Die acht Bücher über den Peloponnesischen Krieg gelten als das bedeutendste Geschichtswerk der antiken Literatur. Sein Einfluss, zunächst auf die römischen Historiker, dann auf die gesamte europäische Geschichtsschreibung, war enorm. Mit unbestechlichem Blick erkennt Thukydides die Stärken und Schwächen der Verantwortlichen für diesen ganz Griechenland erschütternden Krieg und die zweifelhaften Mechanismen der Politik.Diese vollständige Ausgabe ersetzt die bisherige Auswahlausgabe.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2003Der Peloponnesische Krieg
Im Jahr 432 vor Christus gab es das Wort "Globalisierung" noch nicht. Es gab noch nicht mal richtiges Hochlatein, und es gab auch kein römisches Imperium. Alles, was es - jedenfalls in unserem Teil der Welt - gab, war (außer den paar Holzhütten, die damals "Rom" hießen, und einem Dutzend Etruskerstädte) ein langsam verfallendes persisches Landreich und ein griechisches Seehandelsreich. Letzteres gehörte den Athenern, die sich aber nichts aus Monarchen und Despoten machten; deshalb hatten sie eine Bundesgenossenschaft gegründet, die nach dem Prinzip einer Raiffeisenbank funktionierte: Die Partner - so gut wie alle ägäischen Inseln, dazu Städte und Landschaften an den Küsten ringsum - zahlen ein, Athen hütet die Kasse. Das ging eine Weile gut, dann merkten die Genossen, daß sie meistens viel mehr einzahlten, als sie herausbekamen. Also bildete sich Gegendruck. Dessen Epizentrum war Sparta, wo die hellenische Tradition gehütet wurde und Männer mit Eisenmuskeln und kurzen Röcken Blutsuppe aßen und ihre Frauen schlugen. Also doch das alte Spiel: Regionalismus versus Globalisierung. Und das 432 vor Christus! In diesem Jahr also geraten sich zwei neutrale Mächte, Korinth und Kerkyra, in die Haare und rufen Athen respektive Sparta zu Hilfe. Und dann geht der Höllentanz los: Sommerfeldzüge, Winterfeldzüge, Seeschlachten, Landschlachten, Blockaden und Belagerungen, dazu alle Arten von Verrat, Verschwörung, Lynchjustiz, Massaker und obendrauf noch Pest und Hunger. Nach knapp dreißig Jahren, im Jahr 404, sind die Athener am Boden, die siegreichen Spartaner ausgeblutet, die griechische Klassik ist vorbei, und es beginnt die Zeit der Philosophen, der Sinndeuter des großen Unheils. Wir wüßten wenig von alledem, hätte nicht Thukydides, ein Offizier aus Athen, den seine Landsleute ins Exil geschickt hatten, diesen "Peloponnesischen Krieg" aufgeschrieben und damit die moderne Geschichtsschreibung begründet. Thukydides war ein Mann, der sich lieber auf Fakten als auf Sagen stützte, der mit Augenzeugen sprach und Dokumente abschrieb, und so liest sich auch sein Buch: nüchtern, knapp, mit einer kalten Sachlichkeit berichtend, unter der bisweilen dunkle Feuer aus Mitleid, Empörung und Trauer aufglühen. Unvergeßlich die Abschlachtung der Gefangenen von Plataiai, die nach dem Untergang ihrer Stadt um ihr Leben bitten; als Antwort wird jeder der Gefangenen gefragt, ob er Sparta und seinen Kriegsgenossen auf irgendeine Weise gedient habe, und "so oft einer mit Nein antwortete, ließen sie ihn abführen und hinrichten, und niemanden verschonten sie." Auch das Buch verschont niemanden; es ist die erste kritische Studie über den Wahnsinn des Menschen. Man muß es einfach lesen.
Andreas Kilb.
