Diese Ausgabe der »Suhrkamp BasisBibliothek - Arbeitstexte für Schule und Studium« bietet nicht nur eine repräsentative Auswahl der Gedichte Paul Celans, sondern im Anhang auch die für das Verständnis des Werks höchst aufschlussreiche Büchner-Preisrede »Der Meridian«. Ergänzt wird die Edition von einem Kommentar, der alle für das Verständnis der Gedichte erforderlichen Informationen enthält: eine Zeittafel zu Leben und Werk Celans, die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der Gedichtbände, Deutungsansätze, Literaturhinweise sowie detaillierte Einzelkommentare zu den hier versammelten 50 Gedichten.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.10.2020Stimmen der Stille
Paul Celan liest
Es ist eine der berühmten, immer wieder neu erzählten Szenen der deutschen Literaturgeschichte: Im Mai 1952 liest Paul Celan auf der Tagung der Gruppe 47 in Niendorf an der Ostsee. Sein Vortrag befremdet, verstört das Selbstverständnis der Nachkriegsliteraten. An Gisele Lestrange schreibt Celan: „Um neun Uhr abends war die Reihe an mir. Ich habe laut gelesen, ich hatte den Eindruck über diese Köpfe hinaus – die selten wohlmeinend waren – einen Raum zu erreichen, in dem die ,Stimmen der Stille’ noch vernommen wurden“. Die Wirkung sei eindeutig gewesen. „Aber Hans Werner Richter, der Chef der Gruppe, Initiator eines Realismus, der nicht einmal erste Wahl ist, lehnte sich auf. Diese Stimme, im vorliegenden Falle die meine, die nicht wie die der anderen durch die Wörter hindurchglitt, sondern oft in einer Meditation bei ihnen verweilte, an der ich gar nicht anders konnte, als voll und von ganzem Herzen daran teilzunehmen – diese Stimme mußte angefochten werden, damit die Ohren der Zeitungsleser keine Erinnerung an sie behielten“. Dass er wie Goebbels, in dessen Tonfall lese, soll Hans Werner Richter gesagt haben. Vier Tage später las Paul Celan auf Einladung des NWDR in einem Hamburger Studio dreizehn Gedichte. Diese Aufnahme hat der Hörverlag zum 100. Geburtstag Celans zum ersten Mal vollständig veröffentlicht, neben vielen weiteren aus den Jahren 1952 bis 1968.
Celan war, wie der Medienforscher Hans-Ulrich Wagner im klug informierenden Begleittext schreibt, „ein gern gesehener Gast in den Rundfunkhäusern“, ein Dichter der das Medium bewusst nutzte. Manche seiner Gedichte kann man hier in verschiedenen Aufnahmen hören. Zwei Minuten und 29 Sekunden dauerte 1952 die Rezitation von „Wasser und Feuer“, im Jahr 1963 sprach Celan rascher, nicht so überdeutlich, minderte die Sprechgeschwindigkeit erst gegen Ende des Gedichts, die Aufnahme dauert nur eine Minute und 43 Sekunden. Man hat, obwohl die Wörter dieselben sind, den Eindruck, ein anderes Werk kennenzulernen. Der Dichter habe nicht Vorgegebenes zu Gehör gebracht, erinnerte der Germanist Gerhard Baumann, sondern sein Gedicht wieder geschaffen, „indem er las“.
JBY
Paul Celan: Todesfuge. Gedichte und Prosa 1952-1968. Der Hörverlag, München 2020. 2 CDs, ca. 120 Minuten, 18 Euro.
