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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.05.2024

Also doch kein Machwerk?
O Isis und Osiris: Laurenz Lütteken unterzieht die "Zauberflöte" einer recht subtilen Interpretation

Dass die "Zauberflöte" ein Höhepunkt der Musikgeschichte sei, errichtet auf einem jämmerlichen Textbuch, das ist eine Meinung, die schon früh zu hören war und der auch früh schon widersprochen wurde, von Goethe und Hegel zum Beispiel. Noch der große Alfred Einstein rühmt in seinem Mozart-Buch den "ewigen Reiz der naiven Handlung". Das Erstaunlichste aber sei, dass die "bunte Mischung aus den heterogensten Ingredienzien" zur Einheit werde. Laurenz Lütteken, Musikwissenschaftler an der Universität Zürich, der gerade ein neues Buch zur "Zauberflöte" geschrieben hat, stimmt dem zu, soweit es darum geht, das Libretto zu verteidigen. Aber er trägt neue, höchst animierende Argumente vor und dreht damit die Diskussion in eine neue Richtung.

Lütteken ist sich sicher, dass das Textbuch bis in die Details mit Zustimmung Mozarts entstand. Emanuel Schikaneder, der Librettist und Theaterunternehmer, schrieb 1795, er habe die "Zauberflöte" "mit dem seligen Mozart fleißig durchdacht", und es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln. Mozart war entgegen alten Mythen ein Mann von ungeheurem Erfolg und entsprechendem Selbstbewusstsein, er legte auf die Qualität des Textbuches großen Wert und hätte sich von Schikaneder nicht überfahren lassen. Eine andere hergebrachte Erklärung für (unterstellte) Schwächen und Unstimmigkeiten lautet, dass die "Zauberflöte" für ein Vorstadttheater mit Vorstadtpublikum gedacht gewesen sei, da habe man mit bescheideneren Ansprüchen kalkuliert. Aber Lütteken kann zeigen, dass das Theater Schikaneders auf der Wieden durchaus den Vergleich mit den Hoftheatern aushielt. Die Eintrittspreise waren nur um etwa ein Drittel niedriger als im Nationaltheater, der renommiertesten Bühne Wiens, ein Unterschied, der kein ganz anderes, ahnungsloses, naives Publikum erwarten ließe.

Doch wie sind die "wilden Unstimmigkeiten" zu verstehen? Lütteken sieht in ihnen eine "Systematik des Verfahrens", alles ziele auf absichtsvolle Irritation. Ein schönes Beispiel ist die Schlussszene. Das ganze Theater verwandelt sich "in eine Sonne", Sarastro, Tamino, Pamina, die Priester und drei Knaben geben ein starres Bild. Doch nach einem einleitenden Maestoso singt der Chor im Allegro fröhlich, fast hüpfend vom Sieg der Stärke, der Krönung von Schönheit und Weisheit. Szene und Musik widersprechen sich vollständig. Auch die Widersprüche im Handlungsgang verdanken sich für Lütteken nicht der Achtlosigkeit, sondern dem Willen, den Zuschauer vor Rätsel zu stellen, die sich nicht lösen lassen. Das Phantastische, das Unwahrscheinliche, Diskontinuierliche trage ja die gesamte Handlung und ist nicht etwa wie im "Don Giovanni" ein letzter Wendepunkt. Musikalisch spiegele sich das in der Technik der scharfen Schnitte. Mozart, der in früheren Werken großen Wert auf die Accompagnato-Rezitative legte, die gleitende Übergänge schufen, verzichtet in der "Zauberflöte" fast ganz darauf.

Als er 1781, zehn Jahre vor der Uraufführung der "Zauberflöte", Wien den "besten Ort von der Welt" für sein Metier nannte, hatte das viel mit den Möglichkeiten zu tun, die die josephinische Aufklärung schuf. Ihr doktrinärer Zug stellte sie aber inzwischen selbst infrage, der Widerstand in der Gesellschaft wuchs. Dazu kam der Krieg gegen das Osmanische Reich und die damit einhergehende Wirtschaftskrise. Es mehrten sich die Zeichen einer allgemeinen Skepsis. Der Salzburger Fürstbischof Colloredo, von Mozart gehasst, aber ein veritabler Aufklärer: "Ich (...) setze meine Urteilskraft aus und erwarte ruhig den Ausgang alles dessen, was gegenwärtig in dieser bizarren Welt geschieht." Lütteken bezieht das auf seinen Gegenstand: "Die Zauberflöte mit allen ihren Unwägbarkeiten, ihren Brüchen, ihren dramaturgischen und handlungslogischen Verstößen erscheint angesichts derartiger Diagnosen wie ein Reflex dieser skeptizistischen Konstellation."

Dazu würde auch der Skeptizismus den Möglichkeiten der Musik gegenüber passen. In der "nicht mehr homogenisierbaren Gesamtheit" der Zauberflöte komme der Musik nicht mehr die Aufgabe zu, "Sinn und Bedeutung zu generieren", sondern "Wahrnehmung überhaupt noch zu ermöglichen". Aber wenn die Musik Sinn und Bedeutung nicht hervorbringt, wer oder was täte es dann? Oder gibt es Sinn und Bedeutung nicht mehr? Doch mit den "ethischen Grundsätzen" Sarastros, von denen Lütteken schreibt, stellt sich gleich wieder die Frage, ob eine Welt, deren Bewohner ethischen Grundsätzen folgen sollen, eine Welt ohne Sinn und Bedeutung ist.

Und wenn diese "ethischen Grundsätze" nur feierliches Herumgerede wären? Als Hegel das Textbuch der "Zauberflöte" lobte, machte er die schöne Bemerkung von der "Art einer mittelmäßigen Moral, die in ihrer Allgemeinheit vortrefflich ist". Hat er sich so getäuscht wie Alfred Einstein, der vom "Appell an die Ideale der Humanität" sprach? Lütteken sieht das so und weist darauf hin, dass die Welt Sarastros "alles andere als inklusiv" sei, sie kenne Verlierer, von denen einige sogar vernichtet würden, und verweist auf Don Giovannis Höllenfahrt.

Doch liegt dessen Fall nicht ganz anders? Die lange Vorbereitung dieses Endes, der Steinerne Gast als Bote des Himmels, der einen letzten Versuch der Rettung (oder Inklusion) macht, der kompositorische Aufwand - das ist doch mehr als das zügige Verschwinden der Königin der Nacht und ihrer Leute in einer Versenkung, aus der sie gerade zwei Minuten zuvor hochgefahren wurden. Sie werden in die "ewige Nacht" gestürzt. Heißt das nicht für sie: Jetzt geht's nach Hause? Oder liegt in der dramaturgischen Verweigerung des Interesses die Inhumanität? Das zeigt den kniffligen Punkt in der Deutung Lüttekens: Wenn die Ganzheit als Kriterium verschwindet, kommt auch die Geltung des Einzelnen, so etwas wie der interpretatorische Takt, ins Rutschen. STEPHAN SPEICHER

Laurenz Lütteken: "Die Zauberflöte". Mozart und der Abschied von der Aufklärung.

C. H. Beck Verlag, München 2024.

272 S., Abb., geb., 28,- Euro.

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