Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.09.2000Was Kaderschulweisheit sich träumen läßt
Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als Brandenburgs Schüler lernen dürfen: Lehrbücher für "Lebensgestaltung, Ethik, Religionskunde"
Das Unterrichtsfach "Lebensgestaltung, Ethik, Religionskunde", so heißt es im Abschlußbericht des Landes Brandenburg zum Modellversuch LER vom 1. Februar 1996, solle die "bisherige systematische Ausgrenzung einer pluralistischen Bearbeitung von Fragen der Lebensgestaltung, des ethischen Handelns und Urteilens" überwinden. In der Tat: Die marxistisch-leninistische Ethik hatte zwar einen beachtlichen Stellenwert im Wissenschaftsbetrieb der DDR, von einer pluralistischen Herangehensweise konnte jedoch nicht die Rede sein. Ethische Normen standen im Dienst des sozialistischen Fortschritts. Es kam darauf an, so erläuterte Martina Hallmeier 1982 in ihrem Werk "Das moralische Selbstbewußtsein der sozialistischen Persönlichkeit", den Bürgern "solche Normen und Werte nahezubringen, die real die gesellschaftlichen Anforderungen repräsentieren".
Für Eveline Luutz diente sozialistische Ethik 1989 in erster Linie zur Hebung der Arbeitsmoral. Beim "Übergang zum intensiven Wirtschaftstyp" sei es von "entscheidender Bedeutung", ob es gelinge, "das Denken und Handeln breiter Massen an gesamtgesellschaftlichen Zielstellungen zu orientieren und festzumachen". Einen der "entscheidenden Vorzüge des Sozialismus" bestimmte Wolfgang Weiler 1976 in seiner wissenschaftlichen Studie "Sozialistische Weltanschauung und Moral", nämlich die Möglichkeit, "unbegrenzte Initiative der werktätigen Menschen für ihr gemeinsames Wohl zu entwickeln". "Der Aufbau des Sozialismus/Kommunismus" sei "der einzige Weg", um "die freie Entwicklung der Individuen zu verwirklichen".
Obwohl Siegfried Kätzel sich vor einem Vierteljahrhundert in einer "kritischen Analyse zu Sigmund Freud" von der Notwendigkeit durchdrungen zeigte, "die Menschheit insgesamt im harten Klassenkampf zu befreien", hat er mit den genannten drei anderen Autoren friedlich das Schulbuch "Ethik" herausgegeben, das 1997 im Leipziger Verlag "Militzke" erschienen ist. Das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg hat es im Amtsblatt Nr. 2 vom 28. Januar 2000 für den LER-Unterricht der Sekundarstufe I zugelassen.
Hat man Böcke zu Gärtnern gemacht? Manches deutet jedenfalls darauf hin, daß die Autoren das bitterste "Verlusterlebnis", das sie sich vorstellen können, nämlich den "Verlust von Idealen" (Kapitel 2, "Sterben und Tod"), noch nicht am eigenen Leib erlebt haben. So erinnert schon der hölzerne, biedere und lehrmeisterliche Stil des Buches an den schnarrenden Ton marxistisch-leninistischer Didaktik. In manchen Sätzen schimmert deutschdemokratische Autoritätsfixierung hervor: "Obwohl sie biologischen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, ist die Sexualität wie kaum ein anderes menschliches Bedürfnis in der Art und Weise ihrer Befriedigung davon abhängig, was gesellschaftlich als erlaubt gilt. Wie sexuelle Bedürfnisse befriedigt werden können und dürfen, erlernen wir im Prozeß der Sozialisation."
Einige Passagen gemahnen an druckreifen Amtsjargon: "Und man sollte nicht vergessen, daß unabhängig von der eigenen Einstellung Sexualität biologisch immer mit Fortpflanzung verbunden ist. Unversehens schafft man den Tatbestand eines neuen Lebens mit allen damit verbundenen Konsequenzen." Das Buch enthält noch eine ganze Reihe von Reminiszenzen an den Marxismus-Leninismus. So wird die Frage: "Was ist Sozialisation?" wie folgt beantwortet: "Die Kindheit ist vor allem eine Zeit sozialen Lernens oder der Sozialisation. Unter Sozialisation versteht man den Prozeß, in welchem sich die Individuen die Normen der sozialen Gemeinschaft aneignen."
Erziehung wird nicht als ein wechselseitiges Geschehen aufgefaßt, in dem Jugendliche gesellschaftliche Normen erlernen, um sich in der Auseinandersetzung mit diesen zu Individuen auszubilden. Beim Begriff "Erziehung" tritt die funktionale Auffassung sozialistischer Didaktik hervor, die sich vehement "gegen den Individualismus als persönliche Haltung und angeblichen gesellschaftlichen Wert" gewendet hatte, wie Wolfgang Weiler 1976 ausführte.
Spuren sozialistischer Ideologie begegnet man auch im Kapitel "Die Familie". Dort heißt es, daß im Rahmen des Sozialstaats "umfangreiche Mittel zur Unterstützung der Familien aufgewendet" werden, diese aber "keineswegs den Bedarf" deckten. Augenscheinlich trauern die Autoren der sozialistischen Familienpolitik nach und vergessen darüber, daß sie den DDR-Familien einst viel größere Härten zugemutet haben. Denn, so Weiler damals, wenn der "Bestand des sozialistischen Vaterlands in Gefahr" sei, stelle sich "die Familie demgegenüber als untergeordneter Wert" dar. Wenn "die Planerfüllung zeitweilig besondere Anstrengungen" erforderlich mache, dann bewähre "sich die sozialistische Familie gerade darin, daß sie diese besonderen Anstrengungen eines ihrer Mitglieder als den allgemeinen wie eigenen Interessen dienlich unterstützt".