Er war ein gern gesehener Gast
in den Funkhäusern, wusste
das Medium zu nutzen
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Paul Celan liest
Es ist eine der berühmten, immer wieder neu erzählten Szenen der deutschen Literaturgeschichte: Im Mai 1952 liest Paul Celan auf der Tagung der Gruppe 47 in Niendorf an der Ostsee. Sein Vortrag befremdet, verstört das Selbstverständnis der Nachkriegsliteraten. An Gisele Lestrange schreibt Celan: „Um neun Uhr abends war die Reihe an mir. Ich habe laut gelesen, ich hatte den Eindruck über diese Köpfe hinaus – die selten wohlmeinend waren – einen Raum zu erreichen, in dem die ,Stimmen der Stille’ noch vernommen wurden“. Die Wirkung sei eindeutig gewesen. „Aber Hans Werner Richter, der Chef der Gruppe, Initiator eines Realismus, der nicht einmal erste Wahl ist, lehnte sich auf. Diese Stimme, im vorliegenden Falle die meine, die nicht wie die der anderen durch die Wörter hindurchglitt, sondern oft in einer Meditation bei ihnen verweilte, an der ich gar nicht anders konnte, als voll und von ganzem Herzen daran teilzunehmen – diese Stimme mußte angefochten werden, damit die Ohren der Zeitungsleser keine Erinnerung an sie behielten“. Dass er wie Goebbels, in dessen Tonfall lese, soll Hans Werner Richter gesagt haben. Vier Tage später las Paul Celan auf Einladung des NWDR in einem Hamburger Studio dreizehn Gedichte. Diese Aufnahme hat der Hörverlag zum 100. Geburtstag Celans zum ersten Mal vollständig veröffentlicht, neben vielen weiteren aus den Jahren 1952 bis 1968.
Celan war, wie der Medienforscher Hans-Ulrich Wagner im klug informierenden Begleittext schreibt, „ein gern gesehener Gast in den Rundfunkhäusern“, ein Dichter der das Medium bewusst nutzte. Manche seiner Gedichte kann man hier in verschiedenen Aufnahmen hören. Zwei Minuten und 29 Sekunden dauerte 1952 die Rezitation von „Wasser und Feuer“, im Jahr 1963 sprach Celan rascher, nicht so überdeutlich, minderte die Sprechgeschwindigkeit erst gegen Ende des Gedichts, die Aufnahme dauert nur eine Minute und 43 Sekunden. Man hat, obwohl die Wörter dieselben sind, den Eindruck, ein anderes Werk kennenzulernen. Der Dichter habe nicht Vorgegebenes zu Gehör gebracht, erinnerte der Germanist Gerhard Baumann, sondern sein Gedicht wieder geschaffen, „indem er las“.
JBY
Paul Celan: Todesfuge. Gedichte und Prosa 1952-1968. Der Hörverlag, München 2020. 2 CDs, ca. 120 Minuten, 18 Euro.
Er war ein gern gesehener Gast
in den Funkhäusern, wusste
das Medium zu nutzen
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.08.2018Von der Stehkneipe zur Schneekneipe
Die neue Gesamtausgabe der Gedichte Paul Celans verbindet den Epochenzusammenhang mit der Werkwelt
Bevor die Menschen vernünftig wurden, war das Gedicht noch Gebet oder Zauberspruch: Das ist einer von den frommen Sätzen, mit denen die Neuzeit so tut, als könnte sie das, was ihre Vorzeit glauben musste, jetzt sorglos aufgeklärt als Kunst genießen. Wohin aber, wenn nicht in eine okkulte Liturgie, gehören Wendungen wie "durchs Schüttelsieb schick ich den Traum" oder "der Tod ist eine Blume, die blüht ein einzig Mal"? Im Ritenraum der Logenbruderschaft mag man so etwas sagen, in der Kirche auch, im Tempel. Der Widerwille gegen jeden von funktionalen Mitteilungskonventionen allzu weit abgerückten ästhetischen Modernismus (nicht nur der politisch motivierte wie beim bekannten Nazi-Affekt gegen "entartete Kunst") macht es sich da bekanntlich einfach: Solche Sätze, findet er, gehören ins Irrenhaus. Gehören sie aber, wenn man so ungnädig und phantasielos wie dieser Widerwille denn doch nicht sein will, stattdessen in den Literaturkanon?
Der ausgezeichnete Kommentar einer neuen Gesamtausgabe der Gedichte Paul Celans macht über einige Texte mit Titeln wie "Redewände", "Verwaist" oder "Kleide die Worthöhlen aus" traurige Angaben: "Entstehung: Paris, Psychiatrische Universitätsklinik, 2. 5. 1967." An manchen Tagen waren es gleich mehrere Gedichte, die an diesem Ort entstanden.
Gemüts- und Geisteskrankheiten sind in der Neuzeit nicht untypisch für Lyrikschaffende: Ezra Pound, Antipode Celans in vielerlei Dimensionen, sperrte man ins Sanatorium für beschädigte Seelen, weil man den Amerikaner sonst als Hetzer gegen den Westen und die Juden hätte wegen Hoch- und Landesverrat hinrichten müssen. Friedrich Hölderlin wütete im Wahn gegen die "Kamalattasprache" der modernen Freiheit zum Klartext. Das Genie der Unica Zürn floh vor der Künstlerinnenrolle in die Klinik und vor der Klinik in die Künstlerinnenrolle, bis sie ihr Leben selbst beendete. Es gibt offenbar gar nicht so selten obsessiv sprachnahe Naturen, die nicht mitreden wollen oder können, wenn die Gegenwart sich selbstgefällig Vernunft bescheinigt.
