An Afrika kann man am intensivsten die "Alterität" thematisieren, die in den Kulturwissenschaften heute eine zentrale Rolle spielt: Ziel eines Geschichtsunterrichts zum Thema Afrika ist es, Fremdes, d. h. gegenüber der eigenen Kultur radikal Anderes, wahrnehmbar, reflektierbar und nachvollziehbar zu machen.
Die ungeheure Vielfalt Afrikas lässt es nicht zu, den ganzen Kontinent oder auch nur einen seiner Großräume als Ganzes zu behandeln. In dem vorliegenden Arbeitsbuch wurden exemplarisch zwei benachbarte Kulturen im südlichen Nigeria ausgewählt: die Edo als Träger des "Benin-Reichs" und die Ibo, die kaum Formen großräumiger oder auch nur institutionalisierter Herrschaft kennen. Auf der Basis jahrhundertealter oraler und bildlicher Traditionen bieten sich hier überaus interessante Möglichkeiten, Sozial- und Kulturgeschichte, Geschlechtergeschichte und Politik zu thematisieren. Da die Ibo-Sprachigen in der Kolonialisierung eine besondere Bedeutung für das ganze Gebiet des späterenNigeria gewannen und da ausgerechnet sie in dem Sezessionsversuch Biafras 1967/70 eine staatliche Autonomie zu erreichen versuchten, wird eine zusammenhängende Darstellung afrikanischer Geschichte über mehr als ein halbes Jahrtausend möglich, bei der europäische Eingriffe einer durchgehend afrikanischen Perspektive untergeordnet werden.
Inhalt: Was ist uns Afrika? - 1. Afrika - ein historischer Rückblick (Ein Rückblick auf 5 Jahrtausende; Wie betrachtet man Afrika? - Überlegungen zu Methoden) - 2. Das Königreich Benin (Die Empörung der zivilisierten Welt; Die Geschichte Benins - Entstehung und Aufstieg eines Staates; Der Oba als sakraler Herrscher; Benin als Großmacht im unteren Niger-Gebiet; Benin und die Europäer) - 3. Die Welt der Ibo (Die Ordnung der Gemeinde; Jenseits der Grenzen der Gemeinde; Die Geschichte der Ibo) - 4. Nigeria (Die Konstruktion der Kolonie Nigeria; Menschen in Lagos - die ersten Nigerianer?; Entkolonialisierung: Nigeria wird ein Staat; Die Katastrophe) - Literaturhinweise und Glossar
Die ungeheure Vielfalt Afrikas lässt es nicht zu, den ganzen Kontinent oder auch nur einen seiner Großräume als Ganzes zu behandeln. In dem vorliegenden Arbeitsbuch wurden exemplarisch zwei benachbarte Kulturen im südlichen Nigeria ausgewählt: die Edo als Träger des "Benin-Reichs" und die Ibo, die kaum Formen großräumiger oder auch nur institutionalisierter Herrschaft kennen. Auf der Basis jahrhundertealter oraler und bildlicher Traditionen bieten sich hier überaus interessante Möglichkeiten, Sozial- und Kulturgeschichte, Geschlechtergeschichte und Politik zu thematisieren. Da die Ibo-Sprachigen in der Kolonialisierung eine besondere Bedeutung für das ganze Gebiet des späterenNigeria gewannen und da ausgerechnet sie in dem Sezessionsversuch Biafras 1967/70 eine staatliche Autonomie zu erreichen versuchten, wird eine zusammenhängende Darstellung afrikanischer Geschichte über mehr als ein halbes Jahrtausend möglich, bei der europäische Eingriffe einer durchgehend afrikanischen Perspektive untergeordnet werden.
Inhalt: Was ist uns Afrika? - 1. Afrika - ein historischer Rückblick (Ein Rückblick auf 5 Jahrtausende; Wie betrachtet man Afrika? - Überlegungen zu Methoden) - 2. Das Königreich Benin (Die Empörung der zivilisierten Welt; Die Geschichte Benins - Entstehung und Aufstieg eines Staates; Der Oba als sakraler Herrscher; Benin als Großmacht im unteren Niger-Gebiet; Benin und die Europäer) - 3. Die Welt der Ibo (Die Ordnung der Gemeinde; Jenseits der Grenzen der Gemeinde; Die Geschichte der Ibo) - 4. Nigeria (Die Konstruktion der Kolonie Nigeria; Menschen in Lagos - die ersten Nigerianer?; Entkolonialisierung: Nigeria wird ein Staat; Die Katastrophe) - Literaturhinweise und Glossar
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.12.2001Zauberer des Südens
Ein Schulbuch über Afrika bietet mehr als pure Wissensvermittlung
HERBERT PROKASKY: Afrika - ferner Nachbar. Geschichte in Westafrika am Beispiel der Edo und Ibo im Gebiet des heutigen Südnigeria, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2001. 144 Seiten, 36,90 Mark.
