Der Roman zum Brexit!
Jonathan Coe versammelt eine lebendige Besetzung an Charakteren, verbunden durch Freundschaft, Verwandtschaft und ihre persönlichen Geschichten, die in Zeiten immenser Veränderungen im Herzen von England leben. Alle Klassen, alle Generationen, alle Bildungsschichten kommen zu Wort und müssen sich als Individuen und als Gesellschaft auf dem Weg zum Brexit verhalten.
Jonathan Coe versammelt eine lebendige Besetzung an Charakteren, verbunden durch Freundschaft, Verwandtschaft und ihre persönlichen Geschichten, die in Zeiten immenser Veränderungen im Herzen von England leben. Alle Klassen, alle Generationen, alle Bildungsschichten kommen zu Wort und müssen sich als Individuen und als Gesellschaft auf dem Weg zum Brexit verhalten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.02.2020Adieu to old England
Wie konnte es nur so weit kommen? Jonathan Coe sucht in seinem satirischen Gesellschaftsroman nach den Ursachen des Brexits und stößt dabei auf einen Riss, der immer tiefer wird.
Echt ein Alptraum . . . Bei jeder Gelegenheit wollen diese Arschgeigen einem noch mehr Geld abknöpfen" - über Radarfallen. "Alles nur Betrüger und Lügner, quer durch die Bank. Falsche Spesenabrechnungen, Steuerhinterziehung, dazu ein halbes Dutzend anderer Pöstchen" - über Politiker. "Was ich nicht verstehe, ist, wo das hinführen soll. Wie wir so weitermachen können. Wir stellen nichts mehr her. Und wenn wir nichts mehr herstellen, haben wir nichts zu verkaufen, und wie . . . wie sollen wir dann überleben?" - über den industriellen Komplex. "Wir sind verweichlicht. Kein Wunder, dass der Rest der Welt über uns lacht" - über das Land, das einmal das Vereinigte Königreich war.
Es sind solche Sätze, die den Anfang vom Umbruch markieren, weitere kommen hinzu, über Überfremdung und unerwünschte Ausländer, political correctness, die versunkene Glorie der BBC. Viele von ihnen spricht der alte weiße Mann Colin, der einst für British Leyland miese Autos baute. Er hat gerade seine Frau verloren, nach fünfundfünfzig Ehejahren. Sein Sohn, der erfolglose fünfzigjährige Schriftsteller Benjamin Trotter, hat sich nach gescheiterter Ehe aus London an das Ufer des Severn in eine alte Mühle verzogen, wo er privatisiert und einen auf Bilbo Beutlin macht.
Die Beziehung zu seinem Bruder Paul ist nachhaltig gestört; seine ihm innig zugetane Schwester Lois hat den Falschen geheiratet, was sie am Ende des Romans auch einsieht. Sie leidet noch immer unter einem Trauma, weil sie in den siebziger Jahren Zeugin wurde, wie ihr damaliger Freund einem Bombenanschlag in Birmingham zum Opfer fiel. Ihre Tochter Sophie ist eine aufstrebende Kunsthistorikerin, welche die Nase von akademischen Selbstbespieglern voll hat und einen muskulösen Fahrlehrer heiratet, Ian, ganz nett, aber schrecklich langweilig. Ihre gern Enoch Powell zitierende Schwiegermutter Helena ist sich wiederum mit Colin einig, in einem Land zu leben, das sie beide nicht mehr wiedererkennen.
Dann gibt es da Doug, den langjährigen Freund Benjamins, einen salonlinken Londoner Politikjournalisten, der sich heimlich mit Nigel, einem Berater David Camerons, trifft, um Insider-Informationen abzugreifen. Dougs Frau ist schrecklich reich und oberflächlich, man logiert unter ihresgleichen im noblen Chelsea, und die gemeinsame Tochter Coriander ist ein verpfuschtes Biest, das an der Uni dafür sorgt, dass Sophie wegen vermeintlichen Rassismus in karrieregefährdende Turbulenzen gerät.
Das Londoner Personal des Romans rund um Sophie ist entsprechend multikulturell und gleichgeschlechtlich, die Arbeitsbedingungen des akademischen Proletariats sind prekär, Symposien oder Kreuzfahrten mit kunsthistorischer Begleitung dienen dem Autor dazu, möglichst viele unterschiedliche Figuren auffahren zu können. Das gelingt Coe nicht durchgehend überzeugend: Zwei rivalisierende Clowns, die in den Gartencentern der Midlands Kinder bespaßen, müssen als Vehikel für konsumkritische Exkurse herhalten.