Wer diese Menschen mit Foucault, Deleuze und Guattari aus der medizinischen Verwaltung befreien will, treibt, weil sie auch außerhalb der strengen Institutionen leiden, Wunschdenken auf einem Niveau, das tief unter ihrer Not liegt: Verständnis und Wohlwollen nützen ihnen gar nichts, denn ihre Arbeit und ihre Existenz handeln von etwas tatsächlich schwer Verständlichem, das subjektives Wohl und Wehe gleichermaßen übersteigt. Aufs Versprechen der Befreiung (etwa aus einer Anstalt) und die Frage, wo sie wohl lieber wären, müssten sie antworten wie Celan, wenn der im Gedicht "Ich höre, die Axt hat geblüht" über einen Ort, der ihn lockt oder ängstigt (ganz klar ist das nicht), nur sagt, er höre, jener Ort sei "unnennbar".
Der kluge Übersetzer Michael Hamburger gibt das mit "I hear, the place is not nameable" wieder, aber im Englischen ist das Adjektiv "unnameable" noch nicht zu einem ununterscheidbaren Ineinander zweier Qualitäten verblasst, nämlich a.) derjenigen von etwas, das keinen Namen hat, und b.) derjenigen, bei der man von etwas nicht reden kann, weder mit Namen noch mit Verben, Adjektiven, Ausrufen - "unnennbarer Schmerz" heißt ja auch nicht platt, dass es für eine Qual noch keinen medizinischen Fachausdruck gibt oder man ihn vergessen hat, sondern dass man einen Tatbestand aus Celans werkbeherrschenden Stoff- und Themenkomplex ansprechen will. Dessen immer mitgedichtete Leseanweisung heißt: "Ich sage dir, dass man das, was ich dir sage, nicht sagen kann." Das Magnetfeld dieser paradoxen Behauptung ist so stark, dass es in der neuen (und gerade in solchen Effekten unübertrefflich guten) Gesamtausgabe sogar das editorische Material affiziert: Nüchterne Rubrikennamen wie "nicht aufgenommene Gedichte" oder "verstreute Gedichte" wirken auf einmal wie originäre Formulierungen Celans, obwohl sie nur über den philologischen Textstatus Auskunft geben wollen.
Celan hat nicht nur Kunst, sondern auch Kitsch geschrieben. Nicht immer, nicht oft, aber wohl unvermeidlicherweise: Kitsch war hier Kollateralschaden der Unmöglichkeit, den angestrebten hohen Ton zu treffen, der nötig ist, um das magische Denken der Vorzeit ins poetische Spiel der Neuzeit zu retten, wenn das denn in einer Sprache geschehen soll, die man zuerst aus ihrem Alltag lösen muss, weil in diesem das, was die Neuzeit von der Vorzeit unterscheiden soll, die Vernunft, geschändet wurde wie in keiner anderen: In dieser Sprache hat man Verbrechen gerechtfertigt, befohlen, koordiniert, die jeden Gedanken von Vernunftgeschichte, von Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit, der Wahrheitsfindung und Kunsterziehung in ihren blutigen Dreck treten.
Kitsch entsteht in den Künsten immer dann, wenn ein Kunstwerk ein grundsätzliches ästhetisches Problem hat, es aber nicht lösen kann oder will. Kitsch ist die Sahne, die Leute ins Essen schütten, die nicht kochen können, aber glauben, sie könnten den Geschmack mit Hilfe der Sahne darüber betrügen. Celans Kitsch geschieht ihm, wo er Angst hat, die Worte könnten ihm anbrennen, wo sie den größten vorstellbaren Horror sagen sollen. Damit ist Celans Kitsch ein neuer, kein traditioneller. Denn im traditionellen Kitsch wird Stimmung gemacht oder eine pathetische Rechtgläubigkeit beschworen, es gibt in diesem Bannkreis künstlerischer Dummheit sentimentalen, patriotischen, religiösen Kitsch und so fort. Sie alle rühren einen Affekt in die Kunst, der von einer Armut, einem ungelösten Verhältnis zwischen Stoff, Thema und Form ablenken soll. Bei Celan ist der Kitsch aber weder Stimmung noch Gesinnung, sondern eine Qual, die sich der Lyriker nicht ersparen kann, weil er zu klug ist, zu glauben, was der Modernismus vor Hitler geglaubt hatte: dass das Hermetische und Esoterische an sich eine unfehlbare Versicherung der Kunst gegen Kitsch sei.
