Der Bahnwärter Thiel lebt glücklich mit seiner Frau und seinem Sohn Tobias zusammen und führt seinen Dienst stets pflichtbewusst und zuverlässig aus. Als seine Frau stirbt, heiratet er die dominante und herrische Magd Lene, mit der er ein Kind bekommt. Lene misshandelt Tobias, und Thiel sieht in einer Wahnvorstellung bereits seine erste Frau mit einem blutigen Bündel über die Gleise fliehen. Einige Zeit später stirbt Tobias durch Lenes Schuld auf den Gleisen. Nachts erschlägt der Bahnwärter Thiel schließlich Lene und sein Kind aus zweiter Ehe und wird in ein Irrenhaus gebracht. Mit Bahnwärter Thiel schrieb Hauptmann eine psychologische Studie, in der er realistisch den Verfall eines Menschen vom pflichtbewussten Kirchgänger zum Mörder schildert. Tiefe verleihen der "novellistischen Studie", wie der Untertitel des Werks heißt, auch die zahlreichen Symbole und Vorausdeutungen. Als Hauptmann die Erzählung 1887 schrieb, war er knapp 25 Jahre alt. Inzwischen ist "Bahnwärter Thiel" derbekannteste Prosatext des Nobelpreisträgers.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.02.2017HÖRBUCHKOLUMNE
Tristan und Isolde, Romeo und Julia, Ivan und Claire: Sie hatte sich gerade von ihrem ersten Mann getrennt, als sie 1917 in Genf den Dichter Ivan Goll traf und eine Liebe begann, die lange hielt, weil sie alles in sich beschloss: Ausschließlichkeit und Affären, Innigkeit und Strindbergeleien zu dritt, Streit, Versöhnung. Nur herunterdimmen ließ sich diese Leidenschaft nie oder doch nicht lange. Er schrieb ihr: „Du bist die rotflammende Fahne des Tags, du bist die Erretterin der Menschheit, du, wir wollen Menschen werden. Süße, noch einmal: Kuss, Kuss und dann Sturz zu dir. Bald, bald, ich schwelle vor Lust.“ Der Tonfall variierte, die Passion blieb, über seinen Tod im Jahr 1950 hinaus. So viel Aufwallung ließe sich schwerlich lange ertragen ohne die Kunst der Sprecher: Spröde, selbstironisch, leicht klingt Ulrich Tukur, als betrachte er Gefühle mit der Verwunderung eines Zoologen. Sandra Quadflieg forciert die Empfindung, wenn sie ihn anfleht, die andere nicht zu sehen. Und dann umarmt sie ihn mit ihrer vollen Stimme.
Weniger Leidenschaft macht das Leben auch nicht erträglicher. Wenn nichts passiert, das Dasein nur abgehängte Decken und Prüfungen verspricht, dann macht man schon mal Scheiße und fällt am Heiligen Abend den großen Weihnachtsbaum auf dem Dorfplatz oder schluckt Schlaftabletten. Damit hat Frieder seine Freunde erschreckt und ihnen die Gelegenheit verschafft, ein Freundschaftsleben miteinander durchzuprobieren. Wie das geht, erzählt Bov Bjergs viel gelesener Roman „Auerhaus“. Das Hörspiel von Beate Andres spielt selbstverständlich mit „Our House“ von Madness, deutet die Dorfwelt akustisch an, weckt aber keine Achtzigerjahre-Nostalgie. In diesem Spiel geht es um den Augenblick, in dem das Leben kippt, in dem zum letzten Mal alles möglich, neu, unschuldig erscheint. Christoph Letkowski ist Höppner, der lispelnde Freund und sympathisierende Erzähler. Er beherrscht die Kunst, natürlich zu sein, also jung.
„Endlich strich man ein Schwefelholz an der Wand, und der aufzuckende Lichtschein enthüllte eine grauenvolle Verwüstung. ,Mord, Mord!‘ Lene lag in ihrem Blut, das Gesicht unkenntlich, mit zerschlagener Hirnschale.“ Wenn man das liest, eine Episode aus der Schreckenskaskade, mit der Gerhart Hauptmanns „Bahnwärter Thiel“ endet, fragt man sich verwundert, warum das „naturalistisch“ heißen soll. Schicksalsverhangen, theatralisch, literaturdurchtränkt, gewiss. Aber nach der Natur? Hört man, wie Johannes Steck Hauptmanns Studie liest, verstummt die Frage. Ja, so ist die menschliche Natur, ein Effekt der Leidenschaften.