Auch im Kapitel "Arbeit, Beruf, Freizeit" erkennen wir wieder luzid formulierte marxistische Lehre. Der Begriff Arbeit wird definiert als "ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, in welchem durch zweckgerichtete und bewußte Tätigkeit Naturgegenstände angeeignet, verändert und menschlichen Zwecken dienstbar gemacht werden. Damit jedoch ist Arbeit eine Grundbedingung menschlichen Lebens." Ein Blick in "Das Kapital" zeigt die Urheberschaft von Karl Marx: "Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert" (Das Kapital, Band 1, III. Abschnitt, 5. Kapitel, 1867). Die Autoren erheben mit Marx die Arbeit zum "Gattungscharakter des Menschen", zum Paradigma menschlichen Tätigseins überhaupt.
Anstatt auf Definitionen aus dem neunzehnten Jahrhundert zu rekurrieren, wäre in der heutigen Informations- und Dienstleistungsgesellschaft eine Entmythologisierung des Arbeitsbegriffs sinnvoller gewesen. Auch die Auswahl der Fotografien verstärkt den Eindruck einer Klassenethik. Denn es sind ausschließlich Schlosser und Bauarbeiter abgebildet. Kein Büro, kein Computer, kein Bleistift trübt den Blick, der fast ein Blick auf das vorletzte Jahrhundert sein könnte. Die DDR, wollen die Autoren den Schülern weismachen, war längst nicht in allen Bereichen die schlechtere Republik.
Die Staatsfixierung offenbart sich auch beim Abschnitt über "Das Problem der Arbeitslosigkeit". Hier zeigt das Lehrbuch eine detaillierte Graphik zum "Beschäftigungsabbau in Ostdeutschland". Das Grundgesetz der Bundesrepublik wird mit dem "Verfassungsentwurf des Runden Tisches, Berlin 1990" verglichen, der einen Artikel enthielt, den das GG nicht vorweisen kann: "Jeder Bürger hat das Recht auf Arbeit oder Arbeitsförderung" (Artikel 27). Zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit seien "gesellschaftliche Lösungen" notwendig. Es müsse "unter Teilnahme aller gesellschaftlichen Gruppen überlegt werden", was möglich sei, um dem Arbeitsplatzmangel zu begegnen. Vorgeschlagen werden "Arbeitszeitreduzierung", das "Festlegen eines sozialen Sockelbetrags zur Absicherung aller in der Gemeinschaft lebenden Individuen" und die Prüfung "unserer eigenen Bedürfnisse".
Frappierend ist, woran man offenbar nicht im Traum denkt. Daß ein Modernisierungsprogramm wie die Verbesserung der Infrastruktur, Förderung des Wohnungsbaus, Forcierung kommunaler Investitionen und anderes mehr geeignet sein können, Arbeitsplätze zu schaffen, muß der interessierte Schüler in anderen Ethik-Büchern nachlesen, wie zum Beispiel in dem Buch von Helmut Wamsler ("Ethik 10. Handeln und Verantworten").
Obwohl das Buch von Kätzel im Untertitel den Begriff "Religionskunde" führt, erfährt der Leser nichts über das Christentum oder andere Weltreligionen. Manchmal fallen einzelne Stichworte zu diesem Thema. Doch was lernt ein Schüler der zehnten Klasse, wenn er liest: "Aus einem Saulus (staatlicher Christenverfolger) kann ein Paulus (Jünger Jesu) werden"? Welcher Sinnzusammenhang wird vermittelt, wenn im Kapitel "Sterben und Tod" Erwähnung findet, daß es "in den verschiedenen Religionen Vorstellungen vom Weiterleben nach dem Tode, von der Wiederkehr in anderer Gestalt, von der Seelenwanderung u. a." gebe? Zu den komplexesten Aussagen über das Christentum in diesem Buch gehört der Satz, daß dem Selbstmörder oft "eine christliche Beerdigung und die Beisetzung auf dem Friedhof verweigert" worden seien.
Die Vermittlung der christlich geprägten abendländischen Kultur hat sich das Schulbuch "Ethik" nicht zur Aufgabe gemacht. Zwar ist noch die Pietà Michelangelos abgebildet. Die Diskussionsfrage dazu lautet: "Betrachte die Pietà. Wodurch drückte der Künstler die Gefühle der Frau aus?" Wer diese Frau ist, wird weder vorausgesetzt noch erklärt. Daß das Thema Religion, obwohl im Rahmenplan ausdrücklich vorgesehen, im Lehrbuch ignoriert wird, verwundert nicht, wenn man die ideologische Vorbildung der Schulbuchautoren berücksichtigt. Wolfgang Weiler jedenfalls war 1976 überzeugt, daß die "Aufnahme religiöser Postulate" in das "moralische Wertbewußtsein" eine "Abweichung von einer an den tatsächlich sozial wirksamen und entscheidenden Werten orientierten Wertbestimmung" darstelle und dadurch die Gefahr einer "wesentlichen subjektivistischen Verzerrung" gegeben sei.