Denn der Autor hat nichts weniger als ein Cinemascope-Panorama der Gesellschaft im Sinn, zwei Hochzeiten und noch mehr Todesfälle. Er führt durch Suburbia und Birminghams gar nicht mehr so idyllisches Hinterland, in Baumärkte und Malls. Denn so leben sie heute, jene, die sich den Brexit-Riss quer durch die Familien zugezogen haben und ihn nicht wieder loswerden. Er entzweit Paare, Kinder und Eltern, Enkel und Großeltern, Freunde und Kollegen - er vergiftet, was man früher die "Keimzelle der Gesellschaft" nannte.
Einen retardierenden Moment der Selbstvergewisserung gibt es aber doch, den Abend des 27. Juli 2012, an dem sich die Mehrheit der Engländer an den Fernsehschirmen zu einer Nation vereinte und die von Danny Boyle inszenierte, mit dem Titel "Die Inseln der Wunder" überschriebene Eröffnungszeremonie der Olympischen Sommerspiele in London sah. God Save the Queen, die mit Bond-Darsteller Daniel Craig an einem Fallschirm zu hängen schien. Wir sind immer noch wer.
Jonathan Coe, diese feinfühlige Chronist englischer Gegenwart, ist in Birmingham aufgewachsen, und das merkt man dem Buch unbedingt an. Der Achtundfünfzigjährige kennt die wütenden Brexit-Befürworter aus erster Hand. Nach eigenen Angaben hat er das Buch geschrieben, weil ihn Bekannte angingen, er sei doch auch Teil jener ominösen Elite, die das Königreich an den Abgrund geführt habe. Der Autor zeichnet nach, mit welchem Unverständnis die mittelenglischen Bexiteers nach London schauen, wo man, wie Colin an einer Stelle sagt, "kein Wort Englisch mehr hören kann". Coe versteht die Wut der vermeintlich Abgehängten in einem gespaltenen Land, aber er zieht nicht deren Konsequenzen.
Mit "Middle England" (im Original 2018) hat er seinen Romanen "Erste Riten" (deutsch 2002) und "Klassentreffen" (2006, beide bei Piper) einen dritten hinzugefügt. Das Buch verhandelt die Jahre 2010 bis 2018, es endet mit einer für den 29. März 2019 angekündigten Geburt. Dass dieser politische Austrittstermin platzen würde, konnte Coe nicht vorhersehen. Heute wissen wir, warum es länger gedauert hat. Am Wert des vorliegenden literarischen Textes ändert das nichts. Coe bemüht sich um Gleichbehandlung seiner Figuren, hegt keine denunziatorischen Absichten, nur am Türöffner des Brexits, David Cameron, lässt er kein gutes Haar.
Die Chronologie folgt der Zeitgeschichte. Akribisch nacherzählte tagespolitische Details illustrieren den zunächst schleichenden Verfallsprozess. So liest sich der Roman auch wie ein Rückblick auf die zehner Jahre. Im Kern geht es natürlich um Selbstvergewisserung und um die Frage, ob man nicht vielleicht immer schon bloß ein Volk von harmlosen Spinnern war. Angeknackst ist das Selbstwertgefühl vieler Figuren auch, weil sie die psychischen Folgen des zerbröselnden Imperiums nicht reflektieren. Aus den gefühlskalten Beherrschern eines weltumspannenden Empires wurde innerhalb weniger Jahrzehnte ein Haufen unkontrollierter Polithasardeure, die sich vor den Augen der Welt zerlegten. Wo sind die Pragmatiker von einst? Welches Klassensystem zeugte und gebar die Präponenten der politischen Klasse, die durch Lügen und eklatante Führungsschwäche jegliches Vertrauen verspielten?
Gleich zu Beginn des Buchs hört Benjamin Trotter Shirley Collins' wundersamen Folksong "Adieu to old England" aus dem Jahr 1974, den man als Lektüreergänzung unbedingt nachhören sollte: "Adieu to old England / And adieu to some hundred of pounds / If the world had been ended when I had been young / My sorrows I'd never have known." Schon in den siebziger Jahren also wurden Zweifel am britischen Exzeptionalismus angemeldet. Sebastian Coes ernüchternder Roman ist ein weiterer Sargnagel für diesen Mythos.
