ab Klasse 11
Einmal in seinem Leben die Grenze überwinden und nach Syrakus auf Sizilien reisen: Dieses Vorhaben des DDR-Bürgers Paul Gompitz aus Rostock wird in Delius' spannender Erzählung geschildert.
Gompitz will wieder zurückkehren, beharrt aber auf seinem Recht auf eine Bildungs- und Pilgerreise auf den Spuren J.G. Seumes, dessen "Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802" er seit Jugendzeiten im Kopf hat.
List und Hartnäckigkeit, mit denen Gompitz seine Reise vorbereitet, werden von Delius so erzählt, dass hinter der amüsanten Geschichte die Tragik von Eingesperrtsein und Überwachung deutlich wird.
Einmal in seinem Leben die Grenze überwinden und nach Syrakus auf Sizilien reisen: Dieses Vorhaben des DDR-Bürgers Paul Gompitz aus Rostock wird in Delius' spannender Erzählung geschildert.
Gompitz will wieder zurückkehren, beharrt aber auf seinem Recht auf eine Bildungs- und Pilgerreise auf den Spuren J.G. Seumes, dessen "Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802" er seit Jugendzeiten im Kopf hat.
List und Hartnäckigkeit, mit denen Gompitz seine Reise vorbereitet, werden von Delius so erzählt, dass hinter der amüsanten Geschichte die Tragik von Eingesperrtsein und Überwachung deutlich wird.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.1995Rigoletto für Segler
F. C. Delius reist nach Syrakus / Von Ernst Osterkamp
Aus bekannten Gründen hat die DDR den Typus des Lehnstuhlreisenden begünstigt, der, statt sich selbst auf den Weg zu machen, als Leser von Reiseberichten die Welterkundungen anderer nacherlebt. Die klassischen Italienreisen der Deutschen waren auf dem DDR-Buchmarkt stets in schön ausgestatteten, hervorragend kommentierten Ausgaben präsent.
Friedrich Christian Delius erzählt in seinem neuen Buch von einem, dem diese Reisen im Kopf zwanzig Jahre nach dem Mauerbau nicht mehr genügen: "In der Mitte seines Lebens, im Sommer 1981, beschließt der Kellner Paul Gompitz aus Rostock, nach Syrakus auf der Insel Sizilien zu reisen." Gompitz, ein "abgestürzter Intellektueller" und als Bloch-Leser geistigen Abenteuern zugetan, will sich nicht sein Leben lang damit begnügen, auf den Ostsee-Kaffeedampfern, auf denen er arbeitet, die Geschichten der Seeleute anzuhören, aus denen der "größte Stolz" hervorklingt, "der in seinem Land zu haben ist: Wir haben was erlebt, wir waren mal draußen!" Er will selbst etwas zu erzählen haben. Und da er als Schüler einmal Johann Gottfried Seumes "Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802" gelesen hat, beschließt er, es diesem gleichzutun: Nach Syrakus, wie auch immer! Freilich gibt es da Grenzen.
Nun ist Seumes Reisebericht in seiner Mischung aus aufklärerischer Nüchternheit und republikanisch-antiklerikaler Italienschelte gar nicht besonders dazu angetan, Sehnsucht nach dem klassischen Reiseziel der Deutschen zu wecken. Für Seume war aber sein touristischer Gewaltakt der "erste ganz freie Entschluß von einiger Bedeutung" in seinem Leben, und ebendieses Gewicht gewinnt auch für Gompitz sein Plan, die Rationalität seines Staates ein einziges Mal zu überwinden, um es fernerhin in ihm aushalten zu können. Denn weil Gompitz sein Land ungefähr so liebt wie seine Frau Helga, auf eine distanziert-gemütliche Weise nämlich, will er nach seinem Ausflug auf jeden Fall zurück ins gewohnte Nest.
Wie Gompitz sich als guter DDR-Bürger für die Vorbereitung und Durchführung seines "Grenzdurchbruchs" einen Fünfjahresplan macht, mit welchem real existierenden Aberwitz er bei dessen Erfüllung zu kämpfen hat und wie er ihn auf landesspezifische Weise um rund zwei Jahre überschreitet, bis ihm die nächtliche Reise mit dem Segelboot über die Ostsee nach Dänemark gelingt, die die erste, gänzlich unseumesche Etappe seine Reise bildet: das erzählt Delius bündig, witzig und auch spannend. Freunde des Segelsports kommen dabei unbedingt auf ihre Kosten. Die Geschichte dieses Paul Gompitz, der sieben Jahre lang die klammheimliche Vorbereitung eines kurzen Auslandsaufenthalts zu seinem zentralen Lebensinhalt macht, ist eine hübsche Parabel auf die Reisesehnsüchte der DDR-Bürger. Dieser reiselustige Kellner gehört durchaus in die Tradition jener literarischen Schelme, deren scheinbar widervernünftiges Verhalten in Wahrheit die Unvernunft der politischen Verhältnisse zu erkennen gibt.