Sehen wir die Autoren bei den Themen "Arbeit" und "Religion" noch fest auf dem Boden der marxistisch-leninistischen Doktrin stehend, offenbaren sie in anderen Bereichen eine erstaunliche Wandlungsfähigkeit, die sich gelegentlich in eine geradezu halsbrecherische Wendehalsigkeit hineinsteigert. Vor 1989 wußte Siegfried Kätzel, daß die "Auffassungen Freuds" "in den USA unmittelbar zur Begründung imperialistischer Kriegspolitik" dienten und auch in der "BRD" die "gesellschaftstheoretischen und sozialpsychologischen Auffassungen des einflußreichen Psychoanalytikers Alexander Mitscherlich eine ähnliche Funktion" erfüllten. Jetzt treibt er eigenhändig imperialistische Kriegspolitik, nimmt ausführliche Passagen aus Mitscherlichs "Die Unfähigkeit zu trauern" in das Buch auf und läßt die Schüler über "Libido", "Wunschpsychose" und "Introjektion" diskutieren.
Auch beim Thema "Gewissen" zeigt sich die geistige Flexibilität der Autoren. In dem Abschnitt über "Gewissen und Verantwortung" wird den Schülern erklärt, daß die "Selbstbewertung an eigenen inneren Maßstäben" der Kern der Gewissensprozesse sei. "Eigene Maßstäbe" und Gewissensfreiheit kannte man vor der Wende noch nicht. Wolfgang Weiler betonte zum Beispiel, daß bei den Fragen des Gewissens "der Gegensatz zwischen der marxistischen und nichtmarxistischen Ethik voll" hervortrete und daß es "keinerlei Veranlassung" gebe, den "bourgeoisen Konzeptionen in irgendeiner Weise entgegenzukommen". "Rechtes sozialistisches Gewissen" sei nämlich eine "Triebkraft" "klassenmäßigen Denkens und Handelns".
Daß gerade bei der Kategorie "Gewissen" die schneidigsten ideologischen Kehrtwendungen vollzogen werden, liegt wahrscheinlich am Thema. Heute werden die Schüler dazu ermutigt, über "Freund-Feind-Muster" und eigene "Wertigkeiten" zu reflektieren. Empathie, Nachdenken über Feindbilder: das alles ist Neuland für die Schulbuchautoren. Vor einigen Jahren umschrieb Weiler Feindbilder noch markiger: "Man muß damit rechnen, daß sich auch im Kopf des ,modernen' imperialistischen Söldners, der in Fernost, Afrika oder Lateinamerika seinem ,Job' nachgeht, rücksichtslose Bereicherungs- und u. U. auch Abenteuerlust mit moralischen Motiven der imperialistischen Ideologie verbinden. Er fühlt sich als ,Kämpfer für die Freiheit gegen kommunistische Versklavung' u. ä. m. und empfindet subjektiv damit eine moralische Legitimation seiner Verbrechen. Der Kampf der sozialistischen und der um ihre nationale Unabhängigkeit kämpfenden Nationalstaaten dagegen ist völlig berechtigt getragen vom Bewußtsein tiefer Gerechtigkeit der Abwehr und Befreiung von imperialistischer Ausbeutung und Unterdrückung."
Wenn Meinungen aus guten Gründen revidiert werden, ist das grundsätzlich gutzuheißen. Wenn aber ehemalige Vertreter marxistisch-leninistischer Dialektik in einem für den LER-Unterricht zugelassenen Schulbuch darüber Klage führen, daß die "ehemalige Staatsführung der DDR" die Bürger "entmündigt" habe und bisherige "Lebensinhalte und -ziele", die "hochgradig mit den Zielen der Gemeinschaft verwoben waren", "hinfällig oder fragwürdig" geworden seien, dann ist das Maß des Zumutbaren überschritten. Die Autoren hatten in der DDR nach Kräften dafür gewirkt, "den Selbstwert der Persönlichkeit weitgehend mit dem gesellschaftlichen Wert" in Übereinstimmung zu bringen, wie es Martina Hallmeier formulierte. Sie hatten in der DDR ausgiebig Gelegenheit, ihr didaktisches Menschenexperiment zu vollziehen. Es ist nicht nötig, ihnen hierzu eine weitere Gelegenheit anzubieten.
Das Unterrichtswerk "Ethik" ist nicht das einzige Buch, das von Didaktik-Fachkräften der DDR verfaßt wurde und für den brandenburgischen LER-Unterricht zugelassen ist. Ebenfalls auf dem ministeriellen "Amtsblatt" steht das Lehrbuch "Miteinander leben" von Helge Eisenschmidt. In dem Buch, das für die siebte und achte Klasse konzipiert wurde, schreibt der Herausgeber die Abschnitte "Nachdenken übers Glücklichsein" und "Was ist der Sinn des Lebens?". In einem früheren Werk zur "Arbeit mit Unterrichtsmitteln im Staatsbürgerkundeunterricht" empfahl Eisenschmidt den Schülern noch weniger lyrisch einen Gang in das Museum für Deutsche Geschichte in Berlin, damit sie sich dort ein Bild machen konnten von der "verstärkten Aggressivität des Imperialismus gegen die DDR".