Nach dem Zusammenbruch aller abendländischen Zivilisationsvereinbarungen zeigte sich, dass der Bruch mit den Selbstverständlichkeiten der Kommunikation, den der Modernismus so schätzte, nicht nur die Selbstberuhigung der an Unrecht oder Blödheit angepassten Sentimentalen oder anders Gedankenarmen stören kann, sondern leider seinerseits zu solcher Selbstberuhigung taugt: "Man kann die Welt nicht verstehen" ist als mieser Stoßseufzer sozialer Indolenz, die sich nicht ändern will, ebenso geeignet wie als Anklage dieser Indolenz. (Wenn zwei Pfeifenraucher sich darüber streiten, wem von ihnen eine angeblich gestohlene Pfeife gehört, kann der Hermetikspießer mit seinem Missverständnis des berühmtesten Bildes von Magritte als lachender Dritter die Parteinahme verweigern: "Das ist vielleicht gar keine Pfeife, niemand kann sagen, was eine Pfeife ist, bla bla bla . . .")
Wer nicht versteht, dass Fremdartigkeit in der Kunst eine Kritik allzu schmal geratener Weltauffassung ist, also ihrerseits weder ausgestellter Erfahrungsinhalt noch ästhetisierte Weltanschauung, genießt an fremdartiger Kunst nur den ewigen Erfahrungszweifel der Denkfaulen. Dem jedoch hat gerade Celan ebenso sehr misstraut wie dem Gequatsche des Kunstnormalverbrauchers von Erbauung und Kontemplation - so sehr wie dem Bericht, dem Protokoll, der Nachricht und sogar dem Gedicht, wenn es nicht von ihm war: Seine Antwort an Brecht, der mahnte, man müsse auf das Totgeschwiegene achten, war eine geniale Erinnerung daran, dass ein banales Gespräch das Wichtige nicht nur aussparen, sondern auch totlabern kann ("weil es soviel Gesagtes / mit einschließt").
Ein paar Verse aus dem "Schneepart"-Werkkreis wenden solches Misstrauen gegen die gegebene Sprache in puren Sprachwitz: "Lila Luft mit gelben Fensterflecken, / der Jakobsstab überm Anhalter Trumm, / Kokelstunde, noch nichts / Interkurrierendes, / von der / Stehkneipe zur / Schneekneipe." Der Schlussreim ist lustig, aber kein Robert-Gernhardt-Scherz, weil's das Wort "Schneekneipe" nur in diesem Gedicht gibt, nicht im Normdeutsch. Viele tolle Stellen bei Celan sind so: für unfreiwillige Komik zu offensichtlich ausgefuchst, für direkte Komik zu gravitätisch, für Kitsch zu analytisch, vor allem aber nicht kokett genug für alle drei, denn Kitsch und Komik (auch unfreiwillige) wollen immer irgendwem gefallen. Celan dagegen wendet sich denen, die er anredet oder andichtet, gerade nicht zu, sondern dreht sich (manchmal linkisch, manchmal beleidigt, manchmal verzweifelt) umständlich weg. Die berühmten Briefe an Ingeborg Bachmann sollte einmal jemand unter diesem Gesichtspunkt mit denen an die Ehefrau Gisèle Celan-Lestrange vergleichen: Einerseits sind die Mühen sehr verschieden, andererseits ist jedes Werben um jemanden für Celan eine Mühe, der man das Mitleid nur versagen kann, wenn man noch nie um wen hat werben müssen.