Nur schade, daß Delius mit seinem Helden nach dessen "Grenzdurchbruch" schier gar nichts mehr anzufangen weiß und dessen Geschichte im letzten Drittel des Buchs weitgehend lustlos zu Ende bringt. In der Bundesrepublik, wo Gompitz in Ruhe seine Reisekasse aufbessern will, kommt es erst einmal zu den üblichen Desillusionierungserlebnissen ("Was wollen Sie eigentlich hier, gibt doch schon genug Arbeitslose!"), auch findet er im Unterschied zur DDR in seinem Beruf "keinen Kollegen mit etwas Bildung und Einfühlungsvermögen", und so wächst schließlich auch die Sehnsucht nach Frau Helga: "Er hat Freiheit gesucht und findet sich nun in größerer Einsamkeit gefangen als in der Zeit der Vorbereitungen." Und so weiter, Sozialkritik der papierensten Sorte.
In Italien aber verwandelt sich Paul gleich nach dem Grenzübertritt in einen schwer erträglichen Bildungsphilister, der seinem Weibe solches schreibt: "Liebe Helga! Seit zwei Tagen bin ich am Ziel meiner Reise, in Syrakus. Syrakus und die Insel Sizilien sind nicht nur das Armenhaus im wohlhabenden EG-Staat Italien, sie sind für mich auch über Jahrtausende überkommenes Hellas, Griechenland in seiner kulturellen Blüte. Syrakus ist immerhin die Stadt des Archimedes, auf Sizilien blühte, ein Jahrhundert vor Christus [?], eine dorische Hochkultur, die noch heute das Antlitz der Insel prägt [??]." Und so Seite um Seite, ohne daß sich der Erzähler auch nur mit einem Funken von Ironie darum bemühen würde, seinem Helden Reste seiner menschlichen Substanz zu bewahren. Nur gut, daß Paul aus Liebe zu Helga seine Italienreise überaus zügig absolviert.
Im Herzen des Bildungsphilisters aber wohnt der Kitsch. Als Paul allein vor dem Palazzo Ducale in Mantua steht, da wünscht er sich, daß nun die "Rigoletto"-Ouvertüre erklingen möge, und schon läßt der Wirt einer nahe gelegenen Bar die Musik ertönen, da kommen Paul naturgemäß die Tränen: "als sei dieser Augenblick seine höchste Belohnung, als fielen erst jetzt die tieferen der vielen Grenzen, gegen die er, verzweifelt oder frech, müde oder geduldig, angerannt ist".
Vielleicht hätte sich ja die Wende mit Hilfe der Überwältigungsästhetik der Oper zügiger herbeiführen lassen. Als Paul jedenfalls nach seiner Rückkehr in die DDR im Oktober 1988 dem ihn vernehmenden Stasi-Offizier sein Mantuaner Erlebnis inklusive Tränen schildert, da sieht er "auf einmal die Augen des Vernehmers feucht werden, was den Erzähler wiederum zu einer zerquetschten Träne rührt". Ja, so war das ein Jahr vor der Wende; wir sind eben alle nur Menschen, die reisen wollen. Da lacht doch der Tschekist! Dem Leser aber, der die kritische Urteilsfähigkeit von F. C. Delius sonst zu schätzen weiß, wird ganz peinlich zumute.
Friedrich Christian Delius: "Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus". Erzählung. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1995. 157 S., geb., 28,- DM.
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F. C. Delius reist nach Syrakus / Von Ernst Osterkamp
Aus bekannten Gründen hat die DDR den Typus des Lehnstuhlreisenden begünstigt, der, statt sich selbst auf den Weg zu machen, als Leser von Reiseberichten die Welterkundungen anderer nacherlebt. Die klassischen Italienreisen der Deutschen waren auf dem DDR-Buchmarkt stets in schön ausgestatteten, hervorragend kommentierten Ausgaben präsent.
Friedrich Christian Delius erzählt in seinem neuen Buch von einem, dem diese Reisen im Kopf zwanzig Jahre nach dem Mauerbau nicht mehr genügen: "In der Mitte seines Lebens, im Sommer 1981, beschließt der Kellner Paul Gompitz aus Rostock, nach Syrakus auf der Insel Sizilien zu reisen." Gompitz, ein "abgestürzter Intellektueller" und als Bloch-Leser geistigen Abenteuern zugetan, will sich nicht sein Leben lang damit begnügen, auf den Ostsee-Kaffeedampfern, auf denen er arbeitet, die Geschichten der Seeleute anzuhören, aus denen der "größte Stolz" hervorklingt, "der in seinem Land zu haben ist: Wir haben was erlebt, wir waren mal draußen!" Er will selbst etwas zu erzählen haben. Und da er als Schüler einmal Johann Gottfried Seumes "Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802" gelesen hat, beschließt er, es diesem gleichzutun: Nach Syrakus, wie auch immer! Freilich gibt es da Grenzen.