Bereits 1990 ist Karl-Heinz Gehlhaars Buch "Unsere Welt für alle" erschienen, das die Probleme des Umweltschutzes behandelt. Der Band, dessen Qualität die vorgenannten Bücher deutlich überragt, enthält eine kritische Bilanz der Umweltpolitik der DDR. Deshalb ist es um so erstaunlicher, daß Gehlhaar noch im September 1989 behauptet hat, nur in sozialistischen Staaten und auf der "Grundlage sozialistischer Eigentumsverhältnisse" gebe es "prinzipielle Möglichkeiten der Lösung von Umweltproblemen". War das nur der allfällige akademische Kotau, eine ideologische Verneigung vor der Partei, quasi in letzter Minute? Gewiß kein Lippenbekenntnis waren die Überlegungen von Ursula Wilke, die 1980 in ihrer Dissertation "Moralischer Fortschritt heute" mit viel Herzblut über die "Erfüllung und gezielte Überbietung der Planauflagen" und "äquivalente Kampfaufträge" sinniert hat. Ihr war daran gelegen, "das Kontinuum des Kämpferischen" zu tradieren, um "zum Kampf für immer gewaltigere, komplexere Ziele zu mobilisieren". Dennoch hat Wilke das Kampfeskontinuum verlassen, um 1999 im Verlag Volk und Wissen das Schulbuch "Ich bin gefragt. LER 7/8" herauszugeben, in dem keine Rede mehr ist von Planüberbietungen und dergleichen.
Aus der Perspektive des Unterrichtsmaterials eröffnen sich einige Fragen an die Praxis des LER-Unterrichts in Brandenburg. Warum wird ehemaligen Staatsbürgerkundelehrern das Weiterbildungsstudium für ein Fach verwehrt, für das ehemalige Marxisten Unterrichtsbücher verfassen dürfen? Gilt gleiches Recht nicht für alle? Warum ist Professor Dr. Hans Leutert, vormals Direktor des "Instituts für Didaktik" in Berlin, heute als Projektleiter für die "Evaluation und Revision der Rahmenpläne in der Sekundarstufe I" im Pädagogischen Landesinstitut Brandenburg tätig? Warum darf Leutert, der sich 1988 dafür eingesetzt hat, "noch bessere Bedingungen und Möglichkeiten für das gesamte Pädagogische im Unterrichtsprozeß, für das Lehren und Lernen im Unterricht zu schaffen, damit der Unterricht noch besser seiner Funktion gerecht werden kann, allseitige sozialistische Persönlichkeiten zu entwickeln", noch heute in verantwortlicher Stellung Schulpolitik mitgestalten, warum dürfen Staatsbürgerkundelehrer hingegen nicht im Fach LER unterrichten?
Heute kümmert sich Hans Leutert wieder um "dynamische Lernziele": "Ein neuer Rahmenplan müßte exemplarischer zeigen, was den Kern des Faches Politische Bildung ausmacht. Das ,eigentlich Politische' müßte herausgefiltert und verbindlich werden, also: Was heißt politisch denken und handeln? Welche politischen Fähigkeiten sollen Schülerinnen und Schüler erwerben? Ebenso herauszufiltern wären ,dynamische Lernziele' in dem Sinne: Was bringt Jugendliche dazu, politisch zu denken und zu handeln? Zu fragen wäre jedoch, was ,am Ende rauskommen soll'." So heißt es im "Ergebnisbericht" zur "Evaluation der Vorläufigen Rahmenpläne in der Sekundarstufe I" (Oktober 1999).
Warum erhalten LER-Unterrichtsbücher die Zulassung, die die Unterrichtsvorgabe des brandenburgischen Bildungsministeriums für die Sekundarstufe I, im besonderen das Lernfeld fünf, "Die Menschen und ihre Religionen, Weltanschauungen und Kulturen", nicht einmal in Ansätzen erfüllen? Wurde das Thema "Religion" in den genannten Büchern nicht ganz ignoriert, dann erschien es als Exotikum, wie etwa in "Miteinander leben". Dort steht der Abschnitt "Taufe und Firmung" zwischen Kapiteln, die Überschriften tragen wie "Warum essen Juden keinen Schinken?", "Mondtanz der Buschmänner Afrikas", "Jugendweihe", "Astrologie" und "Satanismus". Der Bildungsminister des Landes Brandenburg, Steffen Reiche, hat sich Anfang des Jahres in dieser Zeitung für den LER-Unterricht ausgesprochen. Reiche meinte, als "Bürger und Pfarrer im Wartestand" feststellen zu dürfen, daß "an den meisten Schulen selbst bei gutem Religionsunterricht in der Regel nicht mehr geboten" werde als in LER.
Als Bürger und Pfarrer darf er das wohl hoffen, als Bildungsminister jedoch sollte er sich Zweifel erlauben. "Das Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde", heißt es im brandenburgischen Schulgesetz, "soll Schülerinnen und Schüler in besonderem Maße darin unterstützen, ihr Leben selbstbestimmt und verantwortlich zu gestalten, und ihnen helfen, sich in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft zu orientieren." Steffen Reiche muß sich die Frage gefallen lassen, ob er glaubt, daß sich diese hehren Ziele mit Schulbüchern verwirklichen lassen, die von Autoren geschrieben wurden, die einmal wie Wolfgang Weiler stolz darauf waren, daß in der DDR die "Bereitschaft, den Sozialismus unter Einsatz des Lebens mit der Waffe zu schützen", "voll ausgebildet" gewesen sei.