Thukydides: "Der Peloponnesische Krieg". Philipp Reclam Jun. 2000. 865 Seiten. 15,10 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Jahr 432 vor Christus gab es das Wort "Globalisierung" noch nicht. Es gab noch nicht mal richtiges Hochlatein, und es gab auch kein römisches Imperium. Alles, was es - jedenfalls in unserem Teil der Welt - gab, war (außer den paar Holzhütten, die damals "Rom" hießen, und einem Dutzend Etruskerstädte) ein langsam verfallendes persisches Landreich und ein griechisches Seehandelsreich. Letzteres gehörte den Athenern, die sich aber nichts aus Monarchen und Despoten machten; deshalb hatten sie eine Bundesgenossenschaft gegründet, die nach dem Prinzip einer Raiffeisenbank funktionierte: Die Partner - so gut wie alle ägäischen Inseln, dazu Städte und Landschaften an den Küsten ringsum - zahlen ein, Athen hütet die Kasse. Das ging eine Weile gut, dann merkten die Genossen, daß sie meistens viel mehr einzahlten, als sie herausbekamen. Also bildete sich Gegendruck. Dessen Epizentrum war Sparta, wo die hellenische Tradition gehütet wurde und Männer mit Eisenmuskeln und kurzen Röcken Blutsuppe aßen und ihre Frauen schlugen. Also doch das alte Spiel: Regionalismus versus Globalisierung. Und das 432 vor Christus! In diesem Jahr also geraten sich zwei neutrale Mächte, Korinth und Kerkyra, in die Haare und rufen Athen respektive Sparta zu Hilfe. Und dann geht der Höllentanz los: Sommerfeldzüge, Winterfeldzüge, Seeschlachten, Landschlachten, Blockaden und Belagerungen, dazu alle Arten von Verrat, Verschwörung, Lynchjustiz, Massaker und obendrauf noch Pest und Hunger. Nach knapp dreißig Jahren, im Jahr 404, sind die Athener am Boden, die siegreichen Spartaner ausgeblutet, die griechische Klassik ist vorbei, und es beginnt die Zeit der Philosophen, der Sinndeuter des großen Unheils. Wir wüßten wenig von alledem, hätte nicht Thukydides, ein Offizier aus Athen, den seine Landsleute ins Exil geschickt hatten, diesen "Peloponnesischen Krieg" aufgeschrieben und damit die moderne Geschichtsschreibung begründet. Thukydides war ein Mann, der sich lieber auf Fakten als auf Sagen stützte, der mit Augenzeugen sprach und Dokumente abschrieb, und so liest sich auch sein Buch: nüchtern, knapp, mit einer kalten Sachlichkeit berichtend, unter der bisweilen dunkle Feuer aus Mitleid, Empörung und Trauer aufglühen. Unvergeßlich die Abschlachtung der Gefangenen von Plataiai, die nach dem Untergang ihrer Stadt um ihr Leben bitten; als Antwort wird jeder der Gefangenen gefragt, ob er Sparta und seinen Kriegsgenossen auf irgendeine Weise gedient habe, und "so oft einer mit Nein antwortete, ließen sie ihn abführen und hinrichten, und niemanden verschonten sie." Auch das Buch verschont niemanden; es ist die erste kritische Studie über den Wahnsinn des Menschen. Man muß es einfach lesen.
Andreas Kilb.
Thukydides: "Der Peloponnesische Krieg". Philipp Reclam Jun. 2000. 865 Seiten. 15,10 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Alles Schwachsinn, sagt Jens Jessen, dass man kiloweise nur leichte Lektüre in den Urlaub mitnehmen sollte. Wann habe man schon mal den Kopf so frei, um sich auch vertrackteren Texte zuzuwenden, fragt er und empfiehlt eine kleine handliche Ausgabe von Thukydides' "Der Peleponnesische Krieg", der selbst in der Übersetzung zugegebenermaßen nicht einfach zu lesen sei. Niemand werde nach dieser Lektüre die Griechen, die sich mit ihrer Konkurrenzpolitik gegen Sparta in einen dreißigjährigen Bürgerkrieg verwickeln ließen, weiterhin für ein vorbildliches Volk halten, meint Jessen. Darüber hinaus gewähre der antike Text aber vor allem Einblick in die politische Dynamik der Macht, so der Rezensent, die Parallelen Athen - USA mit ihrem Kampf gegen den Terrorismus drängten sich geradezu auf. Defensive Expansion, Export der eigenen Staatsform, politische Erziehung, Freiheitsrhetorik, Hegemonialanspruch, Verschränkung von Innen- und Außenpolitik, historisch-moralische Erpressung der befreundeten Staaten, das Recht des Stärkeren als Naturgesetz, all das lasse sich in seiner eiskalten Logik schon bei Thukydides nachlesen, der klarsichtig die wahre Natur des Menschen und des Krieges