Für ihr drittes Album, "X & Y", haben sich COLDPLAY geschlagene 18 Monate Zeit genommen, ein Marathon, an dessen Ende sie zu einem kreativen Sprint ansetzten, bis sie schließlich erlöst und siegesgewiss die Ziellinie überquerten. Wer Musik mit einer derartigen Leidenschaft betrachtet, der nimmt quasi alles in Kauf. "Wir haben uns so hart angetrieben, wie wir nur konnten", bestätigt Gitarrist Jonny Buckland. "Wir mussten einfach das Gefühl haben, dass wir uns weiterentwickelt haben und dass uns die Musik richtig aufwühlt. Und wir waren keineswegs bereit, irgendetwas zu veröffentlichen, bis es sich richtig anfühlte."
Das Warten hat sich gelohnt. "X & Y" ist in jeglicher Hinsicht ein großartiges Album geworden. Die Songs sind einfach gigantisch. Manche Songs sind von stiller Intimität, andere bilden einen vielschichtig massiven Sound, mit dem COLDPLAY klanglich in für sie neue Gefilde aufbrechen. Die Songtexte behandeln wie gewohnt große Themen: Leben und Tod, Liebe und Verlust sowie die nie endende Faszination, die die Welt auslöst, aber auch das Wissen, Dinge akzeptieren zu müssen, die man niemals voll und ganz verstehen wird. "In der Mathematik liefern X und Y immer die Antworten, aber im Leben bleibt alles offen", so Chris Martin. "Für mich behandelt das Album die nicht zu beantwortenden Fragen und wie man damit umgeht, dass man die ganzen unbekannten Variablen nicht erklären kann."
Natürlich gibt es von jenen emotional ausschweifenden Songs, auf die sich COLDPLAY so hervorragend verstehen, mehr als genug. Neben "A Message", diesem bewegenden Liebeslied, gilt dies etwa für "Swallowed In The Sea", ein Song, der bereits Anfang 2004 entstanden war und in dem versucht wird, den Tod von Menschen, die einem nahe gestanden haben, angemessen zu verarbeiten. Das schmerzhaft schöne "What If" demonstriert, dass Chris noch lange nicht die Fähigkeit verloren hat, sich ernstlich Sorgen zu machen: "The happier you are/The more you have to lose". Aber es gibt auch die dunklen Seiten: "Twisted Logic" ist dafür ein titanisch glänzendes Beispiel. "Es ist wohl der wütendste Song, den wir jemals gemacht haben", so Chris. "Keine falsche Höflichkeit. Darüber bin ich besonders glücklich."
Das Warten hat sich gelohnt. "X & Y" ist in jeglicher Hinsicht ein großartiges Album geworden. Die Songs sind einfach gigantisch. Manche Songs sind von stiller Intimität, andere bilden einen vielschichtig massiven Sound, mit dem COLDPLAY klanglich in für sie neue Gefilde aufbrechen. Die Songtexte behandeln wie gewohnt große Themen: Leben und Tod, Liebe und Verlust sowie die nie endende Faszination, die die Welt auslöst, aber auch das Wissen, Dinge akzeptieren zu müssen, die man niemals voll und ganz verstehen wird. "In der Mathematik liefern X und Y immer die Antworten, aber im Leben bleibt alles offen", so Chris Martin. "Für mich behandelt das Album die nicht zu beantwortenden Fragen und wie man damit umgeht, dass man die ganzen unbekannten Variablen nicht erklären kann."
Natürlich gibt es von jenen emotional ausschweifenden Songs, auf die sich COLDPLAY so hervorragend verstehen, mehr als genug. Neben "A Message", diesem bewegenden Liebeslied, gilt dies etwa für "Swallowed In The Sea", ein Song, der bereits Anfang 2004 entstanden war und in dem versucht wird, den Tod von Menschen, die einem nahe gestanden haben, angemessen zu verarbeiten. Das schmerzhaft schöne "What If" demonstriert, dass Chris noch lange nicht die Fähigkeit verloren hat, sich ernstlich Sorgen zu machen: "The happier you are/The more you have to lose". Aber es gibt auch die dunklen Seiten: "Twisted Logic" ist dafür ein titanisch glänzendes Beispiel. "Es ist wohl der wütendste Song, den wir jemals gemacht haben", so Chris. "Keine falsche Höflichkeit. Darüber bin ich besonders glücklich."