STEPHAN KUSS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als Brandenburgs Schüler lernen dürfen: Lehrbücher für "Lebensgestaltung, Ethik, Religionskunde"
Das Unterrichtsfach "Lebensgestaltung, Ethik, Religionskunde", so heißt es im Abschlußbericht des Landes Brandenburg zum Modellversuch LER vom 1. Februar 1996, solle die "bisherige systematische Ausgrenzung einer pluralistischen Bearbeitung von Fragen der Lebensgestaltung, des ethischen Handelns und Urteilens" überwinden. In der Tat: Die marxistisch-leninistische Ethik hatte zwar einen beachtlichen Stellenwert im Wissenschaftsbetrieb der DDR, von einer pluralistischen Herangehensweise konnte jedoch nicht die Rede sein. Ethische Normen standen im Dienst des sozialistischen Fortschritts. Es kam darauf an, so erläuterte Martina Hallmeier 1982 in ihrem Werk "Das moralische Selbstbewußtsein der sozialistischen Persönlichkeit", den Bürgern "solche Normen und Werte nahezubringen, die real die gesellschaftlichen Anforderungen repräsentieren".
Für Eveline Luutz diente sozialistische Ethik 1989 in erster Linie zur Hebung der Arbeitsmoral. Beim "Übergang zum intensiven Wirtschaftstyp" sei es von "entscheidender Bedeutung", ob es gelinge, "das Denken und Handeln breiter Massen an gesamtgesellschaftlichen Zielstellungen zu orientieren und festzumachen". Einen der "entscheidenden Vorzüge des Sozialismus" bestimmte Wolfgang Weiler 1976 in seiner wissenschaftlichen Studie "Sozialistische Weltanschauung und Moral", nämlich die Möglichkeit, "unbegrenzte Initiative der werktätigen Menschen für ihr gemeinsames Wohl zu entwickeln". "Der Aufbau des Sozialismus/Kommunismus" sei "der einzige Weg", um "die freie Entwicklung der Individuen zu verwirklichen".
Obwohl Siegfried Kätzel sich vor einem Vierteljahrhundert in einer "kritischen Analyse zu Sigmund Freud" von der Notwendigkeit durchdrungen zeigte, "die Menschheit insgesamt im harten Klassenkampf zu befreien", hat er mit den genannten drei anderen Autoren friedlich das Schulbuch "Ethik" herausgegeben, das 1997 im Leipziger Verlag "Militzke" erschienen ist. Das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg hat es im Amtsblatt Nr. 2 vom 28. Januar 2000 für den LER-Unterricht der Sekundarstufe I zugelassen.
Hat man Böcke zu Gärtnern gemacht? Manches deutet jedenfalls darauf hin, daß die Autoren das bitterste "Verlusterlebnis", das sie sich vorstellen können, nämlich den "Verlust von Idealen" (Kapitel 2, "Sterben und Tod"), noch nicht am eigenen Leib erlebt haben. So erinnert schon der hölzerne, biedere und lehrmeisterliche Stil des Buches an den schnarrenden Ton marxistisch-leninistischer Didaktik. In manchen Sätzen schimmert deutschdemokratische Autoritätsfixierung hervor: "Obwohl sie biologischen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, ist die Sexualität wie kaum ein anderes menschliches Bedürfnis in der Art und Weise ihrer Befriedigung davon abhängig, was gesellschaftlich als erlaubt gilt. Wie sexuelle Bedürfnisse befriedigt werden können und dürfen, erlernen wir im Prozeß der Sozialisation."
Einige Passagen gemahnen an druckreifen Amtsjargon: "Und man sollte nicht vergessen, daß unabhängig von der eigenen Einstellung Sexualität biologisch immer mit Fortpflanzung verbunden ist. Unversehens schafft man den Tatbestand eines neuen Lebens mit allen damit verbundenen Konsequenzen." Das Buch enthält noch eine ganze Reihe von Reminiszenzen an den Marxismus-Leninismus. So wird die Frage: "Was ist Sozialisation?" wie folgt beantwortet: "Die Kindheit ist vor allem eine Zeit sozialen Lernens oder der Sozialisation. Unter Sozialisation versteht man den Prozeß, in welchem sich die Individuen die Normen der sozialen Gemeinschaft aneignen."
Erziehung wird nicht als ein wechselseitiges Geschehen aufgefaßt, in dem Jugendliche gesellschaftliche Normen erlernen, um sich in der Auseinandersetzung mit diesen zu Individuen auszubilden. Beim Begriff "Erziehung" tritt die funktionale Auffassung sozialistischer Didaktik hervor, die sich vehement "gegen den Individualismus als persönliche Haltung und angeblichen gesellschaftlichen Wert" gewendet hatte, wie Wolfgang Weiler 1976 ausführte.
Spuren sozialistischer Ideologie begegnet man auch im Kapitel "Die Familie". Dort heißt es, daß im Rahmen des Sozialstaats "umfangreiche Mittel zur Unterstützung der Familien aufgewendet" werden, diese aber "keineswegs den Bedarf" deckten. Augenscheinlich trauern die Autoren der sozialistischen Familienpolitik nach und vergessen darüber, daß sie den DDR-Familien einst viel größere Härten zugemutet haben. Denn, so Weiler damals, wenn der "Bestand des sozialistischen Vaterlands in Gefahr" sei, stelle sich "die Familie demgegenüber als untergeordneter Wert" dar. Wenn "die Planerfüllung zeitweilig besondere Anstrengungen" erforderlich mache, dann bewähre "sich die sozialistische Familie gerade darin, daß sie diese besonderen Anstrengungen eines ihrer Mitglieder als den allgemeinen wie eigenen Interessen dienlich unterstützt".