erkannt habe. Man wundere sich nicht mehr, schließt der Artikel, warum sich die Amerikaner nicht in multilaterale Verträge einbinden lassen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Zu den unvergänglichen Vorurteilen zeitgenössischer Lebenspraxis gehört die Meinung, für den Urlaub seien nur leicht lesbare Schmöker geeignet. ... In Wahrheit ist nichts enttäuschender, als in den Ferien, wenn endlich der Kopf frei geworden ist, mit Büchern umzugehen, die leichter zu durchschauen sind als die örtlichen Bustarife. ... Wir empfehlen ein Reclam-Büchlein mit der deutschen Übersetzung von Helmuth Vretska, in Gewicht und Größe zwei Tafeln Schokolade entsprechend. ... Der Leser bekommt nicht nur Einblick in die Nervosität, Rachsucht, Heimtücke der alten Griechen, die nach der Lektüre niemand mehr für ein vorbildlich klassisches Volk halten wird. Er bekommt auch einen Einblick in die politische Dynamik der Macht, die sich unabhängig von Güte oder Schlechtigkeit der Beteiligten entfaltet. Jens Jessen in der "Zeit"
Helmuth Vretska, der 1966 eine Teilübersetzung im Reclam-Verlag vorlegte, wählte bei größtmöglicher Nähe zum Original einen leserfreundlichen Weg, sein früher und unerwarteter Tod verhinderte allerdings die Vollendung seines Werks. Daher übernahm es Werner Rinner im Auftrag des Reclam-Verlags, die Lücken zu schließen. Er bemühte sich mit Erfolg, die neu übersetzten Passagen (Teile des 2., 3., 4. und 5. Buches und das gesamte 8. Buch) mit der Vretska-Übersetzung in Einklang zu bringen. (...) Fazit: Die vorliegende Übersetzung ist sehr exakt, stilistisch ansprechend und trotzdem klar und zeitgemäß genug, um auch dem interessierten Laien einen Zugang zu Thukydides zu eröffnen. IANUS - Informationen zum Altsprachlichen Unterricht
Helmuth Vretska, der 1966 eine Teilübersetzung im Reclam-Verlag vorlegte, wählte bei größtmöglicher Nähe zum Original einen leserfreundlichen Weg, sein früher und unerwarteter Tod verhinderte allerdings die Vollendung seines Werks. Daher übernahm es Werner Rinner im Auftrag des Reclam-Verlags, die Lücken zu schließen. Er bemühte sich mit Erfolg, die neu übersetzten Passagen (Teile des 2., 3., 4. und 5. Buches und das gesamte 8. Buch) mit der Vretska-Übersetzung in Einklang zu bringen. (...) Fazit: Die vorliegende Übersetzung ist sehr exakt, stilistisch ansprechend und trotzdem klar und zeitgemäß genug, um auch dem interessierten Laien einen Zugang zu Thukydides zu eröffnen. IANUS - Informationen zum Altsprachlichen Unterricht
»Ein unerschöpfliches Buch: zum Fürchten, zum Staunen, zum Lernen.« DIE ZEIT, 05.08.2021
"Zu den unvergänglichen Vorurteilen zeitgenössischer Lebenspraxis gehört die Meinung, für den Urlaub seien nur leicht lesbare Schmöker geeignet. ... In Wahrheit ist nichts enttäuschender, als in den Ferien, wenn endlich der Kopf frei geworden ist, mit Büchern umzugehen, die leichter zu durchschauen sind als die örtlichen Bustarife. ... Wir empfehlen ein Reclam-Büchlein mit der deutschen Übersetzung von Helmuth Vretska, in Gewicht und Größe zwei Tafeln Schokolade entsprechend. ... Der Leser bekommt nicht nur Einblick in die Nervosität, Rachsucht, Heimtücke der alten Griechen, die nach der Lektüre niemand mehr für ein vorbildlich klassisches Volk halten wird. Er bekommt auch einen Einblick in die politische Dynamik der Macht, die sich unabhängig von Güte oder Schlechtigkeit der Beteiligten entfaltet." -- Jens Jessen in der 'Zeit' "Helmuth Vretska, der 1966 eine Teilübersetzung im Reclam-Verlag vorlegte, wählte bei größtmöglicher Nähe zum Original einen leserfreundlichen Weg, sein früher und unerwarteter Tod verhinderte allerdings die Vollendung seines Werks. Daher übernahm es Werner Rinner im Auftrag des Reclam-Verlags, die Lücken zu schließen. Er bemühte sich mit Erfolg, die neu übersetzten Passagen (Teile des 2., 3., 4. und 5. Buches und das gesamte 8. Buch) mit der Vretska-Übersetzung in Einklang zu bringen. (...) Fazit: Die vorliegende Übersetzung ist sehr exakt, stilistisch ansprechend und trotzdem klar und zeitgemäß genug, um auch dem interessierten Laien einen Zugang zu Thukydides zu eröffnen." -- IANUS - Informationen zum Altsprachlichen Unterricht