Produktdetails
  • Anzahl: 2 CD+DVDs
  • Erscheinungstermin: 17. Mai 2004
  • Hersteller: ROUGH TRADE / Sanctuary,
  • EAN: 5050749300195
  • Artikelnr.: 20174007
Trackliste
CD + DVD Video 1
1America Is Not The World00:04:03
2Irish Blood, English Heart00:02:37
3I Have Forgiven Jesus00:03:41
4Come Back To Camden00:04:14
5I'm Not Sorry00:04:41
6The World Is Full Of Crashing Bores00:03:51
7How Can Anybody Possibly Know How I Feel?00:03:25
8First Of The Gang To Die00:03:38
9Let Me Kiss You00:03:30
10All The Lazy Dykes00:03:31
11I Like You00:04:11
12You Know I Couldn't Last00:05:51
CD + DVD Video 2
1You Are The Quarry (Data Track)
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.05.2004

Der letzte Engländer
Fleisch ist kein Stück Lebenskraft, aber alle Tage ein Sonntag: Morrisseys triumphale Rückkehr

Es ist auffällig, daß gerade die britischen Popmusiker von Angst und Überheblichkeit geplagt sind. Auf eine gewisse Art und Weise, die man schnell durchschaut, ist bei ihnen immer alles zugleich da: Weltschmerz und Arroganz, Ästhetizismus und aggressives Moralisieren, Introvertiertheit und Geltungsdrang, Intoleranz und eine Ironie, die sich allerdings nur auf andere erstreckt. Das Erzählen von Geschichten, auf das sich die Amerikaner so gut verstehen, bedeutet ihnen wenig; selbst der Sozialreport, der durchaus auch auf der Insel gepflegt wird und eigentlich eine Errungenschaft der "Kinks" ist, gerät ihnen oft zur prekären Innenschau. Diese Selbstbespiegelung wäre auf die Dauer langweilig, käme dabei nicht so gute Musik heraus.

Einige Briten sind in ihrem Beruf, der doch eigentlich so viele Freuden bereithalten müßte, noch unglücklicher geworden, als sie es schon waren, während sie noch davon träumten. Die interessanteste Figur dürfte Morrissey sein, ein, wie oft vermutet wurde, manisch-depressiver Selbstdarsteller und Oscar-Wilde-Imitator, der trotz seiner unsympathischen Züge ein faszinierender Rockmusiker und außergewöhnlicher Performer ist, nach Meinung seiner Anhänger sogar der wichtigste britische der vergangenen zwanzig Jahre. In Morrissey kommen die Dekadenz eines Bryan Ferry, die Fummeltrinenhaftigkeit eines Elton John, Marc Bolan und Boy George, die Wehleidigkeit eines Robert Smith und die Angriffslust jüngerer Britpophelden von "Oasis" bis zu den "Manic Street Preachers" auf eine vertrackte, aber produktive Weise zusammen. Fünfzehn Platten gibt es mittlerweile von ihm, wenn man die Produkte seiner ehemaligen und zumindest in England immer noch kulthaft verehrten Band "The Smiths" mitzählt.

In dieser Formation aus Manchester, die sich 1987 nach knapp fünf Jahren auflöste, bildete Morrissey als Songschreiber mit dem Gitarristen und Komponisten Johnny Marr eine Arbeitsgemeinschaft nach Art der ganz großen Vorgänger (Lennon/McCartney und Jagger/Richards). "The Smiths" gaben mit ihrem gitarrenlastigen, gleichermaßen handfesten und schwelgerischen Musizierstil einer enttäuschten und auch sozial desillusionierten Jugend, die mit Synthesizerpop nichts anfangen konnte, den Glauben an die Kraft der Rockmusik als Mittel zur Lebensbewältigung zurück, der ihr nach dem Verebben der Punkwelle abhanden gekommen war. Gewalt und Glamour propagierten die "Smiths", die sich als Vertreter der Unterpriviligierten ausgaben, mit der Arbeiterklassenbegeisterung für Fußball aber nicht viel am Hut hatten. "Meat Is Murder" und "The Queen Is Dead": Mit solchen Plattentiteln war die Bandbreite einer Militanz signalisiert, die sich, was den Vegetarier Morrissey betraf, buchstäblich gegen alles mögliche richtete, nur nicht gegen das eigene, in sorgsamer Affektiertheit gepflegte Ich. Bei allem Lebensüberdruß wäre es ihm, anders als dem geistesverwandten amerikanischen Kollegen Iggy Pop, zu keiner Zeit in den Sinn gekommen, sich auf offener Bühne selbst zu verstümmeln und als den letzten Dreck zu bezeichnen.