Auch im Kapitel "Arbeit, Beruf, Freizeit" erkennen wir wieder luzid formulierte marxistische Lehre. Der Begriff Arbeit wird definiert als "ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, in welchem durch zweckgerichtete und bewußte Tätigkeit Naturgegenstände angeeignet, verändert und menschlichen Zwecken dienstbar gemacht werden. Damit jedoch ist Arbeit eine Grundbedingung menschlichen Lebens." Ein Blick in "Das Kapital" zeigt die Urheberschaft von Karl Marx: "Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert" (Das Kapital, Band 1, III. Abschnitt, 5. Kapitel, 1867). Die Autoren erheben mit Marx die Arbeit zum "Gattungscharakter des Menschen", zum Paradigma menschlichen Tätigseins überhaupt.
Anstatt auf Definitionen aus dem neunzehnten Jahrhundert zu rekurrieren, wäre in der heutigen Informations- und Dienstleistungsgesellschaft eine Entmythologisierung des Arbeitsbegriffs sinnvoller gewesen. Auch die Auswahl der Fotografien verstärkt den Eindruck einer Klassenethik. Denn es sind ausschließlich Schlosser und Bauarbeiter abgebildet. Kein Büro, kein Computer, kein Bleistift trübt den Blick, der fast ein Blick auf das vorletzte Jahrhundert sein könnte. Die DDR, wollen die Autoren den Schülern weismachen, war längst nicht in allen Bereichen die schlechtere Republik.
Die Staatsfixierung offenbart sich auch beim Abschnitt über "Das Problem der Arbeitslosigkeit". Hier zeigt das Lehrbuch eine detaillierte Graphik zum "Beschäftigungsabbau in Ostdeutschland". Das Grundgesetz der Bundesrepublik wird mit dem "Verfassungsentwurf des Runden Tisches, Berlin 1990" verglichen, der einen Artikel enthielt, den das GG nicht vorweisen kann: "Jeder Bürger hat das Recht auf Arbeit oder Arbeitsförderung" (Artikel 27). Zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit seien "gesellschaftliche Lösungen" notwendig. Es müsse "unter Teilnahme aller gesellschaftlichen Gruppen überlegt werden", was möglich sei, um dem Arbeitsplatzmangel zu begegnen. Vorgeschlagen werden "Arbeitszeitreduzierung", das "Festlegen eines sozialen Sockelbetrags zur Absicherung aller in der Gemeinschaft lebenden Individuen" und die Prüfung "unserer eigenen Bedürfnisse".
Frappierend ist, woran man offenbar nicht im Traum denkt. Daß ein Modernisierungsprogramm wie die Verbesserung der Infrastruktur, Förderung des Wohnungsbaus, Forcierung kommunaler Investitionen und anderes mehr geeignet sein können, Arbeitsplätze zu schaffen, muß der interessierte Schüler in anderen Ethik-Büchern nachlesen, wie zum Beispiel in dem Buch von Helmut Wamsler ("Ethik 10. Handeln und Verantworten").
Obwohl das Buch von Kätzel im Untertitel den Begriff "Religionskunde" führt, erfährt der Leser nichts über das Christentum oder andere Weltreligionen. Manchmal fallen einzelne Stichworte zu diesem Thema. Doch was lernt ein Schüler der zehnten Klasse, wenn er liest: "Aus einem Saulus (staatlicher Christenverfolger) kann ein Paulus (Jünger Jesu) werden"? Welcher Sinnzusammenhang wird vermittelt, wenn im Kapitel "Sterben und Tod" Erwähnung findet, daß es "in den verschiedenen Religionen Vorstellungen vom Weiterleben nach dem Tode, von der Wiederkehr in anderer Gestalt, von der Seelenwanderung u. a." gebe? Zu den komplexesten Aussagen über das Christentum in diesem Buch gehört der Satz, daß dem Selbstmörder oft "eine christliche Beerdigung und die Beisetzung auf dem Friedhof verweigert" worden seien.
Die Vermittlung der christlich geprägten abendländischen Kultur hat sich das Schulbuch "Ethik" nicht zur Aufgabe gemacht. Zwar ist noch die Pietà Michelangelos abgebildet. Die Diskussionsfrage dazu lautet: "Betrachte die Pietà. Wodurch drückte der Künstler die Gefühle der Frau aus?" Wer diese Frau ist, wird weder vorausgesetzt noch erklärt. Daß das Thema Religion, obwohl im Rahmenplan ausdrücklich vorgesehen, im Lehrbuch ignoriert wird, verwundert nicht, wenn man die ideologische Vorbildung der Schulbuchautoren berücksichtigt. Wolfgang Weiler jedenfalls war 1976 überzeugt, daß die "Aufnahme religiöser Postulate" in das "moralische Wertbewußtsein" eine "Abweichung von einer an den tatsächlich sozial wirksamen und entscheidenden Werten orientierten Wertbestimmung" darstelle und dadurch die Gefahr einer "wesentlichen subjektivistischen Verzerrung" gegeben sei.