Ein deutsches Schulbuch in die Hand zu nehmen, bedarf der größten Selbstüberwindung. Schuld daran ist meist die eigene schlechte Erfahrung mit dem Fach Geschichte und den Lehrern in früheren Jahren. Doch man kann sich irren: Schulbücher sind nicht mehr, was sie einmal waren. Herbert Prokaskys „Afrika – ferner Nachbar; Geschichte in Westafrika am Beispiel der Edo und Ibo im Gebiet des heutigen Südnigeria”, geschrieben für die Oberstufe des Gymnasiums, ist im besten Sinne des Wortes ein „politisches Wissensbuch”. Und es macht darüber hinaus auch noch Spaß, sich darauf einzulassen.
Denn in den knapp 140 Seiten lehrt kein deutscher Oberlehrer trocken von seinem Katheder herab. Vielmehr hat der Düsseldorfer Gymnasiallehrer und Hobby-Afrikanist Prokasky über die Jahre ein Kaleidoskop an Materialien, Quellen und Literaturauszügen etwa von Chinua Achebes Romanen oder Kunst und Pop (Kultfigur Fela Kuti) sowie wissenschaftlichen Werken gesammelt und in dem Bändchen verarbeitet. So wird am Detail der Ibo und Edo im heutigen Nigeria afrikanische Geschichte erfahrbar und erfassbar: Die Geschichte eines Kontinents, der uns Mitteleuropäern (es sei denn, wir greifen in die Verdrängungsschublade der Schuldfrage und des Rassismus) mindestens so fremd und sagenumwoben erscheint wie mancher Science-Fiction-Stoff oder aktuell mythisch verzauberte Kinderbuchwelten.
Begleitet von Landkarten, zahlreichen Bildern, Zeichnungen, Reproduktionen und Augenzeugenberichten führt Prokasky den Leser über alle Stolpersteine historischer Erkenntnis. Das beginnt schon bei der Methodik: Wie mit mündlicher Überlieferung umgehen, wie Kunstwerke als historische Quellen nutzen? Und das macht auch vor der Sprache und ihren Begriffen nicht halt: Was meinen wir, wenn wir von Stämmen und Ethnien sprechen – und was verstehen darunter die Afrikaner? Ein Juju-Man ist ein Zauberer. Aber die Autorität eines Medizinmannes als Mittler zwischen der fühlbaren und der Geisterwelt verkörpert viel mehr als die Anerkennung eines Doktors.
So liest und arbeitet man sich durch Vor- und Frühgeschichte, durch die Ordnung der Gemeinden, die Chance zum gesellschaftlichen Aufstieg, das Wesen der Macht oder die differenzierte Rolle der Frauen, die Einflüsse von Christentum und Islam, lernt über politische Konfliktmuster in jener fremden Welt. Bis man schließlich auch und unvermeidlich vordringt zur Sklaverei und Fremdherrschaft in der Phase der Kolonialisierung sowie zur ideologischen Konstruktion wie tatsächlichen Ausprägung der britischen Kolonie Nigeria, in welche die Edo und Ibo zwangsintegriert wurden.
Willkommen im „modernen Afrika”. „Der erste Nigerianer” – das sind jene Menschen im Schmelztiegel Lagos, einem 10-Millionen-Sumpf, in dem die Menschen bis heute darum kämpfen, ihre Identität zu finden. Auf der Suche nach der eigenen Tradition bleiben sie in ihren Stadtbezirken und entwickeln die typischen Verhaltensmuster und Überlebensstrategien des Klientelismus, der Nigeria und den Kontinent seit der „Entkolonialisierung” und Unabhängigkeit prägen.
„Afrika - ferner Nachbar” hört aber leider da auf, wo das Heute wirklich beginnt – nämlich im Nigeria nach dem großen Bürgerkrieg um Biafra. Das ist der einzige wirklich bittere Wermutstropfen in einem Buch, das ansonsten den Blick frei macht, eingeübte Denkmuster und schablonenhafte Kategorien abzulegen lehrt und sich einlässt auf die Geschichte eines fremden Kontinents.