Die Herausgeberin und Kommentatorin der neuen Gedichtgesamtausgabe, Barbara Wiedemann, war vor zehn Jahren auch an der Edition der Bachmannbriefe beteiligt, hat vor siebzehn Jahren die Gisèle-Lestrange-Celan-Briefe ediert und vor achtzehn Jahren die Dokumentation der schlimmsten Kränkung und größten Katastrophe im Werkleben des Dichters publiziert, "Paul Celan - Die Goll-Affäre." Wiedemanns tiefe Kenntnis der wechselseitigen Störungen und Nährkreisläufe zwischen Biographie und Schaffen bettet beide jetzt in einen Zusammenhang, der zugleich dichtungsgeschichtlich allgemeinbedeutend und einzigartig ist, in Schwerverständlichkeit, Kunst, Schönheit, Kitsch, Kraft und Hilflosigkeit einer Sammlung seltsamer Texte, die wissen, dass man weder mit dem Natürlichen (dem Regen, der Sonne oder der Weltraumkälte, denen wir egal sind) noch mit dem Übernatürlichen reden kann, sondern nur mit anderen Redenden.
Wenn diese anderen glauben, sie wären vernünftig, es aber gar nicht sind, wird das Gespräch so anstrengend wie das Gedicht. Aber was soll man sonst versuchen als Gespräche und Gedichte, wenn man die Menschen nun mal nicht aufgeben will?
DIETMAR DATH
Paul Celan: "Die Gedichte". Neue kommentierte Gesamtausgabe.
Hrsg. von Barbara Wiedemann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 1262 S., geb., 78,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die neue Gesamtausgabe der Gedichte Paul Celans verbindet den Epochenzusammenhang mit der Werkwelt
Bevor die Menschen vernünftig wurden, war das Gedicht noch Gebet oder Zauberspruch: Das ist einer von den frommen Sätzen, mit denen die Neuzeit so tut, als könnte sie das, was ihre Vorzeit glauben musste, jetzt sorglos aufgeklärt als Kunst genießen. Wohin aber, wenn nicht in eine okkulte Liturgie, gehören Wendungen wie "durchs Schüttelsieb schick ich den Traum" oder "der Tod ist eine Blume, die blüht ein einzig Mal"? Im Ritenraum der Logenbruderschaft mag man so etwas sagen, in der Kirche auch, im Tempel. Der Widerwille gegen jeden von funktionalen Mitteilungskonventionen allzu weit abgerückten ästhetischen Modernismus (nicht nur der politisch motivierte wie beim bekannten Nazi-Affekt gegen "entartete Kunst") macht es sich da bekanntlich einfach: Solche Sätze, findet er, gehören ins Irrenhaus. Gehören sie aber, wenn man so ungnädig und phantasielos wie dieser Widerwille denn doch nicht sein will, stattdessen in den Literaturkanon?
Der ausgezeichnete Kommentar einer neuen Gesamtausgabe der Gedichte Paul Celans macht über einige Texte mit Titeln wie "Redewände", "Verwaist" oder "Kleide die Worthöhlen aus" traurige Angaben: "Entstehung: Paris, Psychiatrische Universitätsklinik, 2. 5. 1967." An manchen Tagen waren es gleich mehrere Gedichte, die an diesem Ort entstanden.
Gemüts- und Geisteskrankheiten sind in der Neuzeit nicht untypisch für Lyrikschaffende: Ezra Pound, Antipode Celans in vielerlei Dimensionen, sperrte man ins Sanatorium für beschädigte Seelen, weil man den Amerikaner sonst als Hetzer gegen den Westen und die Juden hätte wegen Hoch- und Landesverrat hinrichten müssen. Friedrich Hölderlin wütete im Wahn gegen die "Kamalattasprache" der modernen Freiheit zum Klartext. Das Genie der Unica Zürn floh vor der Künstlerinnenrolle in die Klinik und vor der Klinik in die Künstlerinnenrolle, bis sie ihr Leben selbst beendete. Es gibt offenbar gar nicht so selten obsessiv sprachnahe Naturen, die nicht mitreden wollen oder können, wenn die Gegenwart sich selbstgefällig Vernunft bescheinigt.
Wer diese Menschen mit Foucault, Deleuze und Guattari aus der medizinischen Verwaltung befreien will, treibt, weil sie auch außerhalb der strengen Institutionen leiden, Wunschdenken auf einem Niveau, das tief unter ihrer Not liegt: Verständnis und Wohlwollen nützen ihnen gar nichts, denn ihre Arbeit und ihre Existenz handeln von etwas tatsächlich schwer Verständlichem, das subjektives Wohl und Wehe gleichermaßen übersteigt. Aufs Versprechen der Befreiung (etwa aus einer Anstalt) und die Frage, wo sie wohl lieber wären, müssten sie antworten wie Celan, wenn der im Gedicht "Ich höre, die Axt hat geblüht" über einen Ort, der ihn lockt oder ängstigt (ganz klar ist das nicht), nur sagt, er höre, jener Ort sei "unnennbar".