Sehen wir die Autoren bei den Themen "Arbeit" und "Religion" noch fest auf dem Boden der marxistisch-leninistischen Doktrin stehend, offenbaren sie in anderen Bereichen eine erstaunliche Wandlungsfähigkeit, die sich gelegentlich in eine geradezu halsbrecherische Wendehalsigkeit hineinsteigert. Vor 1989 wußte Siegfried Kätzel, daß die "Auffassungen Freuds" "in den USA unmittelbar zur Begründung imperialistischer Kriegspolitik" dienten und auch in der "BRD" die "gesellschaftstheoretischen und sozialpsychologischen Auffassungen des einflußreichen Psychoanalytikers Alexander Mitscherlich eine ähnliche Funktion" erfüllten. Jetzt treibt er eigenhändig imperialistische Kriegspolitik, nimmt ausführliche Passagen aus Mitscherlichs "Die Unfähigkeit zu trauern" in das Buch auf und läßt die Schüler über "Libido", "Wunschpsychose" und "Introjektion" diskutieren.
Auch beim Thema "Gewissen" zeigt sich die geistige Flexibilität der Autoren. In dem Abschnitt über "Gewissen und Verantwortung" wird den Schülern erklärt, daß die "Selbstbewertung an eigenen inneren Maßstäben" der Kern der Gewissensprozesse sei. "Eigene Maßstäbe" und Gewissensfreiheit kannte man vor der Wende noch nicht. Wolfgang Weiler betonte zum Beispiel, daß bei den Fragen des Gewissens "der Gegensatz zwischen der marxistischen und nichtmarxistischen Ethik voll" hervortrete und daß es "keinerlei Veranlassung" gebe, den "bourgeoisen Konzeptionen in irgendeiner Weise entgegenzukommen". "Rechtes sozialistisches Gewissen" sei nämlich eine "Triebkraft" "klassenmäßigen Denkens und Handelns".
Daß gerade bei der Kategorie "Gewissen" die schneidigsten ideologischen Kehrtwendungen vollzogen werden, liegt wahrscheinlich am Thema. Heute werden die Schüler dazu ermutigt, über "Freund-Feind-Muster" und eigene "Wertigkeiten" zu reflektieren. Empathie, Nachdenken über Feindbilder: das alles ist Neuland für die Schulbuchautoren. Vor einigen Jahren umschrieb Weiler Feindbilder noch markiger: "Man muß damit rechnen, daß sich auch im Kopf des ,modernen' imperialistischen Söldners, der in Fernost, Afrika oder Lateinamerika seinem ,Job' nachgeht, rücksichtslose Bereicherungs- und u. U. auch Abenteuerlust mit moralischen Motiven der imperialistischen Ideologie verbinden. Er fühlt sich als ,Kämpfer für die Freiheit gegen kommunistische Versklavung' u. ä. m. und empfindet subjektiv damit eine moralische Legitimation seiner Verbrechen. Der Kampf der sozialistischen und der um ihre nationale Unabhängigkeit kämpfenden Nationalstaaten dagegen ist völlig berechtigt getragen vom Bewußtsein tiefer Gerechtigkeit der Abwehr und Befreiung von imperialistischer Ausbeutung und Unterdrückung."
Wenn Meinungen aus guten Gründen revidiert werden, ist das grundsätzlich gutzuheißen. Wenn aber ehemalige Vertreter marxistisch-leninistischer Dialektik in einem für den LER-Unterricht zugelassenen Schulbuch darüber Klage führen, daß die "ehemalige Staatsführung der DDR" die Bürger "entmündigt" habe und bisherige "Lebensinhalte und -ziele", die "hochgradig mit den Zielen der Gemeinschaft verwoben waren", "hinfällig oder fragwürdig" geworden seien, dann ist das Maß des Zumutbaren überschritten. Die Autoren hatten in der DDR nach Kräften dafür gewirkt, "den Selbstwert der Persönlichkeit weitgehend mit dem gesellschaftlichen Wert" in Übereinstimmung zu bringen, wie es Martina Hallmeier formulierte. Sie hatten in der DDR ausgiebig Gelegenheit, ihr didaktisches Menschenexperiment zu vollziehen. Es ist nicht nötig, ihnen hierzu eine weitere Gelegenheit anzubieten.
Das Unterrichtswerk "Ethik" ist nicht das einzige Buch, das von Didaktik-Fachkräften der DDR verfaßt wurde und für den brandenburgischen LER-Unterricht zugelassen ist. Ebenfalls auf dem ministeriellen "Amtsblatt" steht das Lehrbuch "Miteinander leben" von Helge Eisenschmidt. In dem Buch, das für die siebte und achte Klasse konzipiert wurde, schreibt der Herausgeber die Abschnitte "Nachdenken übers Glücklichsein" und "Was ist der Sinn des Lebens?". In einem früheren Werk zur "Arbeit mit Unterrichtsmitteln im Staatsbürgerkundeunterricht" empfahl Eisenschmidt den Schülern noch weniger lyrisch einen Gang in das Museum für Deutsche Geschichte in Berlin, damit sie sich dort ein Bild machen konnten von der "verstärkten Aggressivität des Imperialismus gegen die DDR".