Nun ist Seumes Reisebericht in seiner Mischung aus aufklärerischer Nüchternheit und republikanisch-antiklerikaler Italienschelte gar nicht besonders dazu angetan, Sehnsucht nach dem klassischen Reiseziel der Deutschen zu wecken. Für Seume war aber sein touristischer Gewaltakt der "erste ganz freie Entschluß von einiger Bedeutung" in seinem Leben, und ebendieses Gewicht gewinnt auch für Gompitz sein Plan, die Rationalität seines Staates ein einziges Mal zu überwinden, um es fernerhin in ihm aushalten zu können. Denn weil Gompitz sein Land ungefähr so liebt wie seine Frau Helga, auf eine distanziert-gemütliche Weise nämlich, will er nach seinem Ausflug auf jeden Fall zurück ins gewohnte Nest.
Wie Gompitz sich als guter DDR-Bürger für die Vorbereitung und Durchführung seines "Grenzdurchbruchs" einen Fünfjahresplan macht, mit welchem real existierenden Aberwitz er bei dessen Erfüllung zu kämpfen hat und wie er ihn auf landesspezifische Weise um rund zwei Jahre überschreitet, bis ihm die nächtliche Reise mit dem Segelboot über die Ostsee nach Dänemark gelingt, die die erste, gänzlich unseumesche Etappe seine Reise bildet: das erzählt Delius bündig, witzig und auch spannend. Freunde des Segelsports kommen dabei unbedingt auf ihre Kosten. Die Geschichte dieses Paul Gompitz, der sieben Jahre lang die klammheimliche Vorbereitung eines kurzen Auslandsaufenthalts zu seinem zentralen Lebensinhalt macht, ist eine hübsche Parabel auf die Reisesehnsüchte der DDR-Bürger. Dieser reiselustige Kellner gehört durchaus in die Tradition jener literarischen Schelme, deren scheinbar widervernünftiges Verhalten in Wahrheit die Unvernunft der politischen Verhältnisse zu erkennen gibt.
Nur schade, daß Delius mit seinem Helden nach dessen "Grenzdurchbruch" schier gar nichts mehr anzufangen weiß und dessen Geschichte im letzten Drittel des Buchs weitgehend lustlos zu Ende bringt. In der Bundesrepublik, wo Gompitz in Ruhe seine Reisekasse aufbessern will, kommt es erst einmal zu den üblichen Desillusionierungserlebnissen ("Was wollen Sie eigentlich hier, gibt doch schon genug Arbeitslose!"), auch findet er im Unterschied zur DDR in seinem Beruf "keinen Kollegen mit etwas Bildung und Einfühlungsvermögen", und so wächst schließlich auch die Sehnsucht nach Frau Helga: "Er hat Freiheit gesucht und findet sich nun in größerer Einsamkeit gefangen als in der Zeit der Vorbereitungen." Und so weiter, Sozialkritik der papierensten Sorte.
In Italien aber verwandelt sich Paul gleich nach dem Grenzübertritt in einen schwer erträglichen Bildungsphilister, der seinem Weibe solches schreibt: "Liebe Helga! Seit zwei Tagen bin ich am Ziel meiner Reise, in Syrakus. Syrakus und die Insel Sizilien sind nicht nur das Armenhaus im wohlhabenden EG-Staat Italien, sie sind für mich auch über Jahrtausende überkommenes Hellas, Griechenland in seiner kulturellen Blüte. Syrakus ist immerhin die Stadt des Archimedes, auf Sizilien blühte, ein Jahrhundert vor Christus [?], eine dorische Hochkultur, die noch heute das Antlitz der Insel prägt [??]." Und so Seite um Seite, ohne daß sich der Erzähler auch nur mit einem Funken von Ironie darum bemühen würde, seinem Helden Reste seiner menschlichen Substanz zu bewahren. Nur gut, daß Paul aus Liebe zu Helga seine Italienreise überaus zügig absolviert.
Im Herzen des Bildungsphilisters aber wohnt der Kitsch. Als Paul allein vor dem Palazzo Ducale in Mantua steht, da wünscht er sich, daß nun die "Rigoletto"-Ouvertüre erklingen möge, und schon läßt der Wirt einer nahe gelegenen Bar die Musik ertönen, da kommen Paul naturgemäß die Tränen: "als sei dieser Augenblick seine höchste Belohnung, als fielen erst jetzt die tieferen der vielen Grenzen, gegen die er, verzweifelt oder frech, müde oder geduldig, angerannt ist".
Vielleicht hätte sich ja die Wende mit Hilfe der Überwältigungsästhetik der Oper zügiger herbeiführen lassen. Als Paul jedenfalls nach seiner Rückkehr in die DDR im Oktober 1988 dem ihn vernehmenden Stasi-Offizier sein Mantuaner Erlebnis inklusive Tränen schildert, da sieht er "auf einmal die Augen des Vernehmers feucht werden, was den Erzähler wiederum zu einer zerquetschten Träne rührt". Ja, so war das ein Jahr vor der Wende; wir sind eben alle nur Menschen, die reisen wollen. Da lacht doch der Tschekist! Dem Leser aber, der die kritische Urteilsfähigkeit von F. C. Delius sonst zu schätzen weiß, wird ganz peinlich zumute.
Friedrich Christian Delius: "Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus". Erzählung. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1995. 157 S., geb., 28,- DM.
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