Daß er sich zuweilen so fühlte, daran ließ seine erlesene, anspielungsreiche Lyrik selten Zweifel. "Viva Hate" gab 1988 seine erste Soloplatte nahtlos die weitere Parole aus. Hier wünschte er Margaret Thatcher unter die Guillotine und gönnte der typisch britischen Vorstadt-Tristesse noch einen Schwanengesang, der im ausklingenden Atomangstzeitalter eine besonders schwermütige Tönung annahm: "Everyday Is Like Sunday" heißt das Lied, das bis heute sein bestes, schönstes geblieben ist. Ein Außenseiter, der das Gefühl hat, immer zur falschen Zeit am richtigen Ort zu sein, wünscht die Nuklearbombe herbei und feiert in absentia ein Amargeddon, das in der zu Herzen gehenden Melodie allen Schrecken verliert. Das Niveau seiner Musik hielt sich auch in der Folgezeit, trotz der Trennung vom genialischen Johnny Marr.

Nach sieben langen Jahren, in denen die Popgeschichtsschreibung ihren mit viel Haßliebe bedachten Gegenstand selten aus den Augen verlor, das Rätsel um dessen sexuelle Ausrichtung aber immer noch nicht gelöst hat, liegt nun ein neues Soloalbum vor, das übernächste Woche erscheint: "Morrissey, You Are The Quarry" signalisiert in der für einen Plattentitel ungewöhnlich direkten Selbstansprache, daß der Sänger sein Lebensproblem auch ins dritte Karrierejahrzehnt mitschleppt; er kann ihm nur mit dem Mittel der Doppeldeutigkeit beikommen. Morrissey ist immer noch das von allen gejagte Wild und Quell der Inspiration in einem, Opfer und Fundgrube für alles mögliche - ein seit dem Tod der Prinzessin Diana gerade in der Boulevardpresse geläufiger Topos, den Morrissey auf so glanzvolle wie wehleidige Weise verkörpert. Auf dieser nahezu perfekten Pop-Platte, die von verschwenderischen Arrangements bisweilen in Burt-Bacharach-Dimensionen hineingetrieben wird, mag der labile Größenwahn eines Musikers, der neuerdings von sich behauptet, er hätte Jesus vergeben, zunächst irritieren. Insgesamt handelt es sich um ein Zeugnis der Gelassenheit, in dem der frühere Zorn nur noch wärmend glüht. Morrissey, der sich mittlerweile in Los Angeles die Sonne auf die blasse Melancholikerhaut scheinen läßt, ist in der Fremde zum abgeklärten Teetrinker geworden, der Wert darauf legt, daß sein Lieblingsgetränk irgendwie nach Themse schmeckt. "Come Back To Camden" heißt das elegante Lied, in dem er sich nach dem Land zurücksehnt, in dem die Taxifahrer das Reden während der Fahrt keineswegs einstellen. Dabei nutzt Morrissey die England-Amerika-Dialektik denkbar unaufdringlich; für die neue Heimat hat er nur müde Grußadressen übrig, die er mit milder Politkritik würzt. Der massive Nationalismus, der sogar seine Hofberichterstatter vom "New Musical Express" irritierte, hat sich verflüchtigt in der Suche nach der richtigen, einem Mann wie Morrissey angemessenen Lebensart.

So steht er denn alles in allem recht strahlend vor uns: der letzte Engländer, der das große Erbe der britischen Popmusik, den Glamrock wie die theatralischen Popballaden vergangener Jahrzehnte, zwingend zu synthetisieren weiß. Abermals zeigt sich dabei, daß er eigentlich gar kein richtiger Rocksänger ist, sondern eher ein crooner, der selten aus sich herausgeht und dessen Vorliebe für Schlagersängerinnen wie Sandie Shaw und Dusty Springfield immer schon bezeichnend war. Beherrscht bleibt er selbst im Powerplay von "You Know I Couldn't Last", in dem der vormals Unbehauste so achselzuckend wie furios abrechnet mit einem Starruhm, der ihm nun nur noch Annehmlichkeiten bescheren soll.

So ist denn das makellose Softpopstück "I'm Not Sorry" letztlich ein Indiz dafür, daß dieser Steven Patrick Morrissey ins reine gekommen ist mit sich und der Welt. Der vormals so ungesunde Narzißmus ist zurechtgestutzt auf das Maß, auf das sich noch jede praktische Vernunft einigen kann: "I'm not looking for anyone." Nicht nötig, wenn einer sich selbst genug ist. Womöglich ist das eine Altersfrage - Morrissey wird in zwei Wochen fünfundvierzig -; jedenfalls ist es keine Unverschämtheit mehr, wenn dieser Sänger fortwährend "Ich" sagt.

EDO REENTS

Morrissey, You Are The Quarry. Attack Records/Sanctuary ATKCD001

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