CD | |||
1 | Square One | 00:04:47 | |
2 | What If | 00:04:57 | |
3 | White Shadows | 00:05:28 | |
4 | Fix You | 00:04:54 | |
5 | Talk | 00:05:11 | |
6 | X & Y | 00:04:34 | |
7 | Speed Of Sound | 00:04:48 | |
8 | A Message | 00:04:45 | |
9 | Low | 00:05:32 | |
10 | The Hardest Part | 00:04:22 | |
11 | Swallowed In The Sea | 00:03:58 | |
12 | Twisted Logic | 00:04:58 | |
13 | Til Kingdom Come | 00:04:10 |
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.06.2005Musik zum Verzweifeln
Die dritte Coldplay-Platte ist anders als ihre zwei Vorgänger - im guten wie im schlechten
Als die Musiker des Weltzweifels, der hängenden Köpfe, der allergrößten Traurigkeit, die Musiker von Coldplay, im letzten Jahr ihrer Plattenfirma mitteilten, der Erscheinungstermin ihrer neuen CD müsse leider verschoben werden, für das Weihnachtsgeschäft würde es nichts mehr werden, brach in der Vorstandsetage der EMI eine schwere Depression aus. Es wurde eine Gewinnwarnung ausgegeben, der Kurs der Aktie brach ein, und der Coldplay-Sänger Chris Martin verkündete, Aktionäre seien ohnehin das allerletzte. Er fuhr nach Ghana, um für fairen Welthandel zu werben, und erklärte in Interviews, die Bandmitglieder seien zur Zeit leider zu glücklich, um eine neue Platte zu machen. Es fehle der Druck. Die Notwendigkeit. Die Sehnsucht, die Traurigkeit, die Wut, die sie zum Arbeiten brauchten. Siebzehn Millionen Mal hatten sich die beiden ersten CDs der Band verkauft - die erste war vor fünf Jahren als melancholischer Schock in die Welt gekommen. Und so ließ die neue Platte also auf sich warten. Chris Martin heiratete die Schauspielerin Gwyneth Paltrow, sie bekamen ein Kind, das sie Apple nannten, Martin schlug sich mit Fotografen, und so gab es immer jede Menge zu berichten auch ohne neue Musik.
Aber der Druck wuchs. Ein neues Album mußte her. Und nicht irgendein Album. Das beste Coldplay-Album mußte es werden. Nein, das beste Album aller Zeiten. So haben es die Sänger im Dienste ihrer Plattenfirma in den letzten Monaten in vielen Interviews erklärt. Als vor kurzem die erste Single-Auskopplung "Speed of Sound" erschien, gab es für die Band erst mal eine gute und eine schlechte Nachricht: in den Vereinigten Staaten war es die erste britische Single seit "Hey Jude" von den Beatles, die von null in die Top Ten einstieg. In Großbritannien jedoch, wo man fest mit Platz eins rechnete, wurde das Lied gleich in der ersten Woche von einem unglaublich nervtötenden, in Deutschland produzierten Klingeltonsong verdrängt, "Crazy Frog". Aber das ist alles Vorgeplänkel.
Morgen erscheint die neue CD. Sie heißt "X & Y". Ob sie wirklich die beste Platte aller Zeiten geworden ist, ist schwer zu sagen, denn das schönste an den alten Coldplay-Songs ist ja, daß sie bei jedem Hören schöner werden, daß sich da nichts abnutzt, daß sie in den Gedanken wachsen und wachsen, und wenn man ein Lied mal einen Monat oder so nicht gehört hat und man hört es wieder, dann klingt und singt alles in einem und ist ganz Musik, als hätte da jemand direkt in dein Herz hineingesungen, und es gibt immer noch neue Melodiekleinigkeiten zu entdecken, und manche Passagen werden mit jedem Hören schöner, und eine Sehnsucht wächst mit und eine Traurigkeit und ein großer Glanz und Tanz. Wer Chris Martins flehendes "Singing please, please, please, come back and sing to me" aus dem unglaublichen Song "In my Place" je vergessen kann, hat wahrscheinlich kein Herz. Oder keine Ohren.
Ein solches Lied scheint auf der neuen Platte nicht zu sein. Aber viele Klassiker. Wieder viele Klassiker. Melodien, bei denen man sich fragt: ja, wo waren die denn die ganze Zeit, bevor diese Platte aufgenommen wurde? Das sind doch absolut notwendige und logische und unverzichtbare Melodien, die hier in diese Welt gehören, um uns wieder herauszutragen aus ihr, im Hören, in Gedanken. Wie war das denn, das Leben vorher und ohne diese Melodien? Rätselhaft.