MICHAEL BIRNBAUM
Der Rezensent ist Journalist und Afrika-Spezialist in München.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Ein Schulbuch über Afrika bietet mehr als pure Wissensvermittlung
HERBERT PROKASKY: Afrika - ferner Nachbar. Geschichte in Westafrika am Beispiel der Edo und Ibo im Gebiet des heutigen Südnigeria, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2001. 144 Seiten, 36,90 Mark.
Ein deutsches Schulbuch in die Hand zu nehmen, bedarf der größten Selbstüberwindung. Schuld daran ist meist die eigene schlechte Erfahrung mit dem Fach Geschichte und den Lehrern in früheren Jahren. Doch man kann sich irren: Schulbücher sind nicht mehr, was sie einmal waren. Herbert Prokaskys „Afrika – ferner Nachbar; Geschichte in Westafrika am Beispiel der Edo und Ibo im Gebiet des heutigen Südnigeria”, geschrieben für die Oberstufe des Gymnasiums, ist im besten Sinne des Wortes ein „politisches Wissensbuch”. Und es macht darüber hinaus auch noch Spaß, sich darauf einzulassen.
Denn in den knapp 140 Seiten lehrt kein deutscher Oberlehrer trocken von seinem Katheder herab. Vielmehr hat der Düsseldorfer Gymnasiallehrer und Hobby-Afrikanist Prokasky über die Jahre ein Kaleidoskop an Materialien, Quellen und Literaturauszügen etwa von Chinua Achebes Romanen oder Kunst und Pop (Kultfigur Fela Kuti) sowie wissenschaftlichen Werken gesammelt und in dem Bändchen verarbeitet. So wird am Detail der Ibo und Edo im heutigen Nigeria afrikanische Geschichte erfahrbar und erfassbar: Die Geschichte eines Kontinents, der uns Mitteleuropäern (es sei denn, wir greifen in die Verdrängungsschublade der Schuldfrage und des Rassismus) mindestens so fremd und sagenumwoben erscheint wie mancher Science-Fiction-Stoff oder aktuell mythisch verzauberte Kinderbuchwelten.
Begleitet von Landkarten, zahlreichen Bildern, Zeichnungen, Reproduktionen und Augenzeugenberichten führt Prokasky den Leser über alle Stolpersteine historischer Erkenntnis. Das beginnt schon bei der Methodik: Wie mit mündlicher Überlieferung umgehen, wie Kunstwerke als historische Quellen nutzen? Und das macht auch vor der Sprache und ihren Begriffen nicht halt: Was meinen wir, wenn wir von Stämmen und Ethnien sprechen – und was verstehen darunter die Afrikaner? Ein Juju-Man ist ein Zauberer. Aber die Autorität eines Medizinmannes als Mittler zwischen der fühlbaren und der Geisterwelt verkörpert viel mehr als die Anerkennung eines Doktors.
So liest und arbeitet man sich durch Vor- und Frühgeschichte, durch die Ordnung der Gemeinden, die Chance zum gesellschaftlichen Aufstieg, das Wesen der Macht oder die differenzierte Rolle der Frauen, die Einflüsse von Christentum und Islam, lernt über politische Konfliktmuster in jener fremden Welt. Bis man schließlich auch und unvermeidlich vordringt zur Sklaverei und Fremdherrschaft in der Phase der Kolonialisierung sowie zur ideologischen Konstruktion wie tatsächlichen Ausprägung der britischen Kolonie Nigeria, in welche die Edo und Ibo zwangsintegriert wurden.
Willkommen im „modernen Afrika”. „Der erste Nigerianer” – das sind jene Menschen im Schmelztiegel Lagos, einem 10-Millionen-Sumpf, in dem die Menschen bis heute darum kämpfen, ihre Identität zu finden. Auf der Suche nach der eigenen Tradition bleiben sie in ihren Stadtbezirken und entwickeln die typischen Verhaltensmuster und Überlebensstrategien des Klientelismus, der Nigeria und den Kontinent seit der „Entkolonialisierung” und Unabhängigkeit prägen.
„Afrika - ferner Nachbar” hört aber leider da auf, wo das Heute wirklich beginnt – nämlich im Nigeria nach dem großen Bürgerkrieg um Biafra. Das ist der einzige wirklich bittere Wermutstropfen in einem Buch, das ansonsten den Blick frei macht, eingeübte Denkmuster und schablonenhafte Kategorien abzulegen lehrt und sich einlässt auf die Geschichte eines fremden Kontinents.
MICHAEL BIRNBAUM
Der Rezensent ist Journalist und Afrika-Spezialist in München.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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