Der kluge Übersetzer Michael Hamburger gibt das mit "I hear, the place is not nameable" wieder, aber im Englischen ist das Adjektiv "unnameable" noch nicht zu einem ununterscheidbaren Ineinander zweier Qualitäten verblasst, nämlich a.) derjenigen von etwas, das keinen Namen hat, und b.) derjenigen, bei der man von etwas nicht reden kann, weder mit Namen noch mit Verben, Adjektiven, Ausrufen - "unnennbarer Schmerz" heißt ja auch nicht platt, dass es für eine Qual noch keinen medizinischen Fachausdruck gibt oder man ihn vergessen hat, sondern dass man einen Tatbestand aus Celans werkbeherrschenden Stoff- und Themenkomplex ansprechen will. Dessen immer mitgedichtete Leseanweisung heißt: "Ich sage dir, dass man das, was ich dir sage, nicht sagen kann." Das Magnetfeld dieser paradoxen Behauptung ist so stark, dass es in der neuen (und gerade in solchen Effekten unübertrefflich guten) Gesamtausgabe sogar das editorische Material affiziert: Nüchterne Rubrikennamen wie "nicht aufgenommene Gedichte" oder "verstreute Gedichte" wirken auf einmal wie originäre Formulierungen Celans, obwohl sie nur über den philologischen Textstatus Auskunft geben wollen.
Celan hat nicht nur Kunst, sondern auch Kitsch geschrieben. Nicht immer, nicht oft, aber wohl unvermeidlicherweise: Kitsch war hier Kollateralschaden der Unmöglichkeit, den angestrebten hohen Ton zu treffen, der nötig ist, um das magische Denken der Vorzeit ins poetische Spiel der Neuzeit zu retten, wenn das denn in einer Sprache geschehen soll, die man zuerst aus ihrem Alltag lösen muss, weil in diesem das, was die Neuzeit von der Vorzeit unterscheiden soll, die Vernunft, geschändet wurde wie in keiner anderen: In dieser Sprache hat man Verbrechen gerechtfertigt, befohlen, koordiniert, die jeden Gedanken von Vernunftgeschichte, von Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit, der Wahrheitsfindung und Kunsterziehung in ihren blutigen Dreck treten.
Kitsch entsteht in den Künsten immer dann, wenn ein Kunstwerk ein grundsätzliches ästhetisches Problem hat, es aber nicht lösen kann oder will. Kitsch ist die Sahne, die Leute ins Essen schütten, die nicht kochen können, aber glauben, sie könnten den Geschmack mit Hilfe der Sahne darüber betrügen. Celans Kitsch geschieht ihm, wo er Angst hat, die Worte könnten ihm anbrennen, wo sie den größten vorstellbaren Horror sagen sollen. Damit ist Celans Kitsch ein neuer, kein traditioneller. Denn im traditionellen Kitsch wird Stimmung gemacht oder eine pathetische Rechtgläubigkeit beschworen, es gibt in diesem Bannkreis künstlerischer Dummheit sentimentalen, patriotischen, religiösen Kitsch und so fort. Sie alle rühren einen Affekt in die Kunst, der von einer Armut, einem ungelösten Verhältnis zwischen Stoff, Thema und Form ablenken soll. Bei Celan ist der Kitsch aber weder Stimmung noch Gesinnung, sondern eine Qual, die sich der Lyriker nicht ersparen kann, weil er zu klug ist, zu glauben, was der Modernismus vor Hitler geglaubt hatte: dass das Hermetische und Esoterische an sich eine unfehlbare Versicherung der Kunst gegen Kitsch sei.
Nach dem Zusammenbruch aller abendländischen Zivilisationsvereinbarungen zeigte sich, dass der Bruch mit den Selbstverständlichkeiten der Kommunikation, den der Modernismus so schätzte, nicht nur die Selbstberuhigung der an Unrecht oder Blödheit angepassten Sentimentalen oder anders Gedankenarmen stören kann, sondern leider seinerseits zu solcher Selbstberuhigung taugt: "Man kann die Welt nicht verstehen" ist als mieser Stoßseufzer sozialer Indolenz, die sich nicht ändern will, ebenso geeignet wie als Anklage dieser Indolenz. (Wenn zwei Pfeifenraucher sich darüber streiten, wem von ihnen eine angeblich gestohlene Pfeife gehört, kann der Hermetikspießer mit seinem Missverständnis des berühmtesten Bildes von Magritte als lachender Dritter die Parteinahme verweigern: "Das ist vielleicht gar keine Pfeife, niemand kann sagen, was eine Pfeife ist, bla bla bla . . .")