HANNES HINTERMEIER
Jonathan Coe: "Middle England". Roman.
Aus dem Englischen von Cathrine Hornung und Dieter Fuchs. Folio Verlag, Bozen 2020. 480 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie konnte es nur so weit kommen? Jonathan Coe sucht in seinem satirischen Gesellschaftsroman nach den Ursachen des Brexits und stößt dabei auf einen Riss, der immer tiefer wird.
Echt ein Alptraum . . . Bei jeder Gelegenheit wollen diese Arschgeigen einem noch mehr Geld abknöpfen" - über Radarfallen. "Alles nur Betrüger und Lügner, quer durch die Bank. Falsche Spesenabrechnungen, Steuerhinterziehung, dazu ein halbes Dutzend anderer Pöstchen" - über Politiker. "Was ich nicht verstehe, ist, wo das hinführen soll. Wie wir so weitermachen können. Wir stellen nichts mehr her. Und wenn wir nichts mehr herstellen, haben wir nichts zu verkaufen, und wie . . . wie sollen wir dann überleben?" - über den industriellen Komplex. "Wir sind verweichlicht. Kein Wunder, dass der Rest der Welt über uns lacht" - über das Land, das einmal das Vereinigte Königreich war.
Es sind solche Sätze, die den Anfang vom Umbruch markieren, weitere kommen hinzu, über Überfremdung und unerwünschte Ausländer, political correctness, die versunkene Glorie der BBC. Viele von ihnen spricht der alte weiße Mann Colin, der einst für British Leyland miese Autos baute. Er hat gerade seine Frau verloren, nach fünfundfünfzig Ehejahren. Sein Sohn, der erfolglose fünfzigjährige Schriftsteller Benjamin Trotter, hat sich nach gescheiterter Ehe aus London an das Ufer des Severn in eine alte Mühle verzogen, wo er privatisiert und einen auf Bilbo Beutlin macht.
Die Beziehung zu seinem Bruder Paul ist nachhaltig gestört; seine ihm innig zugetane Schwester Lois hat den Falschen geheiratet, was sie am Ende des Romans auch einsieht. Sie leidet noch immer unter einem Trauma, weil sie in den siebziger Jahren Zeugin wurde, wie ihr damaliger Freund einem Bombenanschlag in Birmingham zum Opfer fiel. Ihre Tochter Sophie ist eine aufstrebende Kunsthistorikerin, welche die Nase von akademischen Selbstbespieglern voll hat und einen muskulösen Fahrlehrer heiratet, Ian, ganz nett, aber schrecklich langweilig. Ihre gern Enoch Powell zitierende Schwiegermutter Helena ist sich wiederum mit Colin einig, in einem Land zu leben, das sie beide nicht mehr wiedererkennen.
Dann gibt es da Doug, den langjährigen Freund Benjamins, einen salonlinken Londoner Politikjournalisten, der sich heimlich mit Nigel, einem Berater David Camerons, trifft, um Insider-Informationen abzugreifen. Dougs Frau ist schrecklich reich und oberflächlich, man logiert unter ihresgleichen im noblen Chelsea, und die gemeinsame Tochter Coriander ist ein verpfuschtes Biest, das an der Uni dafür sorgt, dass Sophie wegen vermeintlichen Rassismus in karrieregefährdende Turbulenzen gerät.
Das Londoner Personal des Romans rund um Sophie ist entsprechend multikulturell und gleichgeschlechtlich, die Arbeitsbedingungen des akademischen Proletariats sind prekär, Symposien oder Kreuzfahrten mit kunsthistorischer Begleitung dienen dem Autor dazu, möglichst viele unterschiedliche Figuren auffahren zu können. Das gelingt Coe nicht durchgehend überzeugend: Zwei rivalisierende Clowns, die in den Gartencentern der Midlands Kinder bespaßen, müssen als Vehikel für konsumkritische Exkurse herhalten.
