hinterlistigen Groove von "TATA", das mit seinen soundtechnischen Alfanzereien sofort für sich einnimmt, oder der unwiderstehlich pulsierenden Wehklage "Feel Life".

Das Album schwankt zwischen lautstarker Selbstermächtigung und kleinlauter Selbstreflexion. "My hands belong to me / My thighs belong to me / My heart belongs to me / My thoughts belong to me", singt Leaneagh in dem gespenstischen, technoiden "Be Again". Die Rückeroberung des Körpers und der Gedanken beschwört den Geist in der Maschine herauf. Mehr Songs dieses Kalibers, mehr Mut zur Avantgarde hätte man Poliça manchmal gewünscht.

ALEXANDER MÜLLER

Poliça:

"When We Stay Alive".

Memphis Industries

(Indigo)

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