JENS BISKY
Claire Goll, Ivan Goll: Nichts fehlt – außer Dir. Gelesen von Sandra Quadflieg und Ulrich Tukur. Random House Audio, München 2017. 2 CDs, 157 Minuten, 19,99 Euro.
Bov Bjerg: Auerhaus. Hörspiel mit Christoph Letkowski, Anton Weil u.a. Der Audio Verlag, Berlin 2017. 1 CD,
59 Minuten, 12,99 Euro.
Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel.
Gelesen von Johannes Steck. Audiobuch
Verlag, Freiburg 2017.
1 CD, 82 Minuten,
14,95 Euro.
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Tristan und Isolde, Romeo und Julia, Ivan und Claire: Sie hatte sich gerade von ihrem ersten Mann getrennt, als sie 1917 in Genf den Dichter Ivan Goll traf und eine Liebe begann, die lange hielt, weil sie alles in sich beschloss: Ausschließlichkeit und Affären, Innigkeit und Strindbergeleien zu dritt, Streit, Versöhnung. Nur herunterdimmen ließ sich diese Leidenschaft nie oder doch nicht lange. Er schrieb ihr: „Du bist die rotflammende Fahne des Tags, du bist die Erretterin der Menschheit, du, wir wollen Menschen werden. Süße, noch einmal: Kuss, Kuss und dann Sturz zu dir. Bald, bald, ich schwelle vor Lust.“ Der Tonfall variierte, die Passion blieb, über seinen Tod im Jahr 1950 hinaus. So viel Aufwallung ließe sich schwerlich lange ertragen ohne die Kunst der Sprecher: Spröde, selbstironisch, leicht klingt Ulrich Tukur, als betrachte er Gefühle mit der Verwunderung eines Zoologen. Sandra Quadflieg forciert die Empfindung, wenn sie ihn anfleht, die andere nicht zu sehen. Und dann umarmt sie ihn mit ihrer vollen Stimme.
Weniger Leidenschaft macht das Leben auch nicht erträglicher. Wenn nichts passiert, das Dasein nur abgehängte Decken und Prüfungen verspricht, dann macht man schon mal Scheiße und fällt am Heiligen Abend den großen Weihnachtsbaum auf dem Dorfplatz oder schluckt Schlaftabletten. Damit hat Frieder seine Freunde erschreckt und ihnen die Gelegenheit verschafft, ein Freundschaftsleben miteinander durchzuprobieren. Wie das geht, erzählt Bov Bjergs viel gelesener Roman „Auerhaus“. Das Hörspiel von Beate Andres spielt selbstverständlich mit „Our House“ von Madness, deutet die Dorfwelt akustisch an, weckt aber keine Achtzigerjahre-Nostalgie. In diesem Spiel geht es um den Augenblick, in dem das Leben kippt, in dem zum letzten Mal alles möglich, neu, unschuldig erscheint. Christoph Letkowski ist Höppner, der lispelnde Freund und sympathisierende Erzähler. Er beherrscht die Kunst, natürlich zu sein, also jung.
„Endlich strich man ein Schwefelholz an der Wand, und der aufzuckende Lichtschein enthüllte eine grauenvolle Verwüstung. ,Mord, Mord!‘ Lene lag in ihrem Blut, das Gesicht unkenntlich, mit zerschlagener Hirnschale.“ Wenn man das liest, eine Episode aus der Schreckenskaskade, mit der Gerhart Hauptmanns „Bahnwärter Thiel“ endet, fragt man sich verwundert, warum das „naturalistisch“ heißen soll. Schicksalsverhangen, theatralisch, literaturdurchtränkt, gewiss. Aber nach der Natur? Hört man, wie Johannes Steck Hauptmanns Studie liest, verstummt die Frage. Ja, so ist die menschliche Natur, ein Effekt der Leidenschaften.
JENS BISKY
Claire Goll, Ivan Goll: Nichts fehlt – außer Dir. Gelesen von Sandra Quadflieg und Ulrich Tukur. Random House Audio, München 2017. 2 CDs, 157 Minuten, 19,99 Euro.
Bov Bjerg: Auerhaus. Hörspiel mit Christoph Letkowski, Anton Weil u.a. Der Audio Verlag, Berlin 2017. 1 CD,
59 Minuten, 12,99 Euro.
Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel.
Gelesen von Johannes Steck. Audiobuch
Verlag, Freiburg 2017.
1 CD, 82 Minuten,
14,95 Euro.
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