Denn der Autor hat nichts weniger als ein Cinemascope-Panorama der Gesellschaft im Sinn, zwei Hochzeiten und noch mehr Todesfälle. Er führt durch Suburbia und Birminghams gar nicht mehr so idyllisches Hinterland, in Baumärkte und Malls. Denn so leben sie heute, jene, die sich den Brexit-Riss quer durch die Familien zugezogen haben und ihn nicht wieder loswerden. Er entzweit Paare, Kinder und Eltern, Enkel und Großeltern, Freunde und Kollegen - er vergiftet, was man früher die "Keimzelle der Gesellschaft" nannte.
Einen retardierenden Moment der Selbstvergewisserung gibt es aber doch, den Abend des 27. Juli 2012, an dem sich die Mehrheit der Engländer an den Fernsehschirmen zu einer Nation vereinte und die von Danny Boyle inszenierte, mit dem Titel "Die Inseln der Wunder" überschriebene Eröffnungszeremonie der Olympischen Sommerspiele in London sah. God Save the Queen, die mit Bond-Darsteller Daniel Craig an einem Fallschirm zu hängen schien. Wir sind immer noch wer.
Jonathan Coe, diese feinfühlige Chronist englischer Gegenwart, ist in Birmingham aufgewachsen, und das merkt man dem Buch unbedingt an. Der Achtundfünfzigjährige kennt die wütenden Brexit-Befürworter aus erster Hand. Nach eigenen Angaben hat er das Buch geschrieben, weil ihn Bekannte angingen, er sei doch auch Teil jener ominösen Elite, die das Königreich an den Abgrund geführt habe. Der Autor zeichnet nach, mit welchem Unverständnis die mittelenglischen Bexiteers nach London schauen, wo man, wie Colin an einer Stelle sagt, "kein Wort Englisch mehr hören kann". Coe versteht die Wut der vermeintlich Abgehängten in einem gespaltenen Land, aber er zieht nicht deren Konsequenzen.
Mit "Middle England" (im Original 2018) hat er seinen Romanen "Erste Riten" (deutsch 2002) und "Klassentreffen" (2006, beide bei Piper) einen dritten hinzugefügt. Das Buch verhandelt die Jahre 2010 bis 2018, es endet mit einer für den 29. März 2019 angekündigten Geburt. Dass dieser politische Austrittstermin platzen würde, konnte Coe nicht vorhersehen. Heute wissen wir, warum es länger gedauert hat. Am Wert des vorliegenden literarischen Textes ändert das nichts. Coe bemüht sich um Gleichbehandlung seiner Figuren, hegt keine denunziatorischen Absichten, nur am Türöffner des Brexits, David Cameron, lässt er kein gutes Haar.
Die Chronologie folgt der Zeitgeschichte. Akribisch nacherzählte tagespolitische Details illustrieren den zunächst schleichenden Verfallsprozess. So liest sich der Roman auch wie ein Rückblick auf die zehner Jahre. Im Kern geht es natürlich um Selbstvergewisserung und um die Frage, ob man nicht vielleicht immer schon bloß ein Volk von harmlosen Spinnern war. Angeknackst ist das Selbstwertgefühl vieler Figuren auch, weil sie die psychischen Folgen des zerbröselnden Imperiums nicht reflektieren. Aus den gefühlskalten Beherrschern eines weltumspannenden Empires wurde innerhalb weniger Jahrzehnte ein Haufen unkontrollierter Polithasardeure, die sich vor den Augen der Welt zerlegten. Wo sind die Pragmatiker von einst? Welches Klassensystem zeugte und gebar die Präponenten der politischen Klasse, die durch Lügen und eklatante Führungsschwäche jegliches Vertrauen verspielten?
Gleich zu Beginn des Buchs hört Benjamin Trotter Shirley Collins' wundersamen Folksong "Adieu to old England" aus dem Jahr 1974, den man als Lektüreergänzung unbedingt nachhören sollte: "Adieu to old England / And adieu to some hundred of pounds / If the world had been ended when I had been young / My sorrows I'd never have known." Schon in den siebziger Jahren also wurden Zweifel am britischen Exzeptionalismus angemeldet. Sebastian Coes ernüchternder Roman ist ein weiterer Sargnagel für diesen Mythos.
HANNES HINTERMEIER
Jonathan Coe: "Middle England". Roman.
Aus dem Englischen von Cathrine Hornung und Dieter Fuchs. Folio Verlag, Bozen 2020. 480 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main