Und es ist aber auch der Unwillen wieder da, der sich beim Hören einer ganzen Coldplay-CD oft einstellt. Der Unwillen gegen die mitunter penetrant heulende, immer am Rande des Herauspreßbaren ausgepreßte Stimme Chris Martins, dieses prahlend-wölfische uuhuuuuuu und oohoooooooo, dieses Jaulen auf höchstem Niveau, das einen immer mal wieder zur Skip-Taste treibt. Könnte er ja auch mal lassen, denkt man sich. Aber er läßt es nicht. Im Gegenteil. Und viele lieben ihn und die Band ja auch gerade dafür.
Was beim Hören sonst zuerst auffällt, ist dieses Bombastische. Irgendwie Satte und Schwere. Das liegt zunächst an einer aufwendigen, gewaltigen pinkfloydesken Bombastorgelei, die viele Stücke trägt und die ihnen mitunter ihre Klarheit und Helligkeit nimmt. Die Feinheit der Gitarren, die auf den alten Platten oft so zart zu einem Glockenspiel des Himmels umgenutzt wurden, hört man auf der neuen Platte seltener. Es geht eher in kleinen, sehr kleinen Schritten in Richtung einer leicht dickbäuchigen Besitzstandswahrung. Auch in den Texten ist die Basis-Verzweiflung verschwunden. Diese Traurigkeit über alles. Darüber, daß die Zeit vergeht, daß man nichts festhalten kann auf dieser Welt, daß das Leben vorbeizieht und die Erinnerung das Schönste ist und das Traurigste, was wir haben. Diese lässig-selbstbewußte Melancholie, verbunden mit einer Lebensforderung, was eigentlich nicht zusammenpaßt, nirgendwo und nur in diesen Texten, diesen Liedern. Wenn Chris Martin sang: "Where do we go, nobody knows / I've gotta say, I'm on my way down / God give me style and give me grace / God put a smile upon my face". Von diesen Zeilen, diesen Momenten gibt es auf der neuen Platte weniger. Es herrscht die erwachsenere und banalere Angst vor dem Verlust, dem Abstieg, dem Sturz hinab: "When every step that you take / can be your biggest mistake / and it could bend or it could break", dann endet der Vers hier zwar kurz darauf mit einem scheinbar gleichgültigen "well that's just the risk that you take", scheint aber die vorher angesungene Angst vor dem einen falschen Schritt im Leben, der alles mühsam Aufgebaute zum Einsturz bringt, nicht überzeugend zu entkräften. Oder doch?
Mitunter herrscht verblüffend gute Laune in den Songs der neuen Platte. Das letzte Lied zum Beispiel, der Bonus-Track, den die Band für Johnny Cash geschrieben hatte und den er aber nicht mehr singen konnte, weil er vorher starb, ist trotz der Eingangszeile "I feel my time, my time has come" von einer solchen schönen Gitarrenleichtigkeit, daß man befürchten muß, daß Johnny Cash das Lied auch dann nicht auf seine Abschieds-CD aufgenommen hätte, wenn sein Leben noch etwas länger gedauert hätte.
Zu lustig. Zu leicht. Aber herrlich.
Wie viele andere Lieder auf dieser CD. Das darf man vor lauter Ankündigungs-Superlativen eben nicht vergessen: daß "X & Y" zwar leider nicht die beste CD aller Zeiten geworden ist, aber eine wahnsinnig gute, schöne, warme Platte mit einigen Liedern für die Ewigkeit. Oder zumindest für diesen großen kommenden Sommer und einige weitere noch. Also das Lied "Talk" bitte etwa, dieses Anschleichen des Traummotivs zu Beginn und die zarten Variationen in dem grünen Harfenwald mit zurückhaltenden Traumorgeln und den sich steigernden Brachialgitarren am Ende. Oder der flüsternde Beginn des Titelsongs "X & Y", die Steigerungen, das Crescendo aller Lieder, die Dramaturgie, das Komponieren gegen die Langeweile, vierstimmiges Singen gegen den Tod in "Fix You" und vor allem die Melodien und sagenhaften Motive. Das ist schon alles sehr, sehr gut.
Und daß die Weltenzweifler, Weltverzweifler in den Jahren des Erfolges und des Glücks mit Gwyneth, Apple und den anderen zu einer neuen Souveränität gefunden haben, ist vielleicht auch nur ein anderer Ausdruck des Erwachsenwerdens. "Man kann nicht ein Leben lang interessant bleiben", hat Thomas Mann einmal geschrieben. "Man geht an seiner Interessantheit zugrunde - oder man wird ein Künstler." Hat er geschrieben. Und wurde Künstler und schrieb Romane und Novellen, statt zu sterben.
