Dieses Mysterienspiel entstand in den Jahren 1903 bis 1911. Den "Jedermann"-Stoff, der das Thema von der Hinfälligkeit der irdischen Besitztümer und der Heilsnotwendigkeit der Buße mit der Parabel vom Freund in der Not verbindet, fand Hofmannsthal (1874-1929) in einer englischen Schauspielbearbeitung. Auch eine dramatische Gestaltung aus dem 12. Jahrhundert ist überliefert. Hofmannsthal benutzte die mittelalterlichen und barocken Vorstellungen vom Wandel der Menschen miteinander und vor Gottes Angesicht, um die Grundfrage nach dem Sinn des menschlichen Auftrages in der Welt zu stellen. Uraufgeführt 1911 in Berlin unter der Regie von Max Reinhardt wurde dieses Stück vor allem durch die Salzburger Festspiele, in deren Programm es einen festen Platz hat, berühmt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.12.2013Misch alles neu!
Kaminski liest, und Hofmannsthals „Jedermann“ wird pure Gegenwart
Der Tod? Hat gegeltes Haar, ein nahezu unbewegliches Gesicht. Das gelegentliche Zucken seines rechten Mundwinkels kommt dem Anflug eines überheblichen Lächelns gleich. Der dicke Vetter? Er riecht nicht gut, irgendwie käsig. Er klingt, als stünde sein Leib ihm im Wege, gleichwohl er doch sein Stolz ist. Der dünne Vetter? Hat etwas unglaublich Schlitzohriges, Flüchtiges.
Eine Stimme in fünfzehn Rollen? Der Schauspieler Stefan Kaminski kann das. Es ist seine große Kunst, Figuren mit der Stimme zu zeichnen. Er hat den „Ring des Nibelungen“ zum Ein-Mann-Theater gemacht, hat unzählige Hörbücher gesprochen. Er kann das so gut, mit der Stimme zeichnen, dass es sehr viel aufregender wird mit all den inneren Bildern, die beim Hörenden entstehen, aufregender, als ginge man zu den Schlossfestspielen von Sonstwo, oder in den Berlin Dom oder nach Salzburg, wo Hugo von Hofmannsthals Mysterienspiel „Jedermann“ alljährlich zur Aufführung kommt.
Die Handlung ist schnell erzählt. Es geht um die Wandlung des reichen Egomanen Jedermann zu einem demütigen Gottesfürchtigen – angesichts seines plötzlich angekündigten nahen Endes. Gott der Schöpfer trägt dem Tod auf, Jedermann aus seiner gottvergessenen Welt des Wohlstands zum Gericht zu rufen. Jedermann, mitten in festlichem Prassen, schachert mit dem Tod um ein Stündchen Aufschub, damit er einen Freund finde, der ihn zum Gericht begleite. Doch, siehe, niemand seiner Freunde, seiner Knechte und Verwandten, ja, nicht einmal sein Reichtum in Gestalt des Mammon, will ihn begleiten. Und zu schwach für den Weg zum Herrn sind Jedermanns Werke, eine weibliche Figur, wie auch Werkes Schwester, der Glaube. Aber immerhin, dank beider, mehr und mehr erstarkender Schwestern findet Jedermann auf den rechten Christenweg, zeigt Reue und tritt mit Glaube und Werke an den Grabesrand, geläutert, gerettet.
Ein Mensch in der Angst vor dem Tod. Oder ist es eher die Angst davor, Rechenschaft für sein Leben abzulegen? Hofmannsthal lässt in seinem mittelalterlichen Mysterienspiel nacheinander lauter allegorische Figuren auftreten, faltet die Handlung auf wie die Kärtchen eines Leporellos. Am Ende dieses Bilderbogens steht das Grab Jedermanns und über ihm der geöffnete Himmel. Stefan Kaminski nun gelingt es, die Kärtchen so zu mischen und zu verschränken, dass der Hörer spätestens nach fünfzehn Minuten die längst bekannte Handlung des Stücks vergisst und plötzlich mit allem rechnet.
Weil man im Augenblick ist, weil das Kopfkino einsetzt, weil man sich angesichts der Einsamkeit dieses Jedermann nicht die Frage nach dem Gottesgericht stellt, sondern, jenseits aller Religion, die Frage: Wie kann man lernen, gut und menschenwürdig zu sterben? Stefan Kaminski gelingt es, Hofmannsthals eigenwillige Kunstsprache in die Gegenwart zu ziehen. Der hatte sich mit dem „Jedermann-Stoff“ schon seit 1903 beschäftigt, nachdem ihm von einer Londoner Aufführung des „Everyman“, eines Mysterienspiels aus dem 16. Jahrhundert, erzählt worden war. „Es wird alles davon abhängen, ob er den Dürerstil trifft, ohne in einen Butzenscheibenton zu geraten“, notiert 1904 der Kritiker Hermann Bahr, ein Freund Hofmannsthals. Erst 1911 erschien das Stück bei S. Fischer. Max Reinhardt war es, der „Jedermann“ in Berlin am 1. Dezember 1911 uraufführte. Die Salzburger Festspiele wurden zum ersten Mal im Sommer 1920 (und seitdem fast immer) mit Hofmannsthals „Jedermann“ eröffnet.
Kurz vor dieser ersten Aufführung auf dem Domplatz schrieb jener Hermann Bahr in einem Brief: „Hier ist es jetzt scheußlich, man kann vor Bekannten nicht mehr ausgehen. Salzburg wird aufatmen, wenn ,Jedermann’ vorbei ist.“
Wenn Stefan Kaminski liest, soll es bitte überhaupt nicht vorbei sein.