Wer nicht versteht, dass Fremdartigkeit in der Kunst eine Kritik allzu schmal geratener Weltauffassung ist, also ihrerseits weder ausgestellter Erfahrungsinhalt noch ästhetisierte Weltanschauung, genießt an fremdartiger Kunst nur den ewigen Erfahrungszweifel der Denkfaulen. Dem jedoch hat gerade Celan ebenso sehr misstraut wie dem Gequatsche des Kunstnormalverbrauchers von Erbauung und Kontemplation - so sehr wie dem Bericht, dem Protokoll, der Nachricht und sogar dem Gedicht, wenn es nicht von ihm war: Seine Antwort an Brecht, der mahnte, man müsse auf das Totgeschwiegene achten, war eine geniale Erinnerung daran, dass ein banales Gespräch das Wichtige nicht nur aussparen, sondern auch totlabern kann ("weil es soviel Gesagtes / mit einschließt").
Ein paar Verse aus dem "Schneepart"-Werkkreis wenden solches Misstrauen gegen die gegebene Sprache in puren Sprachwitz: "Lila Luft mit gelben Fensterflecken, / der Jakobsstab überm Anhalter Trumm, / Kokelstunde, noch nichts / Interkurrierendes, / von der / Stehkneipe zur / Schneekneipe." Der Schlussreim ist lustig, aber kein Robert-Gernhardt-Scherz, weil's das Wort "Schneekneipe" nur in diesem Gedicht gibt, nicht im Normdeutsch. Viele tolle Stellen bei Celan sind so: für unfreiwillige Komik zu offensichtlich ausgefuchst, für direkte Komik zu gravitätisch, für Kitsch zu analytisch, vor allem aber nicht kokett genug für alle drei, denn Kitsch und Komik (auch unfreiwillige) wollen immer irgendwem gefallen. Celan dagegen wendet sich denen, die er anredet oder andichtet, gerade nicht zu, sondern dreht sich (manchmal linkisch, manchmal beleidigt, manchmal verzweifelt) umständlich weg. Die berühmten Briefe an Ingeborg Bachmann sollte einmal jemand unter diesem Gesichtspunkt mit denen an die Ehefrau Gisèle Celan-Lestrange vergleichen: Einerseits sind die Mühen sehr verschieden, andererseits ist jedes Werben um jemanden für Celan eine Mühe, der man das Mitleid nur versagen kann, wenn man noch nie um wen hat werben müssen.
Die Herausgeberin und Kommentatorin der neuen Gedichtgesamtausgabe, Barbara Wiedemann, war vor zehn Jahren auch an der Edition der Bachmannbriefe beteiligt, hat vor siebzehn Jahren die Gisèle-Lestrange-Celan-Briefe ediert und vor achtzehn Jahren die Dokumentation der schlimmsten Kränkung und größten Katastrophe im Werkleben des Dichters publiziert, "Paul Celan - Die Goll-Affäre." Wiedemanns tiefe Kenntnis der wechselseitigen Störungen und Nährkreisläufe zwischen Biographie und Schaffen bettet beide jetzt in einen Zusammenhang, der zugleich dichtungsgeschichtlich allgemeinbedeutend und einzigartig ist, in Schwerverständlichkeit, Kunst, Schönheit, Kitsch, Kraft und Hilflosigkeit einer Sammlung seltsamer Texte, die wissen, dass man weder mit dem Natürlichen (dem Regen, der Sonne oder der Weltraumkälte, denen wir egal sind) noch mit dem Übernatürlichen reden kann, sondern nur mit anderen Redenden.
Wenn diese anderen glauben, sie wären vernünftig, es aber gar nicht sind, wird das Gespräch so anstrengend wie das Gedicht. Aber was soll man sonst versuchen als Gespräche und Gedichte, wenn man die Menschen nun mal nicht aufgeben will?
DIETMAR DATH
Paul Celan: "Die Gedichte". Neue kommentierte Gesamtausgabe.
Hrsg. von Barbara Wiedemann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 1262 S., geb., 78,- [Euro].
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