Coldplay machen Musik. Große Musik.
VOLKER WEIDERMANN
Coldplays "X & Y" erscheint am Montag bei EMI.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die dritte Coldplay-Platte ist anders als ihre zwei Vorgänger - im guten wie im schlechten
Als die Musiker des Weltzweifels, der hängenden Köpfe, der allergrößten Traurigkeit, die Musiker von Coldplay, im letzten Jahr ihrer Plattenfirma mitteilten, der Erscheinungstermin ihrer neuen CD müsse leider verschoben werden, für das Weihnachtsgeschäft würde es nichts mehr werden, brach in der Vorstandsetage der EMI eine schwere Depression aus. Es wurde eine Gewinnwarnung ausgegeben, der Kurs der Aktie brach ein, und der Coldplay-Sänger Chris Martin verkündete, Aktionäre seien ohnehin das allerletzte. Er fuhr nach Ghana, um für fairen Welthandel zu werben, und erklärte in Interviews, die Bandmitglieder seien zur Zeit leider zu glücklich, um eine neue Platte zu machen. Es fehle der Druck. Die Notwendigkeit. Die Sehnsucht, die Traurigkeit, die Wut, die sie zum Arbeiten brauchten. Siebzehn Millionen Mal hatten sich die beiden ersten CDs der Band verkauft - die erste war vor fünf Jahren als melancholischer Schock in die Welt gekommen. Und so ließ die neue Platte also auf sich warten. Chris Martin heiratete die Schauspielerin Gwyneth Paltrow, sie bekamen ein Kind, das sie Apple nannten, Martin schlug sich mit Fotografen, und so gab es immer jede Menge zu berichten auch ohne neue Musik.
Aber der Druck wuchs. Ein neues Album mußte her. Und nicht irgendein Album. Das beste Coldplay-Album mußte es werden. Nein, das beste Album aller Zeiten. So haben es die Sänger im Dienste ihrer Plattenfirma in den letzten Monaten in vielen Interviews erklärt. Als vor kurzem die erste Single-Auskopplung "Speed of Sound" erschien, gab es für die Band erst mal eine gute und eine schlechte Nachricht: in den Vereinigten Staaten war es die erste britische Single seit "Hey Jude" von den Beatles, die von null in die Top Ten einstieg. In Großbritannien jedoch, wo man fest mit Platz eins rechnete, wurde das Lied gleich in der ersten Woche von einem unglaublich nervtötenden, in Deutschland produzierten Klingeltonsong verdrängt, "Crazy Frog". Aber das ist alles Vorgeplänkel.
Morgen erscheint die neue CD. Sie heißt "X & Y". Ob sie wirklich die beste Platte aller Zeiten geworden ist, ist schwer zu sagen, denn das schönste an den alten Coldplay-Songs ist ja, daß sie bei jedem Hören schöner werden, daß sich da nichts abnutzt, daß sie in den Gedanken wachsen und wachsen, und wenn man ein Lied mal einen Monat oder so nicht gehört hat und man hört es wieder, dann klingt und singt alles in einem und ist ganz Musik, als hätte da jemand direkt in dein Herz hineingesungen, und es gibt immer noch neue Melodiekleinigkeiten zu entdecken, und manche Passagen werden mit jedem Hören schöner, und eine Sehnsucht wächst mit und eine Traurigkeit und ein großer Glanz und Tanz. Wer Chris Martins flehendes "Singing please, please, please, come back and sing to me" aus dem unglaublichen Song "In my Place" je vergessen kann, hat wahrscheinlich kein Herz. Oder keine Ohren.
Ein solches Lied scheint auf der neuen Platte nicht zu sein. Aber viele Klassiker. Wieder viele Klassiker. Melodien, bei denen man sich fragt: ja, wo waren die denn die ganze Zeit, bevor diese Platte aufgenommen wurde? Das sind doch absolut notwendige und logische und unverzichtbare Melodien, die hier in diese Welt gehören, um uns wieder herauszutragen aus ihr, im Hören, in Gedanken. Wie war das denn, das Leben vorher und ohne diese Melodien? Rätselhaft.
Und es ist aber auch der Unwillen wieder da, der sich beim Hören einer ganzen Coldplay-CD oft einstellt. Der Unwillen gegen die mitunter penetrant heulende, immer am Rande des Herauspreßbaren ausgepreßte Stimme Chris Martins, dieses prahlend-wölfische uuhuuuuuu und oohoooooooo, dieses Jaulen auf höchstem Niveau, das einen immer mal wieder zur Skip-Taste treibt. Könnte er ja auch mal lassen, denkt man sich. Aber er läßt es nicht. Im Gegenteil. Und viele lieben ihn und die Band ja auch gerade dafür.