Bereits 1990 ist Karl-Heinz Gehlhaars Buch "Unsere Welt für alle" erschienen, das die Probleme des Umweltschutzes behandelt. Der Band, dessen Qualität die vorgenannten Bücher deutlich überragt, enthält eine kritische Bilanz der Umweltpolitik der DDR. Deshalb ist es um so erstaunlicher, daß Gehlhaar noch im September 1989 behauptet hat, nur in sozialistischen Staaten und auf der "Grundlage sozialistischer Eigentumsverhältnisse" gebe es "prinzipielle Möglichkeiten der Lösung von Umweltproblemen". War das nur der allfällige akademische Kotau, eine ideologische Verneigung vor der Partei, quasi in letzter Minute? Gewiß kein Lippenbekenntnis waren die Überlegungen von Ursula Wilke, die 1980 in ihrer Dissertation "Moralischer Fortschritt heute" mit viel Herzblut über die "Erfüllung und gezielte Überbietung der Planauflagen" und "äquivalente Kampfaufträge" sinniert hat. Ihr war daran gelegen, "das Kontinuum des Kämpferischen" zu tradieren, um "zum Kampf für immer gewaltigere, komplexere Ziele zu mobilisieren". Dennoch hat Wilke das Kampfeskontinuum verlassen, um 1999 im Verlag Volk und Wissen das Schulbuch "Ich bin gefragt. LER 7/8" herauszugeben, in dem keine Rede mehr ist von Planüberbietungen und dergleichen.
Aus der Perspektive des Unterrichtsmaterials eröffnen sich einige Fragen an die Praxis des LER-Unterrichts in Brandenburg. Warum wird ehemaligen Staatsbürgerkundelehrern das Weiterbildungsstudium für ein Fach verwehrt, für das ehemalige Marxisten Unterrichtsbücher verfassen dürfen? Gilt gleiches Recht nicht für alle? Warum ist Professor Dr. Hans Leutert, vormals Direktor des "Instituts für Didaktik" in Berlin, heute als Projektleiter für die "Evaluation und Revision der Rahmenpläne in der Sekundarstufe I" im Pädagogischen Landesinstitut Brandenburg tätig? Warum darf Leutert, der sich 1988 dafür eingesetzt hat, "noch bessere Bedingungen und Möglichkeiten für das gesamte Pädagogische im Unterrichtsprozeß, für das Lehren und Lernen im Unterricht zu schaffen, damit der Unterricht noch besser seiner Funktion gerecht werden kann, allseitige sozialistische Persönlichkeiten zu entwickeln", noch heute in verantwortlicher Stellung Schulpolitik mitgestalten, warum dürfen Staatsbürgerkundelehrer hingegen nicht im Fach LER unterrichten?
Heute kümmert sich Hans Leutert wieder um "dynamische Lernziele": "Ein neuer Rahmenplan müßte exemplarischer zeigen, was den Kern des Faches Politische Bildung ausmacht. Das ,eigentlich Politische' müßte herausgefiltert und verbindlich werden, also: Was heißt politisch denken und handeln? Welche politischen Fähigkeiten sollen Schülerinnen und Schüler erwerben? Ebenso herauszufiltern wären ,dynamische Lernziele' in dem Sinne: Was bringt Jugendliche dazu, politisch zu denken und zu handeln? Zu fragen wäre jedoch, was ,am Ende rauskommen soll'." So heißt es im "Ergebnisbericht" zur "Evaluation der Vorläufigen Rahmenpläne in der Sekundarstufe I" (Oktober 1999).
Warum erhalten LER-Unterrichtsbücher die Zulassung, die die Unterrichtsvorgabe des brandenburgischen Bildungsministeriums für die Sekundarstufe I, im besonderen das Lernfeld fünf, "Die Menschen und ihre Religionen, Weltanschauungen und Kulturen", nicht einmal in Ansätzen erfüllen? Wurde das Thema "Religion" in den genannten Büchern nicht ganz ignoriert, dann erschien es als Exotikum, wie etwa in "Miteinander leben". Dort steht der Abschnitt "Taufe und Firmung" zwischen Kapiteln, die Überschriften tragen wie "Warum essen Juden keinen Schinken?", "Mondtanz der Buschmänner Afrikas", "Jugendweihe", "Astrologie" und "Satanismus". Der Bildungsminister des Landes Brandenburg, Steffen Reiche, hat sich Anfang des Jahres in dieser Zeitung für den LER-Unterricht ausgesprochen. Reiche meinte, als "Bürger und Pfarrer im Wartestand" feststellen zu dürfen, daß "an den meisten Schulen selbst bei gutem Religionsunterricht in der Regel nicht mehr geboten" werde als in LER.
Als Bürger und Pfarrer darf er das wohl hoffen, als Bildungsminister jedoch sollte er sich Zweifel erlauben. "Das Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde", heißt es im brandenburgischen Schulgesetz, "soll Schülerinnen und Schüler in besonderem Maße darin unterstützen, ihr Leben selbstbestimmt und verantwortlich zu gestalten, und ihnen helfen, sich in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft zu orientieren." Steffen Reiche muß sich die Frage gefallen lassen, ob er glaubt, daß sich diese hehren Ziele mit Schulbüchern verwirklichen lassen, die von Autoren geschrieben wurden, die einmal wie Wolfgang Weiler stolz darauf waren, daß in der DDR die "Bereitschaft, den Sozialismus unter Einsatz des Lebens mit der Waffe zu schützen", "voll ausgebildet" gewesen sei.
STEPHAN KUSS
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