RENATE MEINHOF
Wunderbar wandelbare Stimme:
Denn plötzlich rechnet man mit
allem, weil das Kopfkino einsetzt
Hugo von Hofmannsthal: Jedermann. Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes. Sprecher: Stefan Kaminski. Goyalit, Hamburg 2013.
1 CD, 89 Min.,
12, 99 Euro
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Kaminski liest, und Hofmannsthals „Jedermann“ wird pure Gegenwart
Der Tod? Hat gegeltes Haar, ein nahezu unbewegliches Gesicht. Das gelegentliche Zucken seines rechten Mundwinkels kommt dem Anflug eines überheblichen Lächelns gleich. Der dicke Vetter? Er riecht nicht gut, irgendwie käsig. Er klingt, als stünde sein Leib ihm im Wege, gleichwohl er doch sein Stolz ist. Der dünne Vetter? Hat etwas unglaublich Schlitzohriges, Flüchtiges.
Eine Stimme in fünfzehn Rollen? Der Schauspieler Stefan Kaminski kann das. Es ist seine große Kunst, Figuren mit der Stimme zu zeichnen. Er hat den „Ring des Nibelungen“ zum Ein-Mann-Theater gemacht, hat unzählige Hörbücher gesprochen. Er kann das so gut, mit der Stimme zeichnen, dass es sehr viel aufregender wird mit all den inneren Bildern, die beim Hörenden entstehen, aufregender, als ginge man zu den Schlossfestspielen von Sonstwo, oder in den Berlin Dom oder nach Salzburg, wo Hugo von Hofmannsthals Mysterienspiel „Jedermann“ alljährlich zur Aufführung kommt.
Die Handlung ist schnell erzählt. Es geht um die Wandlung des reichen Egomanen Jedermann zu einem demütigen Gottesfürchtigen – angesichts seines plötzlich angekündigten nahen Endes. Gott der Schöpfer trägt dem Tod auf, Jedermann aus seiner gottvergessenen Welt des Wohlstands zum Gericht zu rufen. Jedermann, mitten in festlichem Prassen, schachert mit dem Tod um ein Stündchen Aufschub, damit er einen Freund finde, der ihn zum Gericht begleite. Doch, siehe, niemand seiner Freunde, seiner Knechte und Verwandten, ja, nicht einmal sein Reichtum in Gestalt des Mammon, will ihn begleiten. Und zu schwach für den Weg zum Herrn sind Jedermanns Werke, eine weibliche Figur, wie auch Werkes Schwester, der Glaube. Aber immerhin, dank beider, mehr und mehr erstarkender Schwestern findet Jedermann auf den rechten Christenweg, zeigt Reue und tritt mit Glaube und Werke an den Grabesrand, geläutert, gerettet.
Ein Mensch in der Angst vor dem Tod. Oder ist es eher die Angst davor, Rechenschaft für sein Leben abzulegen? Hofmannsthal lässt in seinem mittelalterlichen Mysterienspiel nacheinander lauter allegorische Figuren auftreten, faltet die Handlung auf wie die Kärtchen eines Leporellos. Am Ende dieses Bilderbogens steht das Grab Jedermanns und über ihm der geöffnete Himmel. Stefan Kaminski nun gelingt es, die Kärtchen so zu mischen und zu verschränken, dass der Hörer spätestens nach fünfzehn Minuten die längst bekannte Handlung des Stücks vergisst und plötzlich mit allem rechnet.
Weil man im Augenblick ist, weil das Kopfkino einsetzt, weil man sich angesichts der Einsamkeit dieses Jedermann nicht die Frage nach dem Gottesgericht stellt, sondern, jenseits aller Religion, die Frage: Wie kann man lernen, gut und menschenwürdig zu sterben? Stefan Kaminski gelingt es, Hofmannsthals eigenwillige Kunstsprache in die Gegenwart zu ziehen. Der hatte sich mit dem „Jedermann-Stoff“ schon seit 1903 beschäftigt, nachdem ihm von einer Londoner Aufführung des „Everyman“, eines Mysterienspiels aus dem 16. Jahrhundert, erzählt worden war. „Es wird alles davon abhängen, ob er den Dürerstil trifft, ohne in einen Butzenscheibenton zu geraten“, notiert 1904 der Kritiker Hermann Bahr, ein Freund Hofmannsthals. Erst 1911 erschien das Stück bei S. Fischer. Max Reinhardt war es, der „Jedermann“ in Berlin am 1. Dezember 1911 uraufführte. Die Salzburger Festspiele wurden zum ersten Mal im Sommer 1920 (und seitdem fast immer) mit Hofmannsthals „Jedermann“ eröffnet.
Kurz vor dieser ersten Aufführung auf dem Domplatz schrieb jener Hermann Bahr in einem Brief: „Hier ist es jetzt scheußlich, man kann vor Bekannten nicht mehr ausgehen. Salzburg wird aufatmen, wenn ,Jedermann’ vorbei ist.“
Wenn Stefan Kaminski liest, soll es bitte überhaupt nicht vorbei sein.
RENATE MEINHOF
Wunderbar wandelbare Stimme:
Denn plötzlich rechnet man mit
allem, weil das Kopfkino einsetzt
Hugo von Hofmannsthal: Jedermann. Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes. Sprecher: Stefan Kaminski. Goyalit, Hamburg 2013.
1 CD, 89 Min.,
12, 99 Euro
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