Ein armer Geiger, den Grillparzer jahrelang in einem Gasthaus traf, gab die Anregung zu dieser Erzählung. Sie ist die Geschichte eines Mannes, der durch Unbeholfenheit und Missgeschick jede Beziehung zur Außenwelt verloren hat. Auch das Geigenspiel des Musikanten ist für die Zuhörer unverständlich, da es eigenen Gesetzen gehorcht: Ein Symbol der Kontaktlosigkeit. Der Spielmann. beendet schließlich sein einsames Leben, indem er für seine Mitmenschen den Opfertod stirbt. - In die Erzählung sind starke autobiografische Züge Grillparzers eingeflossen.Die Erzählung wird ergänzt durch eine ausführliche Arbeit über die Entstehungsgeschichte. 11 Seiten Anmerkungen tragen zum Verständnis der Erzählung bei.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.08.2004»DER ARME SPIELMANN«
Lieblingsbücher habe ich mehrere, aber nur dieses überwältigt mich auch nach vielen Jahren noch wie beim ersten Kennenlernen. Warum mich ausgerechnet Grillparzers Erzählung "Der arme Spielmann" so wehrlos macht, weiß ich nicht. Jedesmal, wenn ich sie wiederlese, lese ich eine andere Geschichte.
Zuerst war ich hingerissen vom grandiosen Anfang, der großen Volksbelustigung im Prater, die der Erzähler als "leidenschaftlicher Liebhaber der Menschen" neugierig durchstreift, bis er den selig lächelnden, kläglich seine Violine kratzenden Alten entdeckt und "mit anthropologischem Heißhunger" dessen Lebensspuren folgt. Der tiefe Fall von der Ebene allgemeiner Menschenbetrachtung in den Abgrund eines gescheiterten Lebens erlebte ich als Tragödie.
Dann kam meine "französische" Lektüre. Ich begriff Grillparzer als den Generationsgenossen Balzacs. Die herrliche Prater-Szene hat ihr Pendant, vielleicht sogar ihr Vorbild, im berühmten Paris-Porträt am Anfang vom "Mädchen mit den Goldaugen". Und der engste literarische Verwandte des Spielmanns ist sicher Balzacs gutmütiger Vetter Pons. Grillparzer ist anders als Balzac, aber hier ist er ihm ebenbürtig.
Beim nächsten Wiederlesen irritierte mich Grillparzers Sprache: ein Österreichisch voll von sperrigen Fremdwörtern und eleganter juristischer Präzision. Dieser Katalog des Menschenlebens weiß für jede Tatsache des Lebens den richtigen Begriff, nichts bringt den grausam gleichmütigen Erzähler aus dem Takt. Schreibt Kafka nicht wie ein prussifizierter Grillparzer?
Grillparzer hat die Seele seines Jahrhunderts porträtiert. Christentum und Menschenrecht, die Ideale der Revolution und der klassisch-romantischen Kunst: alles ist noch da, aber alles ist verkümmert und verrottet. Nur hier und da flackert ein Flämmchen Menschlichkeit und Hoffnung - Licht genug freilich, um die Ruinenschönheit einer groß geträumten Menschheitsepoche zum Leuchten zu bringen.
Was für eine Erzählung. Nie komme ich damit zu Ende.
WILFRIED WIEGAND
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Lieblingsbücher habe ich mehrere, aber nur dieses überwältigt mich auch nach vielen Jahren noch wie beim ersten Kennenlernen. Warum mich ausgerechnet Grillparzers Erzählung "Der arme Spielmann" so wehrlos macht, weiß ich nicht. Jedesmal, wenn ich sie wiederlese, lese ich eine andere Geschichte.
Zuerst war ich hingerissen vom grandiosen Anfang, der großen Volksbelustigung im Prater, die der Erzähler als "leidenschaftlicher Liebhaber der Menschen" neugierig durchstreift, bis er den selig lächelnden, kläglich seine Violine kratzenden Alten entdeckt und "mit anthropologischem Heißhunger" dessen Lebensspuren folgt. Der tiefe Fall von der Ebene allgemeiner Menschenbetrachtung in den Abgrund eines gescheiterten Lebens erlebte ich als Tragödie.
Dann kam meine "französische" Lektüre. Ich begriff Grillparzer als den Generationsgenossen Balzacs. Die herrliche Prater-Szene hat ihr Pendant, vielleicht sogar ihr Vorbild, im berühmten Paris-Porträt am Anfang vom "Mädchen mit den Goldaugen". Und der engste literarische Verwandte des Spielmanns ist sicher Balzacs gutmütiger Vetter Pons. Grillparzer ist anders als Balzac, aber hier ist er ihm ebenbürtig.
Beim nächsten Wiederlesen irritierte mich Grillparzers Sprache: ein Österreichisch voll von sperrigen Fremdwörtern und eleganter juristischer Präzision. Dieser Katalog des Menschenlebens weiß für jede Tatsache des Lebens den richtigen Begriff, nichts bringt den grausam gleichmütigen Erzähler aus dem Takt. Schreibt Kafka nicht wie ein prussifizierter Grillparzer?
Grillparzer hat die Seele seines Jahrhunderts porträtiert. Christentum und Menschenrecht, die Ideale der Revolution und der klassisch-romantischen Kunst: alles ist noch da, aber alles ist verkümmert und verrottet. Nur hier und da flackert ein Flämmchen Menschlichkeit und Hoffnung - Licht genug freilich, um die Ruinenschönheit einer groß geträumten Menschheitsepoche zum Leuchten zu bringen.
Was für eine Erzählung. Nie komme ich damit zu Ende.
WILFRIED WIEGAND
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