Was beim Hören sonst zuerst auffällt, ist dieses Bombastische. Irgendwie Satte und Schwere. Das liegt zunächst an einer aufwendigen, gewaltigen pinkfloydesken Bombastorgelei, die viele Stücke trägt und die ihnen mitunter ihre Klarheit und Helligkeit nimmt. Die Feinheit der Gitarren, die auf den alten Platten oft so zart zu einem Glockenspiel des Himmels umgenutzt wurden, hört man auf der neuen Platte seltener. Es geht eher in kleinen, sehr kleinen Schritten in Richtung einer leicht dickbäuchigen Besitzstandswahrung. Auch in den Texten ist die Basis-Verzweiflung verschwunden. Diese Traurigkeit über alles. Darüber, daß die Zeit vergeht, daß man nichts festhalten kann auf dieser Welt, daß das Leben vorbeizieht und die Erinnerung das Schönste ist und das Traurigste, was wir haben. Diese lässig-selbstbewußte Melancholie, verbunden mit einer Lebensforderung, was eigentlich nicht zusammenpaßt, nirgendwo und nur in diesen Texten, diesen Liedern. Wenn Chris Martin sang: "Where do we go, nobody knows / I've gotta say, I'm on my way down / God give me style and give me grace / God put a smile upon my face". Von diesen Zeilen, diesen Momenten gibt es auf der neuen Platte weniger. Es herrscht die erwachsenere und banalere Angst vor dem Verlust, dem Abstieg, dem Sturz hinab: "When every step that you take / can be your biggest mistake / and it could bend or it could break", dann endet der Vers hier zwar kurz darauf mit einem scheinbar gleichgültigen "well that's just the risk that you take", scheint aber die vorher angesungene Angst vor dem einen falschen Schritt im Leben, der alles mühsam Aufgebaute zum Einsturz bringt, nicht überzeugend zu entkräften. Oder doch?
Mitunter herrscht verblüffend gute Laune in den Songs der neuen Platte. Das letzte Lied zum Beispiel, der Bonus-Track, den die Band für Johnny Cash geschrieben hatte und den er aber nicht mehr singen konnte, weil er vorher starb, ist trotz der Eingangszeile "I feel my time, my time has come" von einer solchen schönen Gitarrenleichtigkeit, daß man befürchten muß, daß Johnny Cash das Lied auch dann nicht auf seine Abschieds-CD aufgenommen hätte, wenn sein Leben noch etwas länger gedauert hätte.
Zu lustig. Zu leicht. Aber herrlich.
Wie viele andere Lieder auf dieser CD. Das darf man vor lauter Ankündigungs-Superlativen eben nicht vergessen: daß "X & Y" zwar leider nicht die beste CD aller Zeiten geworden ist, aber eine wahnsinnig gute, schöne, warme Platte mit einigen Liedern für die Ewigkeit. Oder zumindest für diesen großen kommenden Sommer und einige weitere noch. Also das Lied "Talk" bitte etwa, dieses Anschleichen des Traummotivs zu Beginn und die zarten Variationen in dem grünen Harfenwald mit zurückhaltenden Traumorgeln und den sich steigernden Brachialgitarren am Ende. Oder der flüsternde Beginn des Titelsongs "X & Y", die Steigerungen, das Crescendo aller Lieder, die Dramaturgie, das Komponieren gegen die Langeweile, vierstimmiges Singen gegen den Tod in "Fix You" und vor allem die Melodien und sagenhaften Motive. Das ist schon alles sehr, sehr gut.
Und daß die Weltenzweifler, Weltverzweifler in den Jahren des Erfolges und des Glücks mit Gwyneth, Apple und den anderen zu einer neuen Souveränität gefunden haben, ist vielleicht auch nur ein anderer Ausdruck des Erwachsenwerdens. "Man kann nicht ein Leben lang interessant bleiben", hat Thomas Mann einmal geschrieben. "Man geht an seiner Interessantheit zugrunde - oder man wird ein Künstler." Hat er geschrieben. Und wurde Künstler und schrieb Romane und Novellen, statt zu sterben.
Coldplay machen Musik. Große Musik.
VOLKER WEIDERMANN
Coldplays "X & Y" erscheint am Montag bei EMI.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main